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Viertes Kapitel

Ein Jahr! Wie lang ist ein Jahr, wenn man ein ganzes Leben hineinpressen will!

Der Trubel der Verlobungszeit war vorüber, die Wohnung beschafft, die Heirat vollzogen.

Nun saßen sie im frischgepolsterten Nest und hatten nur die eine Aufgabe: glücklich zu sein.

Glücklich sein – wenn das so einfach wäre!

Er aber langweilte sich.

Scheußlich war dieses Krähwinkel, blöd seine Straßen und lächerlich seine Bewohner!

Und diese Antrittsvisiten mit ihrem schmalzigen Lächeln und ihrem süßen Getue!

Kaum eine Wendung gab es, kaum ein Wort, das nicht weh getan hätte in seiner ahnungslosen Spießigkeit, in seiner engen Bürgermoral.

»Das Schönste auf der Welt ist doch der häusliche Herd! Man weiß doch, wo man hingehört, nicht wahr? Man hat doch sein liebes Weib! Und nun gar die drei lieben Kinderchen, mit denen man spielen kann, wenn einem die Zeit lang wird! Nein, welch ein Segen, nein, welch ein Glück!«

Und überall in den schielenden Blicken der heimliche Triumph: Dich hätten wir eingefangen! Du kommst uns nicht wieder los!

Zum Brechen das alles!

Arbeiten. Gut. Ruhe war da – nur allzu viel! Und das Atelier tadellos. Nordlicht – eine rasch ausgebrochene Glaswand – angefangene Bilder mit sonstigem Kram an Teppichen, Truhen und Hellebarden, aus Berlin eilends hierher verpflanzt. Man hätte sich allenfalls zu Hause fühlen können.

Wenn die Pinselei nur einen Zweck gehabt hätte! Man stellte sich vor die Staffelei, man mischte die Farben, man tupfte hier, man schabte dort, und schließlich warf man den Dreck in den Winkel.

Landschaftern also!

Brigitte hatte recht gehabt. Der Motive gab's eine Menge. Herbst glühte in schillernden Tinten, die Buche wurde zu Gold, und der Ahorn zog jeden Tag ein anderes Gewand an. Wildgänse zickzackten über dem Wasser, und Wolken und Wellenspiel vermählten sich zu immer neuem Niedagewesensein.

Aber schließlich war auch das Neueste nicht neu, wenn man es nicht mit neuen Augen sah. Und die Augen waren längst stumpf. Die Augen erblindeten. Man konnte den Tag vorausbestimmen, an dem sie überhaupt nichts mehr sahen.

Doch gemalt mußte werden. Mit leerer Leinwand durfte man nicht heimkommen. Was hätte Brigitte dazu gesagt? Also drauflos gekitscht! Was man so »Skizze« nennt. Klecks neben Klecks, breitpinslig und frech – ohne Übergänge, ohne Gewissen – bloß um rasch fertig zu werden.

Fühlte man sich hungrig werden und schaute der Mappe auf den Grund, dann fand man in Seidenpapier sorglich verpackt Leckerbissen in Menge: Gänseleberwurst und gefüllte Pastetchen und dergleichen mehr, während man sich doch sonst, wie einstmals in Rom, von einer trockenen Schnitte und einer Apfelsine trefflich genährt hatte. Man schämte sich zwar ob der Schlemmerei, die sich für einen wackeren Malersmann wenig geziemte, aber schließlich schmeckte es gut.

Und war die Schmieralie beendet, dann setzte man wohl den Pfeifenstummel in Brand und starrte träumend ins Leere.

›Wo bin ich? Wie bin ich hierher geraten? Wie komm' ich hier wieder 'raus?‹

Immer früher begann es zu dunkeln, immer frostiger setzte der Herbsthauch ein. Das Lodencape wurde enger zusammengerafft, und dann ging es nach Hause – durch die dürftig beleuchteten Straßen, an den schäbigen Ladenfenstern vorbei, während die Leute verwundert hinter ihm und seinem Kalabreser daherschauten, denn das Malergewerbe, und was dazu gehörte, war etwas noch nie Dagewesenes in der kunstfremden Stadt.

Heim ins Gefängnis!

Und dieses Gefängnis war voll von Liebe und Licht. Die Kronleuchter flammten. Der Tisch stand gedeckt mit schneeweißem Damast und blumigem Porzellan und kristallenen Gläsern.

So gut hatte er es noch niemals gehabt. Geld zwar besaß er genug seit drei Jahren, aber seine Wirtschafterin, die noch aus der Notzeit herstammte, wußte nichts Besseres und tischte ihm auf, was sie und wie sie's gewohnt war.

Zum ersten Male merkte er, daß er wohlhabend war und daß es von den kleinen Genüssen des Alltags nichts gab, das er sich hätte versagen müssen.

Mit stolzem Lächeln, noch heiß vom Herdfeuer, aber schon blinkend in bescheidenem Schmuck und weißwolkigem Spitzenjabot, trat ihm die junge Hausfrau entgegen.

Ja wahrlich, sie war eine Köchin von Gottes Gnaden. Das wußte sie aus ihrer ersten Ehe, ja schon aus dem Elternhause her, und durfte mit frohem Selbstbewußtsein seinen Beifall erwarten.

Die drei Pilze hatten natürlich schon mittags gegessen und bekamen, bevor sie zu Bette gebracht wurden, nur einen Hampelpampel mit der üblichen Abendmilch.

Aber strahlend und ausgeputzt erschienen auch sie, kletterten an seinen Beinen entlang und begehrten »in den Himmel zu fliegen«. So nannten sie den Schwebeprozeß, wenn er sie aufhob, hoch in die Luft warf und mit den Händen rasch wieder auffing. Das war dann ein Jubel, den nur die Eifersucht etwas dämpfte.

Und ehe sie weggeschickt wurden, erklärten sie noch in herzzerreißenden Tönen, daß sie nicht einschlafen würden, wenn er nicht vorher ihre Bettchen besucht und, wie sonst Mammi, mit ihnen gebetet habe. Denn sie waren der Überzeugung, daß, da sie nun einen Papa hatten, dies Geschäft schlechterdings von ihm besorgt werden müsse.

Aber ehe man zu Tische ging, harrte noch ein anderes seiner Erledigung, wichtiger als alles zusammen. Darauf lauerte Brigitte schon mit zitternder Herzgier.

Das war die Besichtigung des heute Geschaffenen.

Und wenn er die Leinwand aufgestellt hatte, ein wenig sich schämend und mißmutiger Vorbehalte voll, dann sah sie oft fragend zu ihm empor: ›Wie ist dies gemeint? Und wie das?‹ Und immer traf sie Stellen, die in Wahrheit seiner nicht würdig waren.

Aber trotzdem lag bewundernde Freude in allem, was sie blickte und sprach. Und ein Verstehen und Verstehen wollen, das immer neue Wogen der Scham über ihn hertrieb.

Nein, zu ludern, das war angesichts dieser Augen unmöglich. Hätte sie Kritik geübt und getadelt, oder gar sich achselzuckend zur Seite gewandt, dann wäre er in hochmütigem Trotze erstarrt, und die innere Gemeinsamkeit hätte ein Ende gefunden, noch ehe sie zu rechter Verklammerung gediehen war. So aber blieb er gutwillig und weich und zum Bessermachen erbötig. So daß aus dem »Kitsch« doch schließlich ein Bild zu werden versprach, das sich sehen lassen konnte.

Und auch während der Mahlzeit war sie immer noch voll von dem eben Geschauten. Kramte in ihren Kenntnissen nach, stellte Ähnlichkeiten fest mit diesem Großen und jenem noch Größeren und hielt so seinen Ehrgeiz wach, der vor die Hunde zu gehen drohte.

Dann kam der Augenblick, da vom Schlafzimmer der Kinder her wilde Schreie ertönten: »Papa, Papa! Dute Nacht sagen! Papa!«

Kein Zögern half. Sie wären niemals zur Ruhe gekommen.

So trat er, von der glückselig lächelnden Mutter gefolgt, an die vergitterten Bettchen, wo strampelnde Sehnsucht seiner längst harrte. Und sofort wurde es still. Die Händchen falteten sich wie von selber, und dreimal nacheinander ertönte es:

»Lieber Dott,
mach mich dut,
mach mich fomm,
daß ich in den Himmel tomm. Amen.«

Dann noch der Gutenachtkuß, der ihn lange nicht loslassen wollte. Besonders Susi, die ihn mit ihren zwei prallen Wurstärmchen beinahe erstickte, konnte sich an Inbrunst niemals genugtun.

Und während Brigitte, ihm folgend, die Decken zurechtstopfte und ihren letzten Segen dazu gab, dachte er, der sich sonst um Gott und Teufel nicht scherte, voll höhnischer Scham: ›Das mag alles sehr rührend und sehr poetisch sein, aber grotesk ist es erst recht.‹

Von da an waren die beiden einander ganz überlassen.

Aber Herbstabende sind lang. Und auch die holdeste Zweisamkeit führt schließlich zu trägem Erschlaffen. Besonders, wenn bis dahin Trubel im Leben geherrscht hat und derbfröhlicher Kameradschaftsulk und aufregende Heimlichkeit mit dieser und jener.

Hier hingegen war es immer dasselbe.

Und immer dasselbe auch in den Nächten, die sie beide in Liebe vereinten.

Rausch und Gier walteten nicht darin. Was sie mit Segen und Weihe erfüllte, das war die Heimatlichkeit, die Brigittens Nähe über ihn herströmen ließ.

Der Schönheit bedurfte er freilich zuerst, und Schönheit gab sie ihm. In ihrem straffen, edelgefügten Leibe lag alles, was eines Künstlers Auge befriedigen und erquicken konnte. Aber darüber hinaus schenkte sie ihm ein Gefühl des Geborgenseins, wie er es noch nie gekannt und nie für möglich gehalten hatte. In ihren üppig gewellten Armen, an ihrer zärtlich sich hebenden Brust lag man gebettet wie im Schoße der großen Mutter Natur, und was sonst eines Weibes Liebe begleitet, Schöntun und Schmollen, Abwehr und Brunst, sank weit zurück ins Reich des Kleinlichen und zu Belächelnden. Sie gab sich ihm mit immer gleicher Selbstverständlichkeit, aber diese Selbstverständlichkeit machte bald müde. Nichts war da, um das man zu kämpfen gehabt hätte, und friedlich schlief man ein, während das leise Streicheln ihrer Hand – die einzige Liebkosung, die sie aus freien Stücken sich gönnte – die länger werdenden Atemzüge wohlig begleitete.

Und so kam's allmählich dahin, daß er sich fragte: ›Soll das immer so gehen ein ganzes, langes Jahr lang? Nie ein Wechsel, nie ein neu aufpeitschender Anreiz – bei Tage nicht und nicht bei Nacht?‹

Niemals in seinem Leben hatte er einen Alltag gekannt. Jetzt war auch der Sonntag zum Alltag geworden. Nein, er war schlimmer noch, denn er steigerte nur, was an Trägheit in der Stunden Flucht sich breit machen wollte.

Eines an ihm freilich war – wenigstens zum Beginne – seltsam und geheimnisvoll.

Nach dem Frühstück pflegte Brigitte, die sonst an ihres Mannes Nahesein nicht satt werden konnte, ihn aufzufordern, einen langen Spaziergang zu machen, damit er wisse, daß Sonntag sei. Und als er einmal nicht wollte, fiel eine gewisse Dringlichkeit ihm auf, mit der sie den Wunsch wiederholte. Sie, die sonst mit jeder Falte ihres Herzens offen vor ihm dalag, schien etwas verborgen zu halten.

Darum kehrte er eines Tages – bald nach seinem Weggang – wieder zurück.

Und was fand er? Brigitte saß spielend und singend vor dem Klavier, und die drei Kleinen mit andächtig gefalteten Händchen um sie herum.

Bei seinem Anblick liefen sie freudestrahlend auf ihn zu und zogen ihn in ihren Kreis.

»Tomm beten! tomm mitbeten!«

»Um was betet ihr denn?«

»Wir beten für unsern andern Papa, der ist da oben im Himmel!«

Glutüberströmt war sie aufgesprungen und schaute mit wehmütigen Abbitteaugen zu ihm empor.

»Warum hast du mir von diesem Gottesdienst nie was gesagt?«

»Ich dachte, er würde dir unangenehm sein, du würdest ihn vielleicht gar für eine Untreue halten. Aber er ist uns bisher eine liebe Gewohnheit gewesen. Und ich möchte den Kindern den Vater noch gerne ein wenig lebendig erhalten. Mir ist, als geschähe sonst ein Unrecht an ihm. Vergib, Lieber, vergib!«

»Wenn ich etwas zu vergeben hätte,« erwiderte er, während ihm ein paar dumme Tränen in die Augen traten, »so ist es das eine, daß ihr mich nicht habt teilnehmen lassen.«

Dankbar und glücklich lächelte sie ihn an. »Ach, wenn du das wolltest!«

Drum setzte er sich nun hinter sie, nahm die beiden Jungchen auf seine Kniee, und dann sangen sie alle zusammen; sogar der kleine Wulle-Wulle krähte etliche Tönchen, obwohl sie schmählich vorbeitrafen.

Diese Feier wiederholte sich mehrere Male, dann schlief sie allmählich ein. Vielleicht, weil der Reiz des Verbotenen ihr fehlte, vielleicht, weil sein Dabeisein von beiden zu innerst als widersinnig empfunden wurde und als gekünstelter Edelmut.

Um seinetwillen unterließ sie auch den sonntäglichen Kirchenbesuch, den sie, ohne gläubig zu sein, immer noch ein wenig gepflegt hatte.

»Ohne dich will ich selbst mit dem lieben Gott nichts mehr zu schaffen haben,« sagte sie. Und dabei blieb es.

Umso stärker aber wirkte nun die Öde zweckloser Sabbatlichkeit, die nichts als verdoppelte Langeweile brachte. Die Stunden reckten sich über das leckere Mittagsmahl, über die verlängerte Sofaruhe, über die trostlos einfallende Dämmerung bis in den schlaffen Spätabend hinein.

Warum das alles? Wozu lebte man? Zu welchem Ende war man noch da?

Als einzige Abwechslung bot sich das, was man hierzulande »Geselligkeit« nannte.

Vier bis sechs brave und friedliche Ehepaare setzten sich an einen schwach belichteten Tisch, tranken zu gleichgültigem Fraße eine Menge von wäßrigem Mosel und führten Reden über die wenig erfreulichen Zeiten, über die gefahrbringende Selbständigkeit der Jugend, über den verhältnismäßigen Wert der Freigeisterei, und so dergleichen. Manchmal auch – und ihm zu Ehren – über die »Konst«, und was man bei der letzten Fahrt nach Berlin in der Nationalgalerie alles gesehen hatte.

Einem halbwegs gebildeten Mitteleuropäer fiel es da wirklich nicht leicht, höflich zu bleiben.

Und wie diese Weiber aussahen! Manchmal waren sie sogar ganz hübsch und ganz jung, aber diese fasrigen Kräuselfrisuren! Und dieser nichtsahnende Lämmerblick!

Und wenn sie gar geistreich wurden!

»Es ist wohl recht schwierig, glücklich zu sein, nicht?«

Oder: »Die zehnte Muse ist die Liebe, oder ihrem Werte nach vielmehr die erste – nicht?«

Einfach zum Kotzen.

Und mitten unter diesen Spießern sein »Süßes« – so selbstverständlich hineingepflanzt, als wäre sie eine von ihnen. Beugte sich nach rechts und lächelte nach links und machte ein eifriges Schnäuzchen. Und ab und zu ein ängstlicher Spähblick zu ihm herüber: ›Langweilst du dich auch nicht? Sind dir meine Freunde schon etwas lieb?‹

So daß ihm beim Nachhausegehen nichts übrigblieb, als seine Wut hinunterzuschlucken und den Abend mit einem gönnerhaften: ›Es war sehr nett!‹ beruhigend abzutun.

Und dann diese Kunstgenüsse!

Das Theater lichtsparend und kohlschwarz vergoldet, halbvoll von Menschen in Wollenblusen und Schmutzstiefeln. – »Martha« – »Alessandro Stradella« – »Der Veilchenfresser« – und was sonst gespenstisch in den Spielplänen der Provinztheater herumirrte.

Das höchste der Gefühle aber nannte sich »Bach-Verein«, gegründet zur Pflege klassischer Musik von dem hochverdienten Kritiker der »Hansazeitung«. Ein Kerl, wie dem Struwwelpeter entnommen, mit rotbrauner, verfilzter Mähne und schmuddligem Hemdkragen, obwohl es Sonntagnachmittag war. Der tanzte wild vor den Bänken herum, sprach andauernd in Fachausdrücken und holte ab und zu ein paar harte Töne aus einem geöffneten Flügel heraus, um das Gesagte den Zuhörern noch tiefer in die Seelen zu hämmern.

Und diese Zuhörer selber! Zuhörer innen vielmehr. Denn die Weiblichkeit war weit in der Mehrzahl. – Eine solche Musterkarte von Scheußlichkeiten war noch niemals beisammen gewesen. Das mieseste Altjungferntum der Stadt schien hier zu einem Stelldichein vereint, extra, um ihn noch mehr zu verärgern. Vorweltliche Kapotthüte, kahl geschabte Pelzkragen und über allem der Moderduft des Mottenschranks.

Mitten darunter saß wieder einmal sein »Süßes«, wie aus dem Himmel gefallen, machte vor lauter Aufmerken ein strenges Gesicht, und während als Krönung des Festes etwas ganz ausgefallen Fürchterliches mit Namen »Passacaglia« den Saal durchklapperte, blickte sie mit hingebendem Flehen zu ihm empor, als wolle sie sein Genießertum als eine Wohltat für sich umso rascher in Schwung setzen.

Beim Hinausgehen, als die Begrüßungscour überwunden war – denn alle die Scheusäler wollten mit dem »berühmten Künstlehr« bekannt gemacht werden – sagte er, Brigittens Arm in den seinen legend: »Nee, mein Geliebtes, hier hat mein Bildungstrieb eine Grenze, und meine Gutmütigkeit auch.«

Sie verstand ihn erst nicht. Aber den Abend über blieb sie traurig und zerstreut und blickte furchtsam – ihn gleichsam um Schutz anflehend vor den eigenen Gedanken – zu seinen Augen hinüber.

Zum Überfluß setzte selbigen Tages ein grisselnder Novemberregen ein, der unentwegte Dauer versprach. Mit den Fahrten ins Freie hinaus war es vorbei – und mit der Malerei auch. Denn in dem Atelier herumzusitzen, rauchend und schimpfend, innerlich ohne ein Muß und äußerlich ohne Modelle, hatte gar keinen Zweck.

Und eines Tags, als die Verzweiflung ihn übermannte, kam er zu dem Entschluß: ›Ich muß fort!‹

Koffer gepackt. Farbenkasten sortiert. Fertig.

Erstarrt in beklommenem Staunen, sah sie ihm zu, aber nicht ein Wort des Widerspruchs oder des Bittens wagte sich aus ihrem Munde hervor.

Gerade acht Wochen waren seit der Hochzeit verflossen. Und nun das!

Ihn aber quälte die Sorge: Wohin? Nach Berlin etwa? Um Gottes willen nicht nach Berlin! Dorthin, wo die Fragen wie Heuschrecken über ihn herfallen mußten! Wo der Hohn des Mitleids in aller Augen schon auf der Lauer lag.

Er war ja der Mann, der sich verplempert hatte, der sein Talent durch eine Spießerheirat vor die Hunde gehen ließ.

An Berlin also vorbei. Nach Italien vielleicht? Wo die Kitschiers unentwegt wagrechte Pinienschirme neben senkrechte Zypressen pflanzten?

Aber Paris lag ja da und bot zwei verzeihende Venusarme dem bereuenden Tannhäuser dar.

Dort auf dem Montmartre drehte der Moulin rouge noch immer seine purpurnen Flügel. Dort in der Rue du Bac hielt Chrysis mit dem Astartenleibe noch immer ihr gastfreies Heim. Dort um den Luxembourg herum saßen beim »Père Lachose« die Freunde noch immer vorm Apéritif und stritten sich um die höchsten Fragen der Menschheit, von Janinens weitherzigen Silberschleiern bis zu der Jüngsten täglich erneuter Revolte.

Und eines Dezembermorgens landete er richtig auf der Gare du Nord und schnüffelte gierig den altvertrauten Holzkohlendunst in sich hinein.

Menschen im Freien vor den Cafés – violette Zwielichtnebel, von Flämmchen sternhaft durchtüpfelt – lachende Arbeit und lachendes Laster. Gott, war das schön!

Weit, weit versank da das muffige Krähwinkel hinten im nordischen Flachland – und das tugendsame Genist versank, das er sich allda gebaut hatte – und auch Brigitte – doch nein, sie versank nicht. Als Klage, als Herzstich, als Lockung war sie immer in ihm. Wenn bei nächtlicher Heimkehr der Concierge mit dem Stubenschlüssel nicht auch ihren blaßblauen Brief herausreichte, lag er wach bis zum Morgen. Und wenn auf dem Gange zum Déjeuner die Antwort nicht in den Postkasten fiel, hatte der beste Pariser Kochkünstler umsonst am Herde gestanden.

Weihnachten kam heran. Rings um die Madeleine stapelten sich die Tannenbäume – ganz wie in Deutschland – und das Gewissen erwachte.

Heimkehren? Den Hauspapa spielen? Ein Tränlein der Rührung zerdrücken unter dem Weihnachtsbaum?

Scheußlich! Derweilen hier der Réveillon tobte mit dem Rausch glückseligen Sichverschwendens, wie nur der Romane ihn kennt!

Also nach Hause geschrieben: »Dringende Arbeit läßt mich nicht los, drum müssen wir beide verzichten.«

Und er arbeitete wirklich.

In dem Häuflein der alten Freunde gab's einen, mit dem zusammen er schon in Rom die Herrlichkeiten der alten Meister und des jungen Weins fleißig studiert hatte. Henrik Christensen hieß er, war Däne von Geburt, seinem Vaterlande aber schon lange untreu geworden.

Der hatte ihm einen Atelierwinkel zur Verfügung gestellt und eine Leinwand herrichten helfen von so mächtigem Ausmaß, daß ihr oberster Rand fast an die Decke stieß.

Auf ihr manschte er in blühendem Fleisch, soviel der Modellmarkt nur hergab. »Sintflut« oder so dergleichen sollte das Ding heißen. Aber wie es hieß, war egal. Wenn man nur Rache nahm an alten Kapotthüten und wollenen Blusen und jener zehnten Muse, die ihrem Werte nach die erste war.

Und plötzlich war der Weihnachtsabend da. Man hatte bei Larue ein Zimmer bestellt; Chrysis war dabei, sie hatte ihren »Zahlenden« sitzen lassen, um mit dem Künstlervolk zusammenzusein. Und Louison, die »Silbermotte« genannt, und vor allen anderen eine Neue im Kreise: Juanna, die Argentinierin, ein schwarzer Teufel, der sich mit leckeren Zähnen sofort in den stämmigen Deutschen verbiß.

Aber ein rechtes Vergnügen wurde es nicht. Susi reckte dauernd die Wurstärmchen nach ihm aus, der kleine Wulle-Wulle begehrte sich auf seinen Knien zu schaukeln, und Brigitte stand straff aufgerichtet da – oh, Mut hatte sie ja und starrte feucht glänzenden Auges in die niederbrennenden Lichter.

Und er ging auch ohne Gefährtin zu Bette, was beim Réveillon eine Seltenheit ist.

Statt dessen las er in dem blaugrauen Briefe, der auch heute nicht ausblieb, wieder und wieder und reckte sich stöhnend, wie einer, der Ketten zerreißen will, wozu keine Menschenkraft ausreicht.

Aber die Festzeit ging schließlich vorüber. Der »Sintflut« – oder wie das Ding sonst hieß – erwuchsen immer neue Knäuel verschlungener Leiber, und der dänische Freund konnte sich in Bewunderung gar nicht genugtun. Michelangelo war längst schon ein Waisenknabe dagegen.

Da fand sich eines Tages in seinem Fach ein Brief mit nie gesehener Handschrift.

 

Sehr geehrter Herr Tromholt!

Als langjähriger Freund und Arzt Ihres Hauses –

 

» Meines Hauses? Ach so!«

 

– halte ich es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß es nachgerade Zeit wird, an die Heimkehr zu denken. Die Gesundheit Ihrer Gattin, die ich wie eine Tochter liebe, leidet unter der Trennung so sehr, daß mir manchmal scheint, ich hätte Grund, für ihr Leben zu fürchten, besonders, da es mir nicht mehr zweifelhaft ist, daß das eheliche Beisammensein seine natürlichen Folgen gezeitigt hat. Ich kenne die Psyche des Künstlers zu wenig, um zu wissen, welchen Platz der Pflichtbegriff in ihr einnimmt, aber ich denke: schließlich sind wir alle Menschen, und was menschlich ist, kann niemandem fremd sein.

In steter Ergebenheit

Ihr Dr. Genshagen.

 

Das war der Mummelgreis mit dem Hakenprofil und den tränigen Augen, der manchmal vormittags auftauchte und Brigittens Hände nicht aus den seinigen ließ.

Und so sehr ärgerte sich Steffen über den Ausfall am Schlusse, daß er die Hauptsache fürs erste ganz übersah.

Plötzlich fiel's wie ein Blitzschlag auf ihn herab. »Natürliche Folgen ehelichen Beisammenseins«. Um Gottes willen, das war ja deutlich genug! Und dann auch: wie konnte es anders sein? Ein Knackstiefel war er niemals gewesen und sie gar zur Mutter vom Schicksal geschaffen und als Mutter vom Schicksal erprobt.

Warum hatte er an diese Möglichkeit niemals gedacht? Er, der nach einem Jahr wieder loskommen wollte?

Wie dem auch sein mochte, die Schlaraffenzeit war zu Ende. Zurück ins Joch! Nein doch, zurück zu ihr, der Lieben, Geliebten, die nach ihm sich bangte bei Tag und bei Nacht und aus Sehnsucht beinahe schon einmal gestorben war.

Depesche: »Komme übermorgen abends. Innigst Steffen.«

Am liebsten wäre er schon heute gefahren. Aber er hatte Abschiedsbesuche zu machen, Einkäufe zu besorgen und vor allem die Farben notdürftig trocknen zu lassen. Übrigens würde das beste sein, man ließ die Leinwand da und holte sie später einmal, wenn es auch ein Jammer war, das Entsetzen der Spießer nicht genießen zu können.

Am nächsten Mittag reiste er ab. Erwischte den Kölner Mitternachtszug, fuhr im Bogen an seiner Berliner Wohnung vorbei, wo Frau Rhein immer noch schaltete, und als der Abend sich auf den Schneefeldern häuslich einrichtete, war auch seine Häuslichkeit schon in beängstigender Nähe.

Der Zug lief in die Bahnhofshalle.

Da stand sie. Wer weiß wie verändert hatte er sie sich vorgestellt, vermickert, verkränkelt, entstellt. Nun sah ihm ein stilles, bleiches Gesichtchen entgegen, spitz geworden zwar – »das liebe Dreieck«, hatte eine Freundin einmal zärtlich davon gesagt –, aber von weicher Güte und mit einem befangenen Willkommenlächeln um die süßen Lippen herum.

Da stand sie – sein Glück und sein Unglück. Doch in diesem Augenblicke nur Glück. Und als sein Glück barg er sie auch in seiner Umklammerung.

Bei der Heimfahrt sprach sie nichts. Sie hielt nur seine Hand und blickte während seines Erzählens, als könne sie sein Hiersein nicht fassen, starr in die Leere.

Daheim die Pilze festlich herausgeputzt auf der Schwelle. Jeder ein Sträußchen ihm entgegenstreckend, und diesmal nicht voller Jubel, doch in seliger Scheu, ihm wieder nahe zu sein.

Der Jubel kam erst, als die Zuavenmützen ausgepackt wurden und die französischen Waffen, die als Trophäen über den Betten angebracht werden sollten. Susi jedoch hielt ihre weißperückige Schäferin stillschweigend im Arm und war für niemand zu sprechen.

In der Plaidrolle sorgsam versteckt – der Zollschnüffler wegen – fand sich auch Brigittens Straußfederboa, in die beim Anprobieren ihr Kopf hineinsank wie der eines Cherubs in halbverhüllende Wolken. Und die Armbanduhr, mit kleinen Brillanten besetzt, schien ihr erst recht zu schade für sich und viel zu prunkvoll, um jemals getragen zu werden.

Friede und Freude, sonst nichts, und die Welt dahinter versunken. Er preßte die Handballen vor die Stirn und sagte zu sich: ›Du Narr, du!‹

Als sie dann nebeneinander in ihren Betten lagen, gestand sie ihm, wie alles gekommen war.

Als sie gemerkt hatte, daß ihr Körper dem Zeitlauf nicht folgte, war sie tödlich erschrocken gewesen und hatte, um sich zu helfen, eine Flasche kochendheißen Burgunder getrunken. Davon hatte sie einen Herzanfall bekommen, und Mi in ihrer Angst war sofort in der Nacht zum »Onkel Doktor« gerannt.

Dabei war alles offenbar geworden, und er – trotz ihrem Sichsträuben – hatte gedroht, dem Ausreißer einen Wink mit dem Zaunpfahl zukommen zu lassen.

Erst habe sie geglaubt, in die Erde sinken zu müssen vor Scham, ihm wieder einmal zudringlich zu erscheinen, aber als die Depesche anlangte, da sei sie doch sehr glücklich gewesen.

Und so glücklich sei sie auch in dem Gedanken an das zu erwartende Kind. Obgleich sie wohl wisse, daß sie's sehr schwer haben werde – später – mit den vieren – allein auf der Welt.

»Denn du mußt deine Freiheit wiederhaben, das versteht sich von selbst!«

»Ja, meine Freiheit muß ich wiederhaben,« wiederholte er zähneknirschend vor sich hin.

Doch dann umschlangen sie sich umso enger, und so schliefen sie ein.


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