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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Während dies alles in ihrem Hause sich abspielte, was war da inzwischen mit Brigitte geschehen?

Den Geist, der die meisten Sanatorien in gleicher Weise beherrscht, kannte sie aus Erfahrung seit langem. Sie wußte Bescheid mit den rettenden Gründlichkeiten der untersuchenden Ärzte, die Hausordnungen konnte sie auswendig, noch ehe sie einen Blick hineingetan hatte, und die Formen der notgedrungenen Geselligkeit waren ihr wohlvertraut.

Diesmal aber hatte alles ein anderes Gesicht bekommen. Sonst war sie auf vier bis sechs Wochen in der ihr empfohlenen Anstalt untergekrochen, ein flüchtiger Gast nur, der bei der Einkehr schon an die Abreise dachte; jetzt sollte sie Wurzel schlagen und eine Art von Heimatgefühl in sich großziehen.

Mit der duldenden Unbekümmertheit, die ihr eigen war, fügte sie sich in das ihr aufgezwungene Leben, ja es fiel ihr nicht einmal schwer, ihm günstige Seiten abzugewinnen.

Unter den Leidenden, die sie vorfand, schien sie weitaus die gesündeste. Dazu kam die allzeit heitere Teilnahme ihres Benehmens. Kurzum: nicht lange dauerte es, da sah sie sich von einem Kreise Vertrauter umdrängt, die klagend ihr Innerstes bloßlegten und mit dem Verlangen, sich und ihr Handeln gebilligt zu sehen, trostgierig an ihrem Munde hingen.

Und sie teilte verschwenderisch aus, was ihr Herz nur zu geben hatte. Keine Leidensgefährtin ging von ihr, ohne eine Hoffnung mit sich zu nehmen, keine, die sich für ihr Vertrauen nicht reichlich belohnt fand. Selbst da, wo die Verschrobenheit offen zutage trat und wo eine andere sich innerlich lustig gemacht hätte, sah sie nichts als seelische Not, und wenn sie auch oft ein Lächeln versteckte, Spott und Verhärtung lagen niemals darin.

Ja, sogar eine Art von Dankbarkeit wuchs in ihr groß. Nicht allein, weil sie sich verwöhnt und umworben fühlte, sondern auch, weil sie gewahrte, daß ihr Auge sich weitete und daß täglich neue Erkenntnisquellen rings um sie rauschten.

Ihre Phantasie, die, jahrelang geduckt und verschüttet, sich kaum noch zu regen gewagt hatte und gerade noch durch die Freude an Steffens Arbeit lebendig geblieben war, dehnte plötzlich die Flügel und trug sie über die Enge des eigenen Lebens hinaus in jene märchenhaften Bezirke, in denen die Seelen der Menschen einen umflattern wie zahme Vögel und sich ganz ohne Lockruf niedersetzen auf flacher Hand, um sich anschauen und streicheln zu lassen.

Die Fülle der Gesichte wurde so groß, daß sie schon um ihretwillen oft nicht einschlafen konnte und immer nur zusehen mochte, wie eine Geschichte nach der anderen scheinbar aus dem Nichts hervorquoll. So viel Neues und Seltsames kam, daß man erstickt wäre in lauter Arbeit, hätte man nur die gröbsten Umrisse schriftlich niedergelegt.

Und dann war noch etwas da, das den alten seelischen Druck von ihr nahm und ihr ein freieres Aufatmen schenkte: sie brauchte sich ihres Äußeren nicht mehr zu schämen.

Hier war keiner, der ihr mit höhnischem Seitenblick folgte, und keiner, der halb mitleidig und halb verletzt an ihr herauf- und heruntersah. Es hatte sich die Kunde verbreitet, daß sie an Herzschwäche leide, und deren Verquickung mit ihrem Äußeren gab ihr ein doppeltes Recht ihres Hierseins.

Oft sagte sie sich: ›Ach könnte Steffen doch sehen, wie ich geehrt und geliebt bin! Er würde, statt daß er sich mit mir verkröche, vielleicht gar noch stolz sein auf mich.‹

Dieser Wunsch wurde immer stärker, je weiter die Zeit der Trennung voranschritt, und drohte allmählich, alle innere Freudigkeit zunichte zu machen.

Auch nach Susi bangte sie sich – und nach Atta erst recht, weil sie ja ebenso in der Fremde war – aber nichts kam der Sehnsucht nach Steffen gleich.

Er schrieb zwar fleißig, und auch Liebe fehlte den Briefen nicht – o nein, kein Vorwurf durfte ihn treffen – und doch war's ihr, als rücke sie weiter und weiter von ihm und den anderen Lieben fort in ein bläßliches Nebelreich, in dem nichts als Heimweh war und trockene Tränen in der Kehle saßen und die Augen brannten vor Schlaflosigkeit und Starren ins Leere, in dem man erwartenden Schrittes den überflüssigen Weg entlangschritt, weil vielleicht ein anderer, geliebter Schritt auf ihm daherkommen konnte, in dem man nach jedem Klingeln lauschte, weil es eine Botschaft verkünden konnte, und bei manchem Pochen hoch auffuhr, weil es einem andern – nur zu bekannten – Pochen nicht unähnlich war.

Dann saß man wohl still in dem schönen Zimmer mit den bemalten Wölbungen, dem schönsten von allen – freudig war es ihr eingeräumt worden – und schaute an den goldig durchleuchteten Blättern der Kletterrosen vorbei in den dunstigen Mond, ließ im Gesträuch die letzten Vogelstimmen verklingen und sagte die Verse her, die ungerufen das Hirn durchblitzten. Und wenn sie hübsch waren, dann sagte man sie wieder und wieder, bis man sie auswendig wußte, und wachte man am nächsten Morgen auf und sie waren immer noch da, dann konnte man sie gar aufschreiben, als wären sie richtig »gemacht« und nicht von selber gekommen.

Aber nicht immer blieb man im Dunkeln allein.

Zwar den Patienten war es verboten, einander spätabends noch zu besuchen, der nötigen Nachtruhe halber, aber die Ärzte durften nicht nur, sie mußten sogar Nachfrage halten. – »Die Gutenachtvisite« nannte man das. – Und manche Frauen, hübsch und jung und schlank dazu, machten kein Hehl daraus, daß sie stundenlang in zitterndem Warten dasaßen, bis der schmucke, stille Assistenzarzt mit seinem melancholischen Lächeln zur Türe hereintrat, um nach dem werten Befinden zu fragen. Daß er als unanfechtbar galt und im obersten Stock sogar eine Frau mit zwei Kindern sitzen hatte, das machte nicht gar viel aus. Ärzte sind dazu da, von trostbedürftigen Frauen angeschmachtet zu werden, und wenn sie durchaus nicht verstehen, wieviel an Gunst sie verspielen, umso schlimmer für sie.

Auch zu Brigitte kam er natürlich. Und da er in Wahrheit ein angenehmer und feinfühliger Mensch war, von dem nie ein Gefühl der Enttäuschung zurückblieb, so ließ sie sich's gerne gefallen.

Auch daß er, wenn er den Puls gefühlt und sich nach dem Schlaftrunk erkundigt hatte, nicht gleich wieder fortging, sondern auf der Fensterempore ihr gegenüber Platz nahm und sich aufs Dableiben einrichtete, konnte man gerne hinnehmen, denn, wie sehr man auch an ihr hing, schmerzhaft war die Einsamkeit doch.

So wurden diese Plauderstunden zwischen Dämmerung und Halbnacht allmählich ein Bedürfnis auch für sie.

Und beim bloßen Plaudern blieb es nicht. Wie alle andern sah auch er alsbald ein Gefäß des Vertrauens in ihr.

Die Frau dort oben war das Verhängnis seines Lebens. Kalt, putzsüchtig, hochfahrend und niemals zufrieden. Statt daß sie ihm im Verkehr mit den Patienten beistand und bei Tische die Hausfrau spielte – ein Amt, das ihr von selber zufiel, da der Chefarzt verwitwet war – zog sie sich achselzuckend zurück und machte sich noch lustig über das hysterische Pack, das die Gesellschaftsräume bevölkerte. So sei er schließlich einsamer geworden als früher, da er noch einsam durchs Leben ging, und wenn sie, Brigitte, nicht als sein guter Genius erschienen wäre, so wüßte er kaum, wie es ertragen.

Bescheiden wies sie diesen Überschwang zurück.

»Was habe ich Ihnen viel zu geben? Eine Dämmerstunde – mehr nicht. Ihnen gerne zuhören tut wohl auch wer anders –.« Und um seine Feierlichkeit in ein flacheres Fahrwasser zu lenken, fügte sie neckend hinzu: »Ja, ich mach' mir Vorwürfe, daß ich Sie denen wegnehme, die ein Gespräch mit Ihnen weit heißer herbeisehnen als ich.«

Er lachte und schalt die Bedrängnis, in die er sich durch die Mannslosigkeit so mancher Patientin versetzt sah. Und darum gerade sei die klare und reine Luft, die sie umgebe, ihm so wertvoll geworden. Ja, manchmal scheine es ihm, als könne er nur noch atmen in ihrer Nähe.

Auch dieses Zuviel wies sie lächelnd zurück, ob es ihr auch wohl tat, das Gute, das sie halb ungewollt spendete, so begeistert preisen zu hören.

Und dann kam ein Abend, an dem das Verhältnis zu dem liebenswürdigen und innerlich vornehmen Manne eine bedenkliche Wendung nahm.

Der Mond stand rot und niedrig über dem See, die Nachtigallen schrien, und der Marschall-Niel-Duft strömte in dicken Wellen zum Fenster herein.

Da – mitten im Reden – löste er sich von seinem Sitz – sank vor ihr auf die Erde, und ihre Hüften umklammernd, barg er die Stirn an ihren Knien.

Erschrocken war sie nicht. Dazu fühlte sie sich zu sicher ihm gegenüber. Aber eine kleine Ratlosigkeit übermannte sie doch.

»Ich will Sie nicht tadeln, lieber Doktor,« sagte sie zu ihm nieder. »Aber so gehen lassen darf man sich nicht. Stehen Sie auf, und dann wollen wir vernünftig miteinander reden, damit kein Mißverständnis zwischen uns aufkommt.«

Er setzte sich gehorsam auf seinen Platz zurück und sah sie an wie der Schuldige, der sein Urteil erwartet.

»Ich müßte mir vielleicht Vorwürfe machen,« fuhr sie fort, »daß ich Anlaß dazu gegeben habe, aber schließlich – wie hätt' ich das können? Ich bin eine alte, kranke und formlos gewordene Frau.«

»Für mich sind Sie der Inbegriff alles Schönen! Sie sind das Ideal dessen, was Weib heißt, und daß ich Sie kennengelernt habe, ist das größte Glück, das mir begegnen konnte, denn jetzt weiß ich wieder, daß das Leben sich lohnt. Und was Ihre Rubensgestalt belangt – –«

Nun mußte sie hell auflachen.

»O Gott, Herr Doktor,« sagte sie, »das sind nun wohl zehn Jahre, seit ich dies Wort zum letzten Male gehört habe, und damals traf es vielleicht zu. Von da an aber habe ich nichts wie Abscheu erfahren und mich allmählich so dran gewöhnt, daß er mir fast gar nicht mehr weh tut. Nun machen Sie mich um Gottes willen nicht irre darin, sonst geht das Leiden von neuem los … Für Ihre Neigung dank' ich Ihnen von Herzen, aber die meine liegt ganz simpel im Familienkreise fest … drum wollen wir auf dieses Thema nie wieder zurückkommen. Und für heut gute Nacht!«

Damit reichte sie ihm herzlich die Hand, auf die er sich in Zerknirschung herniederbeugte, und dann war er draußen.

Aber hiermit ging das Zwischenspiel noch nicht zu Ende. Auch in Brigittens Seele nicht.

Ein seltsames Glücksgefühl brach über sie herein, in dem sie sich's wohl sein ließ wie in einem laulichen Bade.

›Wenn das mir noch begegnen kann,‹ sagte sie sich wieder und wieder, ›daß einer mich liebt, wirklich und ernsthaft liebt, dann wär' es ja möglich, daß auch er mich noch liebhaben könnte – und dann würde alles noch einmal gut.‹

In diese Träume spann sie sich so sehr hinein, daß es ihr leid tat, als der Doktor am nächsten Abend nicht mehr erschien. Auch um seinetwillen tat es ihr leid, denn sie ahnte wohl, wieviel ein solches Fernbleiben ihn kostete.

Aber ihn ermuntern durfte sie nicht, und darum blieb sie lieber allein, bis die Amtspflicht ihn wieder zu ihr zurückführen würde.

So viel seelische Spannung hatte dies Begebnis in ihr aufgehäuft, daß sie in irgend einer Weise gelöst werden mußte. Schon ein Dutzend Geschichten hatte sie daraus gemacht, und schließlich wußte sie sich keinen anderen Rat, als eine von ihnen niederzuschreiben.

Darum bereitete sie den Dunkelstunden ein Ende und drehte, wenn sie vom Abendessen kam, sofort die Schreibtischlampe an, um an die Arbeit zu gehen.

Und siehe, die Qual der Mutlosigkeit, die sonst immer eingesetzt hatte, sobald sie ans Schreiben nur dachte, war weggeblasen, die Feder flog nur so über das einladend weiße Papier, und Bild wuchs aus Bild, wohin immer das Seelenauge sich wandte.

Daß auch aus dem Bösesten sich etwas Gutes herausholen lasse, das stand als Grundgesetz allen Menschentums in ihr fest. Darum hatte sie die Frau dort oben aufs Korn genommen und begann aus dem flüchtigen Begegnen, zu dem es im Garten ein paarmal gediehen war, eine Gestalt herauszubosteln, die trotz allem, was des Doktors Erzählungen dargetan hatten, etwas wie Glückbringerin zu werden versprach.

Da, eines Abends, als sie wieder am Schreibtisch saß, klopfte es, und herein trat nicht der Doktor, der sich ja füglich wieder einmal sehen lassen mußte, sondern die Frau, die dichterisch zu ergründen sie eben beschäftigt war.

Lang, hager, mit fleckigem Rot auf den eingefallenen Backen stand sie da und erging sich in lebhaften Reden, die ihr plötzliches Eindringen rechtfertigen sollten.

»Ich habe soviel von Ihnen gehört, gnädige Frau, sowohl durch die Dienstleute, wie auch durch die Patienten – und vor allem hat mein Mann mir dauernd von Ihnen vorgeschwärmt – und so meinte ich, daß Sie vielleicht auch für mich ein wenig Zeit erübrigen würden, – besonders da man mir sagt, daß Sie jedem, der sich an Sie wendet, Rede und Antwort stehen.«

Brigitte lud zum Sitzen ein und versuchte mit ein paar bescheidenen Worten dem rühmenden Gerede, das rings um sie im Schwange war, die übertreibende Wirkung zu nehmen. Aber die Frau Doktor bestand auf ihrem Schein.

»Es muß ein seltsames Fluidum sein, das Sie ausstrahlen,« sagte sie, »und von seinen Segnungen möchte ich auch etwas spüren.«

Ein dünnliches Lächeln spielte um ihre Lippen, das aus notgedrungener Bewunderung, aber auch aus Mißgunst oder Eifersucht entsprungen sein konnte.

»Was mich zu den Leidensgefährten hinzieht, gnädige Frau,« erwiderte Brigitte, »ist nicht so sehr der Wunsch, helfen zu können, als vielmehr ein unbestimmtes Glücksgefühl darüber, eine solche Fülle von menschlichen Schicksalen vor mir ausgebreitet zu sehen. Das begegnet einem sonst in Gesellschaft kaum je, wo fast ein jedes Gespräch auf der Oberfläche liegen bleibt. Und darum beneide ich Sie von ganzem Herzen, daß Sie in dieser seelischen Bildergalerie immer zu Hause sein dürfen.«

Die Doktorsfrau horchte hoch auf. »Daß ich um irgend etwas zu beneiden wäre,« entgegnete sie achselzuckend, »hat mir noch keiner gesagt.«

Brigitte fing an, sich in Eifer zu reden.

»Ach, wenn ich Sie wäre,« rief sie, »ich würde mir vorkommen, als hätte der liebe Gott mich zu seiner Statthalterin auf Erden ernannt! An so vielen Menschen teilhaben zu können, das ist ja so, als lebte man ein Dutzend Leben zugleich. Ach, was muß das für ein Reichtum sein, gnädige Frau!«

Die Doktorsfrau sah lippenbeißend vor sich nieder.

»Von der Seite habe ich die Dinge noch niemals angesehen,« sagte sie. »Mir hat vielmehr immer nur die Kümmerlichkeit meines Daseins vor Augen gestanden. Denn ich habe es wirklich sehr schwer, gnädige Frau.«

Und nun ergossen sich Klagen ohne Ende über Kinder, Wohnung, Mann, Verlassenheit, verlorene Jugend und drohendes Alter. Die ganze Alltagsmisere der sich entwürdigt fühlenden Frau floß als ein trübes Rinnsal in Brigittens trostgewohnte Seele.

Und sie tröstete auch hier, so gut sie nur konnte. Doch auf die Freuden eines Zusammenlebens mit den Patienten kam sie nicht wieder zurück, und gerade darum vielleicht erlebte sie den Triumph, daß zwei Tage später Frau Doktor an der Mittagstafel erschien und mit teilnehmendem Kopfnicken die Bekenntnisse der benachbarten Frauen in Empfang nahm. Und dabei warf sie ab und zu einen Blick der Genugtuung zu Brigitte hinüber, wie der tugendhafte Schüler, der einen Lobstrich erwartet.

An demselben Abend geschah es, daß zum ersten Male wieder der Doktor in Brigittens Zimmer auftauchte. Er fühlte den Puls, er erkundigte sich nach dem Schlaftrunk und war so sachlich wie denkbar. Als Brigitte ihn trotzdem beim Abschiede nicht zum Dableiben einlud, drückte er einen ehrerbietigen Kuß auf ihre Hand und sagte leise: »Sie Wundertäterin, Sie.«

Nun war wieder Friede in ihrem Leben. Die begonnene Geschichte gedieh zu ihrem Ende und eine folgende auch. Sie wollte immer nur schreiben, schreiben, schreiben. Es war, als hätten Kopf und Hand so lange in Fesseln gesteckt und genössen schwelgend die plötzliche Freiheit.

Aber da sie in diesem Rausche des Schaffens gar nicht mehr schlief, mußten schließlich die Ärzte eingreifen und ihr die Arbeit verbieten, so daß sie nur heimlich vorwärtszukommen vermochte.

Es war ein stetes Hymnensingen in ihr und ein Liebesüberfluß, der nicht wußte, wohin mit sich, da die Objekte ihm fehlten. In den Briefen an Steffen mußte sie vorsichtig sein, um ihm nicht lästig zu fallen, Susis leicht absprechendes Wesen verlangte nach sachlicher Kühle, höchstens Attas verhaltene Glut konnte ihrer Inbrunst halbwegs entgegenkommen.

Eines Tages sagte der Chefarzt, ein trockener Beobachter, dem man schwer ein X für ein U machte: »Ich sehe mit Bedauern, gnädige Frau, daß der Aufenthalt in meinem Hause Ihnen nicht mehr sehr gut tut. Ich komme daher auf das Anraten meiner Berliner Kollegen zurück, Sie im gegebenen Moment flügge zu machen. Die Anfälle, um derentwillen Sie eigentlich hier sind, haben sich Gott sei Dank nicht mehr gezeigt, und darum würde ich es für richtig halten, daß Sie jetzt ein wenig die Welt sehen und erst zurückkehren, wenn es Ihnen draußen anfängt unbehaglich zu werden. Spätestens gegen den Herbst.«

Und so geschah es, daß Brigitte sich eines Tages hundeeinsam in einem Alpenhotel wiederfand, das mit lärmenden Sommergästen bis unter den Schornstein gefüllt war.

Zwiefach fremd geworden in der fremden Umgebung, sah sie von ihrem Tischchen aus die Eitelkeiten der Menschennatur ihr Pfauenrad schlagen. Auch trostloses Welken sah sie und aufgepulvertes Müdsein; und mancher verschwiegene Kummer, der sich wunder wie lustig gebärdete, mußte ihrem Auge seine Geheimnisse hergeben.

Freilich, auch der eigene Kummer kam ins Gedeihen. Eine Wolkenmauer stieg rings um sie auf, hinter die alles zurücksank, was bisher das Herz zum Schlagen gebracht hatte. Immer schattenhafter wurde das alles, und selbst die Lieben daheim verloren Farbe und Körperlichkeit. Sie waren da und waren auch nicht da. Man konnte sie ausstreichen aus dem eigenen Leben, wie man aus dem ihren gestrichen war.

Und dann floh sie weiter von einem Gasthof zum andern.

Immer noch kleiner, immer noch stiller mußten sie werden; nur wo keine Klingel schrillte und kein Lachen die Korridore entlanglief, da war ein Wohlsein noch möglich.

Ganz gestorben mußte man sich fühlen können, als läge man auf dem Grunde des Meeres und schaute ruhevoll durch den gläsernen Sarg zu Sonne und Sternen empor.

Und dabei schrieb sie immer und immer. Es war nicht sie selbst, die die Feder führte, sondern ein guter Geist, der ihr alles eingab, was dann wie von selbst geworden unversehens auf dem Papiere stand. Und der ihr bei Tag und Nacht in die Ohren raunte: »Du mußt wieder du selber werden.«

Wenn das Man-selber-Sein nur nicht so viel Schmerzen gekostet hätte und jenes Sich-verloren-Haben so weich und so selbstverständlich gewesen wäre!

Aber sie mußte ja! Sie war ja auf Erden allein.

Die Pilgerfahrt nach dem Segen der Ruhe führte sie über manche Leidensstation schließlich nach Glarus, jener altväterisch biederen Landstadt, die den tosenden Fremdenstrom gleichmütig an sich vorüberziehen läßt.

Dort saß sie in einem leeren Gasthäusle, gab den Tauben des Marktplatzes Futter, unterhielt sich mit den Pferden im Ausspann und ließ die Kinder der Wirtsfrau auf ihrem Schoße sitzen.

An der Geschichte einer Schwindsüchtigen schrieb sie, die durch die langen Kuren auf Alpenhöhen der Heimat fremd geworden war und lieber den Tod wollte, als bei den Ihren noch einmal unterzukriechen.

Und wenn sie sich müde fühlte, sah sie zum fernen Glärnisch empor und träumte von mählichem Einschlafen dort oben in Sonne und Eisluft.

Da, eines Spätnachmittags, kam plötzlich die Meldung:

»Fahren zu dir. Erwarte uns Glarus.

Innigst Steffen, Susi, Atta.«

Und als das erste krampfhafte Weinen der Freude vorüber war, fand eine Angst sich ein, über die sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte.

Die dreie gehörten zusammen, die waren das Leben, die Welt, aus der man sie verwiesen hatte ins einsame Sterben hinein. Wie würde sie ihnen entgegentreten, sie, die an nichts mehr Anteil hatte, was jene Seelen bewegte? An Steffens Arbeit nicht. An Susis Hochwollen nicht. An Attas Backfischleiden vielleicht, aber ganz von ferne nur, wie ein abgeschiedener Geist, der nächtens zum Fenster hineinguckt.

Eine Nacht – ein Tag – und noch eine Nacht!

Jetzt mußten sie kommen. Zu jedem der einfahrenden Züge war sie am Bahnhof. Um zwölf, um zwei und um vier.

»Mammi, Mammi, Mammi!«

Das war Attas jubelndes Stimmchen. Und dann wehten Tücher und Reiseschleier, und dann hingen sie ihr am Halse, die beiden, und weinten geradeso, wie sie selber weinte. Und Steffen stand wartend daneben, bis auch an ihn die Reihe kommen würde, und sah sie lieb an, so lieb, wie sie's gar nicht verdiente.

Aber scheu blieb sie doch – Tage und Tage lang. Den Kindern die Haare zu streicheln, wagte sie kaum, und wenn sie Steffen anrührte, zuckte sie rasch wieder zurück, als hätte sie ins Feuer gegriffen.

Und auch er war nicht wie dereinst. Zwar lieb und herzlich, das blieb er. Man hätte sogar von einer gewissen Inbrunst sprechen können, mit der er ihre Nähe aufsuchte, aber wenn er bei ihr saß, glitten seine Augen unruhig umher, er horchte hoch auf bei jeglichem Laut und vergaß oft Rede und Antwort.

Zu Susi war er freundlich und aufmerksam, aber sehr gut schien er mit ihr nicht zu stehen, denn wenn sie selber einmal mit Atta allein sein wollte – von allen brauchte die sie am meisten – und darum die beiden andern auf Wanderschaft schickte, dann suchte er Ausflüchte und blieb schließlich daheim. Ein andermal wieder war er besorgter um Susi als sie vielleicht selber, und als eines Tages beim Blumensuchen ein Bulle bedrohlich auf sie zukam, sprang er mit jähen Sätzen breit vor sie hin und war ihr ein Schild, bis sie den rettenden Zaun durchklettert hatte. Hinterher lachte er laut, aber immerfort sah er sie an und blieb wohl eine Stunde lang weiß wie der Kalk an der Wand.

Schon gleich nach der Ankunft waren sie all insgesamt weiter zur Höhe gezogen, dorthin, wo es was Handfestes zu malen gab, und ob Steffen auch die Motive, die rings in Fülle sich auftaten, als »Kitschigkeiten« und »Rouleaumalereien« in Grund und Boden verachtete, so ließ er doch keine Stunde günstigen Lichtes unausgenützt an sich vorüberziehen.

Und Brigitte mußte immer dabeisein. Wenn sie sich nur auf Minuten entfernte, dann schrie er nach ihr.

Ach wie gerne sie um ihn war! Mit ihrem Stickzeug saß sie drei Schritte vor seiner Staffelei unter dem sonneabwehrenden Regenschirm, warf ab und zu einen Rat darein und war so zufrieden und ausgefüllt, als hätte es nie eine Heldin gegeben, die aus tiefstem Leide heraus nach dem erlösenden Tode schrie.

Und um ihr Glück noch größer zu machen: wer sprang eines Tages, unter lichtblondem Haardach, braun und stämmig aus dem im Schritt ansteigenden Wagen, lief unbemerkt auf sie zu und umschlang sie von hinten herum mit zwei straffen, atemzuschnürenden Armen?

Wer anders als Kurt? Wer auf der Welt hätte sich sonst so etwas herausnehmen dürfen?

Das Abitur war bestanden, und bevor er auf die Ferienfahrt ging, wollte er sich noch ein wenig in der Bewunderung der Seinigen sonnen.

Aber noch ein anderes gab es, das ihn zur Herkunft gezwungen hatte.

Mit der Jurisprudenz, zu der er sich vorherbestimmt sah, war es nichts Rechtes. Maler mußte er werden – geradeso wie Papa. Schon aus Verehrung für dessen Kunst. Denn etwas Höheres als sie gab es nicht auf der Welt.

»Junge, ich habe dich noch nie mit 'nem Bleistift gesehen. Wenn du 'nen Kreis machen willst, wird noch nicht mal ein Viereck daraus.«

»Hoho, paß mal auf!«

Er rannte zum Zimmer hinaus und kam mit einer Mappe zurück, so groß, daß sie die Reise als besonderes Gepäckstück mitgemacht hatte.

Und als der Deckel sich auftat, da lagen Köpfe und Landschaften und Interieurs mit bestem perspektivischen Können, die einen in Pastell, wie der Vater es liebte, die andern in Wasserfarben, wohl noch tüchtig verkleckst und verlaufen, aber so gut doch schon immer, daß etwas wie Stimmung heraussah.

Steffen maß bald die Blätter, bald deren Schöpfer mit großen, staunenden Augen. Auf seinen kurzen, festwurzelnden Beinen stand der Junge entschlossen vor ihm, versuchte bescheiden und gleichgültig auszusehen und blinzelte dabei schlau und vergnügt zum Vater hinüber.

Und er dachte bei sich: ›Wie verdien' ich's, daß er, den ich vernachlässigt habe wie keinen, in der Fremde mein Sohn blieb?‹

Brigitte wußte sich vor Glückseligkeit gar nicht zu fassen. Sie legte sich ihren Jungen ans Herz, wurde nicht satt, ihn zu loben, und in ihren Augen stand ein Dankgebet dafür, daß alles zum Guten gediehen war.

Dann wurde beraten und beschlossen, wie er seine Studien durchführen solle.

Beim Vater in die Schule gehen, wie's die Alten, die Großen gemacht hatten, das würde er nicht, damit er sich in voller Freiheit auswachsen könne. Zuerst nach München, dann nach Paris, nach Rom vielleicht auch – obgleich die Fahrt ins Gelobte Land schon mehr und mehr aus der Mode kam – und dann erst, wenn er Er-Selbst geworden war, nach Berlin zurück. So konnte er auch nach außen hin dem Vorwurf entrinnen, nichts als ein Abklatsch des Vaters zu sein.

Vorläufig aber blieb er noch da, um sein junges Genietum erstrahlen zu lassen, und Vater und Sohn malten fortan um die Wette.

Eines Morgens kam schüchtern auch Atta hinzu, lehnte einen Skizzenblock gegen die Kniee und begann die in Gotha gelernten Künste zu zeigen. Selbst Susi ließ das Klapperklavier im Tanzsaal, das für ihre Fingerübungen immer noch gut genug war, pflichtlos im Stich und setzte sich als vierte zeichnend und tuschend zu der vor Eifer stummgewordenen Gruppe.

Viel fehlte nicht, so hätte Brigitte kühnlich das gleiche getan. Befugt war sie gewiß dazu, denn daheim auf dem Boden verborgen standen die verschiedensten »Ölgemälde«, die noch aus der Mädchenzeit stammten und die in ihrer ersten Wirtschaft den Stolz der Wände gebildet hatten. Aber ihr Licht leuchten zu lassen, dazu war sie viel zu bescheiden. Und ihr Wünschen ging auch ganz andere Wege. Papier und Feder lagen bereit, und während die andern malten, blieb Zeit genug, an dem Schicksalsgarn ihrer Heldin weiterzuspinnen.

Doch schließlich wurde nichts draus, denn sie hatte übergenug zu tun, um den Ihren das Werk zu erleichtern. Sie trug ihnen Erfrischungen hin, sie sorgte dafür, daß sie sich nicht erkälteten, sie hob ihnen das entfallene Handwerkszeug auf und ging, dringlich gerufen, von einem zum andern, die Lobsprüche zu spenden, die ein jeder von ihr erwartete, denn zum Tadeln war sie ja nicht auf der Welt.

Und niemand fühlte sich glücklicher als Brigitte. Alles, was auf Erden zu ihr gehörte, wollte von ihr betreut, gepflegt und gehütet sein, alles verlangte nach ihr, alles ließ es sich wohl sein im wärmenden Sonnenschein ihrer Nähe.

So gut hatte sie's lange nicht mehr gehabt. Daß sie selber wer war oder sein konnte, eine Schaffende und nicht bloß Schaffnerin, daß eine unermeßliche Fülle von Bildern und Gedanken in ihrem Kopfe quirlte, nur harrend auf den Augenblick der Erlösung, das hatte der Segen der Stunde vergessen gemacht, das war untergegangen in den Fluten von Liebe, aus der ihr jetziges Sein als eine Insel der Seligen hochstieg.

Mit Stolz und Befriedigung glitt ihr Blick von einem der Köpfe zum andern, wie sie, vor Fleiß in die Schultern gekrochen, sich über die Arbeit beugten. Kurts dünnliche Blondheit, Attas goldbräunlicher Wellenschlag, Susis lichtsilbrige Wuschligkeit und Steffens ergrauendes Knötchengelock, die alle durfte sie streicheln. Und sie würde es gern getan haben, aber stören durfte sie nicht.

So stand sie oft hinter den Malenden, in Hoffen und Träumen verloren, und ahnte nicht, daß erzitternd in ruhelosem Verlangen, aufbrennend in heimlichen Seitenblicken und rasch wieder zugedeckt durch wohlgesittete Väterlichkeit, ein Unheil drohte, bereit, ihr bißchen Glück und aller Glück zu verschlingen.


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