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Zweites Buch: Sonnenstillstand


Elftes Kapitel

Wer in einem bestimmten Jahre zu Anfang unseres Jahrhunderts nach der Reichshauptstadt kam und in der sogenannten »Gesellschaft« Umschau hielt, der erfuhr alsbald, daß zu den wenigen gastlichen Häusern, in denen »tout Berlin« aus- und einging, sich ein neues hinzugesellt habe, das als ein leuchtender Stern am Himmel der »Saison« emporgestiegen sei.

Dem Professor Steffen Tromholt gehöre es, der nach mehrjährigem Fernsein sich wiederum in Berlin heimisch gemacht habe und dessen Rückkehr von der Kollegenschaft dadurch geehrt worden sei, daß man ihn sofort zum Vorsitzenden des Künstlervereins gewählt habe, als welcher er bis zu den höchsten Behörden, ja selbst bis zum Hofe hinauf, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß besitze.

Und wer auf einer der Festlichkeiten, wie sie in den Wintermonaten sich aneinanderreihten, mit ihm zusammentraf, der sah an seinem Arm eine blonde, liebreizende Frau, ein wenig üppig geworden, mit unwahrscheinlich rosigen Farben, die aber – das ließ sich von weitem erkennen – kein Schminkstift hervorgezaubert hatte. Fröhlich lachend zumeist und scheinbar auch gesellschaftlich sicher, doch wenn man schärfer zusah, schüchtern zuwartend und leicht in Verwirrung gebracht.

Ihr guter Ruf stand unantastbar fest, und wer ihr den Hof zu machen gewillt war, dem gebot alsbald eine heitere Unnahbarkeit Halt, die beinahe verständnislos schien und der mindestens jeder Instinkt für den Reiz des Verbotenen fehlte. Auch die Bosheit des Klatsches fand keine Gegenliebe bei ihr und wurde meistens durch eine eifrige Inschutznahme des Angegriffenen mattgesetzt. Ein witzelndes Wortgeplänkel in Gang zu halten, verstand sie nicht, aber schlichter Menschlichkeit öffneten sich weit die Tore ihres Herzens, und geradsinniges Vertrauen fand sich stets mit warmer Anteilnahme belohnt.

So kam's, daß sie sich manchen Freund gewann, manche Freundin sogar, wenngleich die mitleidige Herablassung, mit der die Frauen sie anfangs empfangen hatten und an der die Legende von Tromholts Mißheirat die alleinige Schuld trug, noch immer nicht vollends gewichen war. Die blonde Lieblichkeit ihrer Erscheinung hatte wohl manches böse Mundwerk entwaffnet – und nicht minder die Tatsache, daß hier und da eine kleine Skizze oder ein hübsches Gedichtchen mit ihrem Namen erschien, aber das Mitleid wandelte sich allmählich in Neid, ohne die bisherige Form ganz zu verlieren.

Und zum Neide gab es in der Tat Gründe genug. An der Seite des Mannes daherzugehen, der einer der meistgeschätzten und meistbegehrten Maler der Zeit war, und daneben auch noch ein paar eigene Vorzüge zu besitzen, mußte unbedingt als Herausforderung gelten.

Hätte der Glanz des Hauses, dem sie vorstand und in dem zu verkehren schon allein der allgemeine Zustrom verlangte, nicht Vorsicht zur Pflicht gemacht, so würde die Unfreundlichkeit mancher Gesinnung ihr nicht verborgen geblieben sein, aber harmlos, wie sie war, ließ sie jede Tücke unbeachtet und verschwendete herzhafte Zuneigung, wo ein ablehnendes Sichzurückziehen weit eher am Platze gewesen wäre.

Zudem hätte sie nicht Mensch und nicht Weib sein müssen, wenn der jähe Glücksumschwung nicht auch sie ein wenig betäubt hätte. Aus dem lähmenden Gefühl, als geduldetes Anhängsel Unglück und Einsamkeit des geliebtesten Menschen verschuldet zu haben, emporgehoben zu vielumworbener Herrlichkeit – kaum eine hätte den Schatz innerer Bescheidenheit zu wahren gewußt, kaum eine hätte der Versuchung widerstanden, sich die neue Stellung in selbstgerechtem Stolze als Tribut des Schicksals auszumalen.

Sie aber, ob auch trunken von Lichtern und Worten und Tönen, ob auch freudig plätschernd in dem lauen Bade des Wohllebens, blieb, soweit ihr seelischer Haushalt in Frage kam, immer die gleiche.

Die gleiche in schmiegsamer Hingabe und aufmerkender Sorglichkeit, die gleiche in stillem Hausfrauentum und zärtlichem Muttergefühl. – Und ward ihr auch enge ums Herz, wenn sie der zwei Älteren gedachte, die in dumpfem Banausentum friedlich-mühselig heranwachsen sollten, so schlug es doch umso höher, wenn der erste Ferientag kam und sie sie im Triumph von der Bahn heimholen konnte.

Heimholen in den hochragenden Mietpalast, dessen stuckbeladene Front das Stolzeste war, das die Bauweise der reichgewordenen Kaiserzeit dem Staunen der Welt darbieten konnte.

An der Grenze des westlichen Weichbildes war es gelegen, dort, wo die Prunkbauten über Nacht aus der Erde schossen, und von seinem dritten Stocke herab schaute man vorläufig noch auf weidenbesäumte Grasflächen nieder, deren aufgefahrene Schutthaufen bedrohlich erzählten, wie bald auch dies letzte Restchen Freiheit der vampirnen Bauwut zum Opfer gefallen sein würde.

In dem genannten dritten Stock hatte Steffen sich ein Heimwesen hergerichtet, das an Pracht und Kunstgeschmack seines Künstlernamens würdig zu werden bestimmt war.

Als Grundlage dienten die Möbel der einstigen Junggesellenklause, die aus der langen Speicherhaft befreit worden waren. Und siehe, die Motten hatten sich gnädig benommen. Kaum einer der Perser wies faserige Löcher auf, und auch die Gobelins zeigten sich ganz unversehrt. Sie zierten nun als Vorhang und Wandschmuck Brigittens Empfangsraum, und was rings um sie aufgebaut wurde, hatte die Pflicht, mit ihnen zusammenzustimmen. Die Althändler der Wilhelmstraße kannten Steffen als ihren ständigen Gast, und wenn auf den Kunstversteigerungen irgendwas Rares geräuschlos dahinging, dann wurde es nicht selten nach etlichen Stunden vor seinem Hause entladen.

Die Barockpracht des einstigen Speisezimmers bewies, daß sie nur Weiträumigkeit brauchte, um sich vor jeder Kritik zu bewähren, und bot bei kerzenbeleuchteter Tafel einen Anblick, der manchem der Eintretenden einen unwillkürlichen Ruf der Bewunderung entlockte.

Die Empirezauber des Schlafgemachs aber waren dem Trödler anvertraut worden. An ihre Stelle traten in zwei verbundenen Räumen lichtbraun flammende Täfelungen und blitzblanke Messinggestelle, in deren Bereich man staubfrei zu atmen wagte.

Von einer grünseiden verhangenen Nische aus stieg man auf heimlicher Wendeltreppe zu Steffens Werkstatt empor, die als ein riesiger Glaskasten die Reihe der finsteren Bodenkammern durchbrach. In wenigen Wochen war sie geschaffen worden, und der Hauswirt, froh des berühmten Mieters, hatte ihm noch nicht einmal die Kosten des Umbaus berechnet.

Aber auch eine Außentreppe war vorhanden, die vom Hausflur aus geradeswegs hochging, so daß die Gäste, die man da oben empfing, der Anmeldung unten gar nicht bedurften.

So war alles zweckmäßig ausgestaltet, und Steffen hatte sogar einen Schimmer ehemaliger Junggesellenfreiheit ins neue Leben hinübergerettet.

Es fehlte nur, daß er dessen in Wirklichkeit froh wurde. Und fast schien es auch so.

Die Rückkehr zu den alten Verhältnissen, die Wärme, mit der man ihn allenthalben empfing, die Vertrauensstellung, die die Kollegen ihm einräumten, die staatliche Betitlung, die endlich jetzt eintraf, und vor allem das Bewußtsein, »ein Haus zu machen«, zu dem man sich drängte, das alles gab ihm ein Wohlgefühl, in dem die dumpfe Gedrücktheit, die schon ein natürlicher Teil seines Wesens geworden war, befreiend dahinschwand.

Brigitte sah es mit freudigem Stolze. Und mit nicht geringerem Stolze erkannte sie, daß sie der Stellung, zu der der große Umschwung sie emporgehoben hatte, wohl gewachsen war.

Der Hausfraueninstinkt, der ihr eingeboren schien, bewährte sich auch in dem ihr fremden Glanze. Sie wußte alsbald, wer von den Freunden zusammengeladen werden konnte und wer daheim bleiben mußte, sollte der Einklang des Abends nicht gefährdet sein. Sie paßte die leiblichen Genüsse sorgsam dem geistigen Gepräge der Versammelten an, und die »vornehme Einfachheit« des Tromholtschen Haushalts wurde allenthalben gerühmt, wenn im Vergleiche dazu Auftrag suchende Künstler den Reichen mit Reichtum aufzuwarten sich mühten. Was nicht hinderte, daß man nirgends besser aß als bei ihm und daß sein Weinkeller die Pflege, die ihm gegönnt war, niemals verleugnete.

So ging alles vortrefflich, und Brigitte durfte sich eingestehen, daß sie den Platz an seiner Seite vollauf verdiente.

Wenn nur die Unruhe nicht gewesen wäre, die ihn allzeit beherrschte! Eine Fahrigkeit war in sein Wesen gekommen, die sie bisher niemals an ihm gekannt hatte. Ein Fest jagte das andere, und niemals bekam er genug. Die Verpflichtungen häuften sich, denen zuliebe er nicht selten Kraft und Sammlung dahingab.

In schüchterner Warnung hatte Brigitte manchmal auf ihn einzureden versucht, aber jedes Mahnwort, noch so liebevoll, noch so rücksichtsvoll, prallte an seiner Dickstirnigkeit ab.

Und hätte sie auch in ihn hineinschauen können, ihr wäre wenig damit geholfen gewesen, denn in ihm wühlte so viel Sinnwidriges und der üblichen Norm Hohnsprechendes, daß ihre Erklärungsversuche ratlos zusammengebrochen wären.

Den Pomp, den bunten Trara, den mußte er haben, denn er erschien ihm als Entschuldigung, als Entsühnung dafür, daß er sich durch seine Ehe von der Bürgerlichkeit hatte einfangen lassen. War er für die Bohème verdorben, nach der seine Sehnsucht noch immer zurückschaute, so sollte die Großartigkeit der Lebensführung wenigstens Ersatz dafür bringen.

Zugleich war das Weib in seiner Vielgestalt, dem er nun jahrelang fern gewesen, von neuem in sein Leben getreten. Es umwarb, es umtändelte, es umklammerte ihn. Diese wollte mit List oder Gewalt feindselig von ihm erobert sein, jene bot sich als wehrlose Beute hinschmelzend dar, – das alte, liebe Katz-und-Maus-Spiel, bei dem stets ungewiß bleibt, wer die Katze und wer die Maus ist, schwirrte mit seinen Lockungen rings um ihn her.

Er aber wagte noch immer nicht, sich daran zu vergnügen. Noch sah er sich zu sehr als Ehekrüppel, um sich die Erlaubnis dazu zu gewähren. Dergleichen war für die Freien, die Halsbandlosen, für ihn aber nicht. Dann aber verbot auch die Weihe der Leidenschaft, von der er sich emporgerissen fühlte, ein Niedersteigen in die Täler der lusterfüllten Kaprice.

Denn Leidenschaft wie niemals bisher hatte ihn jetzt verdammt und begnadet. Das Bild jener Fremden, die schicksalgestaltend in sein Leben getreten war, wich nie mehr aus seiner Seele.

Die kleinen Freuden, die ringsum seiner warteten, hätten vielleicht als Zerstreuung gedient, ohne doch zu beflecken, was heilig in ihm lebte. Aber auch hierin fühlte er sich nicht frei und morallos genug.

Und so schwoll immer stärker an, was eigentlich abklingen mußte.

Brief auf Brief, verzweifelt der eine, gebieterisch der andere, und fiebernd hingeworfen der eine wie der andere, flog nach dem Hause hin, dessen Adresse er als einziges Zeugnis dafür, daß jenes Begegnen kein Traum gewesen, in seiner Brieftasche barg.

Gegen Mitte des Februar war es, da hielt er den Druck laschwerdender Tage, den Irrwahn schlafloser Nächte nicht länger aus und ging zu der Dienerin hin, der seine Briefe so lange zugeflogen waren.

Der Weg führte nach einer wenig ansehnlichen Straße des schon damals verschmuddelten älteren Westens.

»Fritz Hellwig, Parkett- und Stabfußbohner,« stand auf dem Schilde geschrieben.

Ein Klingelzeichen, ein schlürfender Schritt – ein schwarz klaffender Türspalt.

Da stand sie, die Mittlerin, in deren Händen die Ruhe seiner Zukunft lag.

Eine blasse, gedunsene, doch immer noch hübsche Frau aus dem Volke mit jenen vielwisserischen und rasch taxierenden Augen, die das Leben der Hauptstadt auch denen, die als Unschuld vom Lande hineingepflanzt werden, in wenigen Jahren zu eigen gibt.

»Ich heiße Tromholt.«

»Bitte einzutreten.«

Eine gute Stube halb bürgerlichen, halb proletarischen Gepräges, brennend sauber, mit [ihrem] lichten Gardinengewölk, [ihren] Spitzenschonern auf dem rotplüschenen Sofa und dem dunklen Alkoven daneben, hinter dessen gerafftem Ripsvorhang ein weiß leuchtender Betthimmel zur Decke emporstieg.

»Was wünschen Sie von mir, Herr Professor?«

»Frau Hellwig, an Sie gehen all meine Briefe. Sie befördern sie weiter. Sie werden wohl wissen, daß ich nie eine Antwort erhalten habe.«

»Ich weiß bloß, daß man mir keine gegeben hat.«

»Ich mache keinen Versuch, Sie zu beeinflussen. Ihre Herrin – ob früher, ob jetzt noch Herrin, ist egal – hat mir gesagt, daß das vergeblich sein würde. Ich frage Sie weder nach ihrem Namen, noch wie und wo ich die Möglichkeit haben würde, sie wiederzusehen. Vielleicht aber – –«

Und nun wußte er nicht einmal, was er recht eigentlich von ihr wollte. Sie bestechen wollte er natürlich. Aber das war ja verbaut.

Und er fuhr fort ganz aufs Geratewohl: »Vielleicht aber – wenn Sie sie sehen – wenn Sie ihr sagen, daß – ich hier war – und daß ich – daß ich – –«

Da, wie er hilfesuchend um sich schaute, kam ihm der rettende Einfall: »Übrigens hübsch wohnen Sie hier. Hübsche Bilder haben Sie dort an der Wand.«

Die einstige Dienerin lachte geschmeichelt. »Wenn Sie das sagen, Herr Professor!«

Und sie warf einen Blick des Stolzes auf ihre zwei Öldrucke, die Wassermühle und die Ritterburg, deren goldene Papiermachérahmen ein runzliges und warziges Arabeskenzeug zu höherer Schönheit emporhob.

»Wissen Sie denn überhaupt, was für eine Art von Professor ich bin?«

»Nu, werd' ich nich! In die Kunstausstellung geh' ich mit meinem Mann jedes Jahr, und seit ich weiß, wer es is, der meine –«

Erschrocken hielt sie inne, als hätte sie schon zuviel gesagt.

»Und wenn ich ein Bild Ihrer Herrin machte und es schön einrahmen ließe, würden Sie es dann gerne hier hängen haben?«

»Ach!« Und sie faltete die Hände wie zum Gebet.

»Also ich hab' eins von ihr gemacht – aus dem Gedächtnis bloß – drum müßte ich's noch mit ihr vergleichen. Und wenn ich's verglichen habe, dann schenk' ich's Ihnen, verstanden?«

»O Gott, wenn das ginge,« seufzte sie.

»Das weitere ist Ihre Sache. Hier haben Sie meine Adresse.« Er holte eine Visitenkarte hervor. »Wenn Sie mir schreiben, ich möchte dann und dann kommen wegen des Bildes – mehr ist nicht nötig.«

Damit drückte er ihr zum Abschied die Hand, wissend, daß sich eine dringendere Fürsprecherin auf Erden nicht vorfinden würde.


Vierzehn Tage vergingen, da lag die ersehnte Botschaft vor ihm. Nach Diktat geschrieben, wie aus dem Stil ersichtlich. Das Modell, das der Herr Professor zur Korrektur seines Bildes noch einmal zu sehen wünsche, werde morgen nachmittag um vier bereit sein, ihm in ihrer Wohnung zu sitzen.

Fast schämte er sich, sie, die ihm wie eine Göttin war, zu so niedriger Durchstecherei herabgewürdigt zu haben, aber die List war gelungen.

Er hatte sie mehrfach gemalt. Und Brigitte war verwundert gewesen, unter seinen Skizzen diesem Antlitz von unwahrscheinlicher Schönheit wieder und wieder zu begegnen. Aber wenn sie sich auch in dem alten Bestand vollkommen heimisch glaubte, so fand sich doch noch immer in allen Winkeln was Neues. Darum war es ihm leicht gefallen, sich aus der Klemme zu schwindeln.

Und im übrigen glaubte sie blindlings.

Heimlich packte er eines der Bilder, das sich gerade noch tragen ließ, unter den Arm und verschwand damit in der nächsten Droschke, ohne daß aus seinen Fenstern ihm jemand nachgeschaut hätte. Den Farbenkasten nahm er gar nicht erst mit.

Schneeluft und Blaulicht der Dämmerung.

Schwindlig vor Herzklopfen, stand er in der heute von selbst sich öffnenden Tür. Dienstgewohnte Hände bemächtigten sich des Huts und des Mantels.

Ein schweigender Wink wies ihn nach rechts, dorthin, wo er damals geweilt hatte.

Eintretend sah er eine dunkle Frauengestalt, in Pelz und Samt gemummt, sich aus der Sofaecke erheben.

Das Bild, das in seiner Linken hing, flog gegen die Wand, dann stürzte er auf sie zu.

»Liebe, Liebe!«

Sie regte sich nicht und duldete, daß er die vorgestreckten Hände an ihren Schultern entlanggleiten ließ. Erst als er sie umschlingen wollte, hielt sie ihm, leise sich wehrend, die Arme entgegen.

Und endlich vernahm er wieder die Stimme, die ihm im Ohr geklungen hatte sechs Monate lang.

»Setzen Sie sich, lieber Freund, und lassen Sie uns reden, wie es sich für vernünftige Menschen geziemt.«

»Ich bin nicht vernünftig. Wahnsinnig bin ich. Und Sie sind schuld daran.«

»Was habe ich Ihnen getan?«

»Sie haben mich ohne Antwort gelassen, Sie haben mich behandelt wie einen Hund.«

»Daß ich Ihnen nicht schreiben würde, darauf hab' ich Sie vorbereitet. Es wäre mir auch schwer gefallen, den richtigen Ton zu treffen. Zurückweisen wollte ich Sie nicht, denn Ihre Briefe wurden mir teuer, aber mich Ihrer Stimmung anzugleichen, wäre nicht sehr schamhaft gewesen. Ich gab mich zufrieden, von Ihnen zu erfahren, daß Ihr Leben die Wendung genommen hatte, die ich mir für Sie wünschte. Störend irgendwie einzugreifen, wäre Verbrechen gewesen.«

»Und statt dessen – –«

»Bitte, keine Vorwürfe mehr! Was ich tat, mußte ich tun, und es war richtig so. Nur daß ich jetzt hier bin, ist wohl ein Fehler. Bitte, helfen Sie mir, daß ich ihn nicht zu bereuen habe.«

»Sind Sie gekommen, um mich von neuem aus Ihrem Leben zu entfernen?«

»Ich bin gekommen, damit Friede zwischen uns werde, und dann, weil –« er fühlte ihr Lächeln mehr, als er es sah – »weil Sie meine Kinderfrau doch noch bestochen hatten.«

Und als er sich verteidigen wollte, unterbrach sie ihn rasch: »Ich weiß, ich weiß alles, aber es wird finster. Rufen Sie, bitte, hinaus, damit sie uns Licht bringt.«

Er tat nach ihrem Geheiß, und die ehemalige Dienerin kam mit einer Lampe, die sie auf die Tischplatte stellte. Dann ließ sie die Rolläden herab und zog die Vorhänge vor.

Kein Wort wurde gesprochen, erst als sie das Zimmer verlassen wollte, sagte die Herrin: »Siehst du, Anna, jetzt hast du richtig deinen Willen, und wenn der Herr Professor uns das Bild zeigen will, das er dir mitgebracht hat – –«

Er sprang auf und löste die halbmannshohe Leinwand aus ihren Hüllen.

Die einstige Kinderfrau stieß einen Freudenschrei aus, sie aber sagte nach längerem Betrachten: »Ich habe alle Ursache, dich zu beneiden, Anna. Und doch ist etwas Fremdes darin. Das kommt daher: Sie haben mich nur im Hute gesehen und kennen meine Kopfform nicht. Willst du mir helfen, Anna?«

Damit überließ sie sich der Dienerin, die ihr den Pelz auszog, den Schleier löste und das Barett aus den Haaren hob.

Nun stand sie fast überschlank in dem dunklen, enganschließenden Kleide, und der Hals ragte wie ein Blütenstengel aus dem weißumsäumenden Kragen. Die braunen Flechten wellten sich klytienhaft und umrahmten in engem Oval das strenggeschnittene Gesicht, in dem nur zwei weiche, traurige Augen sprachen und lächelten.

Die Dienerin verschwand, und sie stand immer noch reglos da, als wolle sie ihm Zeit geben, ihr Bild für immer in sich einzugraben.

Dann plötzlich – mit einer zuckenden, zitternden Geste – bot sie ihm beide Hände dar, zog ihn leise an sich heran und flüsterte, zu seinem Ohre geneigt: »Ich habe Sie lieb, mein Freund!«

Aufjauchzend schloß er sie in seine Arme. Sie ließ es willig geschehen, doch als er sie küssen wollte, bog sie das Antlitz zur Seite.

»Setzen wir uns still nebeneinander,« sagte sie, sich zum Sofa zurückwendend. »So! Lassen Sie meinen Kopf an Ihrer Schulter ruhen. Und nun wollen wir besprechen, was geschehen wird. Denn Sie müssen wissen: wir sehen uns heute zum letztenmal.«

»Um Gottes willen,« schrie er auf, »du, Frau, deren Namen ich nicht kenne, willst du mich ewig zum Narren halten?«

»Nicht, nicht,« wehrte sie. »Nicht so toben! Lassen Sie uns in Ruhe die Stunde auskosten, die einzige, die wir auf Erden füreinander haben … Viele Nächte lang hab' ich mir überlegt, was ich Ihnen heute sagen werde.«

»Liebe, Geliebte, wenn ich – – –«

»Still, still! Lassen Sie mich reden! Alles muß ausgesprochen sein – was uns verbindet und was uns trennt … Daß ich nicht glücklich bin, das haben Sie wohl schon gefühlt, denn sonst wär' ich gewiß nicht hier … aber auch für uns beide gibt es kein Glück … nein, nein, nicht auffahren! Mir zuhören! Ganz ruhig! … Sie haben mir gesagt, ich sei schön. Das haben im Leben viele getan. Manche haben mich darum geliebt, und manche haben sich achselzuckend von mir gewandt … ›Bild ohne Gnade‹ und was man so sagt. Als ob Schönheit zum Wiederlieben verpflichte … Geliebt habe ich eigentlich nur meinen Mann. Aber der hat mich beiseite geschoben. Ich sei verblüht, meinte er … Nein, nein, entrüsten Sie sich nicht. So wird's wohl auch sein. Er kann mich ja mit all den jungen Dingern vergleichen, an denen er sich schadlos hält. Und Ihnen, mein Freund, würde es nicht anders gehen. Ohne Spuren bleibt keine Mutterschaft. Sie sind aber durch Ihren Beruf an das Allerschönste gewöhnt – weit mehr noch als mein jagdfroher Mann … Unabänderlich müßte die Stunde kommen, in der Sie mich mit Nachsicht oder gar Mitleid betrachteten, wenn Sie nicht vorzögen, mich gar nicht mehr zu betrachten. Und diese Stunde soll niemals kommen. Das habe ich mir zugeschworen, und das schwöre ich auch Ihnen.«

Er riß sie an sich, er stammelte empörte und verzückte Worte, er küßte sie auch auf den Mund, aber der lag kalt und verschlossen auf dem seinen.

»Hören Sie mir weiter zu,« sagte sie, »ich bin noch nicht fertig. Ich habe inzwischen auch Ihre Frau gesehen. Mit Ihnen zusammen im Tristan. Ich saß im Proszenium und drückte mich gegen die Seitenwand, so daß Sie mich nicht erkennen konnten … Oh, sie ist reizend … ich hätte sie so gerne küssen mögen … Aber Sie waren nicht überaus nett zu ihr … so etwa wie mein Mann zu mir ist … Und sie ist doch noch nicht verblüht … Aber, mein Freund – und dies ist der eigentliche Sinn dessen, was ich Ihnen sage – das Schwerste in Ihrer Ehe steht noch bevor … Es wird die Zeit kommen, da man sie nicht mehr reizend finden wird. Und Sie am allerwenigsten … Vielleicht ist diese Zeit schon nah, vielleicht läßt sie noch ein Jahrzehnt auf sich warten. Aber kommen wird sie gewiß. Und dann wird sich zu bewähren haben, ob Sie wissen, was Sie ihr schuldig sind … Nicht durch körperliche Treue. Die verlange ich nicht einmal von meinem Manne. Selbst eine gelegentliche Leidenschaft zieht spurlos vorüber … Aber zuerst einmal: durch den Zartsinn einer sorgsamen Lüge. Und was noch wichtiger ist: durch das seelische Zusammenwachsen mit ihr. Denn das ist nun einmal das Höchste, was Mann und Weib einander zu bieten haben. Und nur auf dieser Basis ist ein schließliches Glück zu ermöglichen … Ich habe das meine verloren, doch Sie sollen es haben, mein Freund. Darum denken Sie immer an diese Stunde. Aber schreiben Sie mir nie mehr. Meine Anna wird heute den Auftrag bekommen, mir nichts mehr abzuliefern. Sie würden nur Monologe halten. Und das lohnt sich doch nicht.«

»Und was aus mir werden soll, das schert Sie gar nicht?« schrie er auf.

»Aus Ihnen braucht Gott sei Dank nichts weiter zu werden, als was geworden ist. Ich will damit nicht sagen, daß Sie schon im Zenit Ihres Daseins angelangt sind, denn dann wäre der Abstieg nicht fern. Aber leben Sie so weiter, wie Sie jetzt leben, verwöhnt, bewundert, beneidet – dabei als Arbeiter unermüdlich – dann werden Sie sich allmählich dessen bewußt werden, daß Sie begnadet sind vor Tausenden – auch in Ihren Lebensschicksalen, mögen Sie von ihnen noch so kraus herumgewirbelt sein.«

Er schlug ein Hohngelächter auf.

»Begnadet? Sie sprechen mit einem Zerbrochenen, den Sie vielleicht hätten leimen können. Aber Sie wollen ja nicht. Wollen lieber die geheimnisvolle Fremde weiterspielen, die sich für einen Augenblick zu einem Künstlerdasein herabläßt, und dann wieder verschwinden, nachdem Sie mich um meine einzige Hoffnung betrogen haben.«

Erzitternd löste sie die Hände, die er umklammert hielt, und starrte schweigend in die Lampenflamme.

Eine Wirrnis von Zweifeln und Entschlüssen, von Selbstflucht und Sichwiederfinden, von Glücksbegehr und Leidumfangensein brach aus dem Leuchten der weit geöffneten Augen, die jetzt mehr denn je von geheimnisvoller, fast überirdischer Schönheit waren.

›Wenn du sie so festhalten könntest!‹ dachte er, und in seinen Fingern zuckte es nach Pinsel und Palette.

Doch da war das Bild auch schon erloschen.

Sich jäh zusammenraffend, stand sie auf.

»Es wird Zeit, daß wir uns trennen,« sagte sie. »Wenn ich mir schmeicheln durfte, eine kleine Mission in Ihrem Leben zu besitzen, so ist sie jetzt erfüllt … Ich werde aus meinem stillen Winkel heraus Ihre Laufbahn weiter verfolgen, Jahr um Jahr. Ich werde teilnehmen an jedem Ihrer Triumphe, und wenn sich Feindschaft hervorwagen sollte, werde ich die Zähne zusammenbeißen … Ich werde – aber genug davon … Recken wir diese Stunde nicht über ihr Maß hinaus! Sie hat mir mehr gegeben, als ich hoffte.«

»Und mir hat sie mehr genommen, als ich – als ich – –«

Er knirschte in seine geschlossenen Fäuste hinein.

Dann fühlte er ihre Lippen leise auf seiner Stirn.

»Bringen Sie diesen Kuß von mir Ihrer lieben Frau,« hörte er noch einmal ihre Stimme. »Bald werden Sie mir dankbar sein, daß ich Sie freigegeben habe.«

Nun stand er draußen und starrte die Tür an, die sich hinter ihm geschlossen hatte, er wußte selbst nicht wie.

Sie wieder aufzureißen, fand er nicht den Mut.

Und er wollte auch nicht. Er fühlte: dies war zu Ende.


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