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Vierundzwanzigstes Kapitel

Ohne Prunk und ohne Huldigungen zog Brigitte wieder ins Haus. Keine Ehrenpforten waren ihr errichtet, und keine Schar jubilierender Freunde empfing sie auf der Schwelle. Nur ein von Tannen umranktes »Willkommen« hing bescheiden über der Tür, und Frühlingssträuße standen zum Gruße da, soeben aus Neuheide gekommen.

Ein wenig fremd geworden drängten sich die Hausleute im Korridor zusammen, die Tränlein flossen wohl nur aus pflichtschuldiger Rührung, aber schon leuchteten die Gesichter in wiedererwachender Liebe.

Ach, wie glücklich sie war! Nein wirklich, kein Mensch auf Erden konnte sich freuen wie sie, und keiner verstand so gut, es den andern zu zeigen, so daß sie davon angesteckt wurden, ob sie wollten, ob nicht.

Die Tuschkastenfarben blühten wie je, und sogar etwas schlanker war sie geworden.

Beengt und befangen schritt Steffen neben ihr her, und doch war ihm leichter zumut als seit undenklichen Zeiten. Ein dummes Gefühl sagte ihm, daß er bei ihr Trost und Beruhigung finden würde, bei ihr, der letzten auf Erden, die etwas erfahren oder nur ahnen durfte.

Also: Susi gehe es besser; so gut gehe es ihr, daß sie sie ohne Bedenken habe allein lassen können. Anfangs sei sie in rechter Sorge um sie gewesen. Nicht so sehr um des Herzens willen, das ja schon wieder gekräftigt sei, als vielmehr wegen ihres seelischen Zustands. Sie habe immerzu ins Leere gestarrt, und ein Schmerzenszug sei in ihrem Gesichte zu finden gewesen, als hätte das Leben ihr ein schweres Leid angetan. Einsiedlerisch sei sie ja von Natur aus geartet, aber jetzt habe es doppelter Künste bedurft, um sie in die Gesellschaftsräume zu locken und sie dahin zu bringen, daß sie sich ein paar unschuldige Hofmachereien freundlich gefallen ließ.

Er sagte herablassend: »Na, Gott sei Dank.« Aber ein bitteres Gefühl zog ihm die Kehle zusammen.

»Wirklich heiter aber ist sie erst geworden,« fuhr Brigitte fort, »seit sie mit dem jungen Russen in Briefwechsel stand, demselben, der sie im Herbst in Neuheide besucht hat, du besinnst dich ja wohl?«

Er sagte: Jawohl, er besinne sich gut, und zugleich machte sein Herz einen Sprung, so daß er schwachwerdend gegen die Tür zurücksank.

»Ich denke, der wollte in seiner Heimat eine Kapellmeisterstelle antreten,« fuhr er, sich aufraffend, fort, »und dann hat er nichts mehr von sich hören lassen. Wenigstens sagte sie's mir.«

»Und so ist es auch gewesen,« bestätigte Brigitte, die glücklicherweise von seiner Erregung nichts merkte, »bis plötzlich wieder ein Brief ankam, den du selber ihr nachgeschickt hast. Jene Stelle hat er wohl auch bekommen, aber die Tretmühlenarbeit ist nicht nach seinem Sinne gewesen, und darum ist er nach einem halben Jahre wieder zurückgekehrt. Durch Stundengeben hat er sich sogar so viel erspart, daß er jetzt zu seiner Erholung nach der Schweiz fahren kann, und dabei wird er sie möglicherweise besuchen.«

In ihm schrie es: ›Er will gar nicht nach der Schweiz, er will nur zu ihr!‹ Umso ruhiger sagte er: »Du sprichst mit so viel Anteilnahme von dem jungen Mann, daß ich fast glaube, du würdest eine Verbindung zwischen Susi und ihm gar nicht so ungern sehen.«

Brigitte lachte ihr altes weltfrohes Lachen. »An so was denke ich vorläufig nicht,« sagte sie. »Ich will nur, daß das Kind aus seinem selbstmörderischen Übereifer heraus und auf andere Gedanken kommt. Wenn ihr eine kleine – oder meinetwegen auch große – Liebe dazu verhilft, soll es mir recht sein. Du brauchst gar kein so entsetztes Gesicht zu machen. Schließlich haben wir Eltern doch bloß das Nachsehen.«

»Ich würde mich mit einer solchen Rolle nicht begnügen,« erwiderte er, bemüht, das Zittern zu verbergen, dem er sich jetzt so häufig verfallen sah. »Wenn mir auch, da ich ihr wirklicher Vater nicht bin, keinerlei Bestimmungsrecht zusteht, so werde ich doch alles aufbieten, damit ich sie vor einem Wahnsinn, wie solch eine Heirat es wäre, noch beizeiten behüten kann.«

»Susi sagt, er habe eine Zukunft,« meinte nachsinnend Brigitte.

»Und wenn er ein junger Beethoven wäre,« rief er fast schreiend, »erst muß er es der Welt bewiesen haben. Ich bin auch einmal jung gewesen, ich hab' auch einmal nichts besessen als mein bißchen fanatische Zuversicht, aber glaubst du, ich hätte gewagt, ein anderes junges Menschenleben in mein Schicksal hineinzuziehen? Man wird ja sehen, ob hier nicht ein neunmal Gesiebter auf die Tochter des berühmten Mannes spekuliert, weil er annimmt, daß der sie ohne Mitgift nicht aus dem Hause ziehen lassen wird.«

»Sei doch gut! Sei doch gut!« bat Brigitte. »Du schlägst dich ja mit Gespenstern herum. Bisher ist nicht das leiseste Anzeichen da, daß die beiden sich fürs Leben zusammentun wollen … Eine Jugendfreundschaft wahrscheinlich, wie viele … Und wenn sie Susi ein wenig herausreißt, so kannst auch du sie nur segnen.«

Dagegen ließ sich nichts sagen, und das Gespräch war beendet.

Aber in ihm wühlte die Angst ärger und ärger.

Jetzt kommt er an – jetzt fragt er nach ihr – jetzt eilt sie ihm entgegen – – und dann? Was dann? … In der Heilanstalt wird er nicht wohnen – schon um nicht Aufsehen zu machen – und dazu reichen auch seine Mittel wohl kaum – aber in der Nähe wird er sich einnisten. Dann hat er's noch bequemer, um sie zu sein … Sie braucht nur aus dem Tore zu gehen, und dann sind sie schon beide zusammen … Lange Spaziergänge werden sie machen und Ruderfahrten auf dem einsamen See … noch sind die Abende dunkel – und wenn sie dann – wenn sie dann – –

Zum Wahnsinnigwerden, das alles! Das Hirn an der Wand zu zerschellen!

Wenn man nur schlafen könnte, nur schlafen könnte!

Denn jetzt half auch der Revolver nichts mehr.

Gewißheit mußte man haben! Auf alle Fälle mußte man das, um den beiden Schuldigen hinter die Schliche zu kommen.

Wie nur? Wie nur um Gottes willen?

Mademoiselle als Aufpasserin hinterherzuschicken, das wäre Brigitte verwunderlich erschienen, und sie hätte auch schwerlich darein gewilligt.

Aber halt! Das war's: In den Zeitungen boten Privatdetektive sich aus. Tagtäglich konnte man lesen: »Beobachtungen und Ermittlungen bei Ehescheidungen und dergleichen.«

Um eine Ehescheidung handelte es sich nun gerade nicht, es fiel also unter die Rubrik »dergleichen«.

Nicht zaudern! Was die Lage verlangte, mußte auf der Stelle geschehen.

Los! – –

Ein muffiger Hausflur. Ein Zimmer wie aus Großmütterchens Erbschaft. Ovale Typbilder mit silbrigen Schattenfiguren. »Plüschfotölchs« und ein Goldfischbassin …

»Sie wünschen?«

Militärisch hingeschleudert aus einem kupfrigen Schnauzbartgesicht, mit argwöhnisch blinzelnden Äuglein. Der ehemalige Kriminalkommissar, wie die Phantasie des Verbrechers ihn sich ausmalen mag.

Und eine Art von Verbrecher war ja auch er. Darum erklärte er nach Darlegung des Falles, seinen Namen verschweigen zu müssen, wie auch den Namen der jungen Dame, die seinem Schutze anvertraut wäre.

»Familienrücksichten – Sie verstehen!«

Oh, er verstand sofort. Wer der Auftraggeber sei, darauf komme es gar nicht an, nur müsse der Vorschuß dementsprechend bemessen werden.

Und als auch diese Kostspieligkeit »dementsprechend« geregelt war, kam die nähere Ausgestaltung des Planes an die Reihe.

Der Herr Kommissar hatte zwar im Augenblick einiges sehr Dringende vor, da aber die Delikatheit der Aufgabe eine hervorragende Kraft verlange, so werde er keinen seiner vielen Agenten damit betrauen, sondern alles andere hintanstellen und in eigener Person die Reise nach Konstanz antreten, das als Zentralstelle künftiger Nachforschungen insbesondere geeignet sei. Die hiesige Wohnung des Betreffenden werde er noch heute erfahren haben und dann sofort unter Beobachtung nehmen. Im übrigen könne der Herr gewiß sein, vorzüglich bedient zu werden. Die eingehend abgefaßten Bulletins werde er entweder postlagernd unter verabredeter Chiffre oder auch in dieser Wohnung – ganz nach Belieben – tagtäglich vorfinden.

Steffen wählte die Wohnung, und das hochnotpeinliche Verfahren konnte beginnen.

Erster Tag: Herr Sokolow noch hier ortsanwesend, jedoch mit dringenden Reisevorbereitungen beschäftigt, darum eventuell Änderung des Grundplanes.

Zweiter Tag: Herr Sokolow begibt sich auf die Reise. Ziel: Lindau am Bodensee. Wird vom Nebencoupé aus andauernd beobachtet.

Dritter Tag: Nichts.

Vierter Tag: Nichts.

Fünfter Tag: Herr Sokolow von Lindau aus per Schiff weitergereist. Steht unter sorgfältiger Beobachtung.

Sechster Tag: Herr Sokolow hat sich bei Landung durch raffiniertes Manöver der Beobachtung entzogen. Mehrere schweizerische Agenten bereits auf der Suche. Baldige Entdeckung ganz außer Zweifel.

Siebenter Tag: Herr Sokolow dank der ausgezeichneten kriminalistischen Methode des Beobachters wiedergefunden. Wohnt im »Goldenen Lamm« zu Konstanz. Besucht naheliegende Heilanstalt. Ihn bis hinein zu verfolgen, aus technischen Gründen vorerst unmöglich. Aber Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Achter Tag: Herr Sokolow trifft vor Inselhotel blonde junge Dame und macht zweistündigen Spaziergang mit ihr.

Neunter Tag: Herr Sokolow macht vormittags und nachmittags Spaziergang mit der gleichen jungen Dame. Ermittelt als Fräulein Susanne Senius. Patientin der Heilanstalt. Zwanzig Jahre. Stieftochter des bekannten Malers Professor Tromholt aus Berlin. Seit acht Wochen hier, vorerst mit ihrer Mutter, jetzt allein.

Zehnter Tag: Herr Sokolow macht Dampferfahrt mit der gleichen jungen Dame. Ziel: Stein am Rhein. Rückfahrt am selbigen Nachmittag. Verkehrsart freundschaftlich, doch ohne sichtbare Intimitäten.

So weit waren die Berichte gediehen, die Steffen an jedem Tage – die ersten in atemloser Erwartung, die folgenden in gallenbitterem Triumphe – aus der Wohnung des ehemaligen Kriminalkommissars abgeholt hatte, da ereignete es sich, daß Brigitte, einen geöffneten Brief in der Hand, mit etwas unsicherem Lächeln zu ihm sagte: »Denke dir, Susi schreibt mir eben ganz beglückt, ihr Freund ist nicht bloß zu einem kurzen Besuche bei ihr gewesen, sondern will einen Teil seiner Erholungszeit mit ihr verleben. Sie sehen sich täglich, und morgen wollen sie sogar einen gemeinsamen Ausflug unternehmen, falls der Doktor seine Einwilligung gibt.«

In diesem Augenblick verlor Steffen den letzten Rest seiner gesunden Vernunft. ›Triumph! Triumph!‹ schrie es in ihm, und je wilder die Wut ihn durchschüttelte, mit umso kühlerer Trockenheit fühlte er sich gewappnet.

»Diese Einwilligung muß der Doktor wohl gegeben haben,« erwiderte er, »denn der Ausflug, von dem du sprichst, hat in der Tat stattgefunden.«

Und als er Brigittens Auge größer und größer werden sah, fügte er in lächelndem Hohne hinzu: »Falls dich Näheres interessiert, sie waren per Dampfer in Stein am Rhein und sind auch glücklich wieder zurückgekehrt.«

»Woher – weißt du – das alles?«

»Sehr einfach! Ich lasse das Paar beobachten.«

»Du läßt – –? Durch wen denn? Wer gibt sich zu so etwas her?«

»Ich habe dem jungen Herrn einen Detektiv hinterdreingeschickt. Das ist doch alles sehr einfach.«

»Detektiv?« Sie lachte hell auf. »Ach geh! Gibt es das überhaupt? Ich denke, das kommt nur in schlechten Romanen vor.«

»Dann bist du jetzt eben eines Besseren belehrt.«

»Aber warum tust du das? Warum bloß?«

Er hatte während langer Jahre Brigittens Gesicht in allen Graden des Staunens sich weiten und starren sehen, aber ein so fassungsloses Bestürztsein war ihm bis heute noch niemals begegnet.

Und da brach er los: »Warum ich das tue? Weil ich mich nicht dumm machen lassen will … Weil ich das Kind nicht vor die Hunde gehen lassen will … Weil ich ihr Schicksal in meinen Händen behalten will … Ich lasse nicht mit mir spielen! … Ich lasse nicht auf mir herumtrampeln! … Wenigstens klar will ich sehen … Stoppen will ich, solang ich noch Kraft dazu habe! Dann mag werden, was will! Ich wasch' meine Hände in Unschuld.«

Versteinert, entgeistert stand sie da. Dann kam's wie ein Notschrei aus ihrem Munde: »Um Gottes willen, Steffen, du bist ja krank.« Mit irrem Blick suchte er in der Runde umher, als müsse ihm von irgendwoher Hilfe und Rechtfertigung kommen.

»Warum soll ich krank sein? Wenn du das Kind sich wegwerfen läßt, scheint dir das etwa gesünder?«

Sie beachtete den kränkenden Angriff gar nicht. Mit leisen, beruhigenden Worten sprach sie auf ihn ein und erzählte noch mehr von Susis schüchtern erblühender Heiterkeit – schon die erschien ihm als Demütigung – wie auch von ihrem Wunsche, aus überheiztem Künstlerdrang zu seelischem Gleichgewicht zurückzugedeihen.

»Und dazu, glaubst du, wird dieser genialisch aufgeplusterte Musikant sehr förderlich sein?«

»Er wird ihr helfen, sich in dem gewählten Berufe zurechtzufinden, so daß sie künftig vor den Grenzen ihrer Kraft haltmachen kann.«

Und dann ihn mitleidig anlächelnd: »Vorerst aber möchte ich dir raten, deinem Mann eine Depesche zu senden, damit er so rasch wie möglich seine Beobachtungen einstellt. Die kosten bloß Geld, und was er dir erzählt, werden wir bequemer durch Susi selber erfahren.«

Von Beschämung zerprügelt schlich er zum Telegraphenamt.

Überall stand als Menetekel geschrieben: »Verloren, verloren für immer.«

In dieser Nacht waren wieder einmal alle Höllengeister gegen ihn losgelassen. Er wand sich in Qual und in Krämpfen und erstickte fast unter dem Knäuel des Bettuches, mit dem er sich, um vor Brigittens Ohren gesichert zu sein, den Mund vollgestopft hatte.

Aber hörte sie ihn doch, oder erriet sie, was in ihm vorging, – wie schon manch liebes Mal in höchster Not stand sie auch heute plötzlich vor seinem Bette.

Ihre Hand tastete nach der seinen und zog ihn zu sich heran.

»Komm!« sagte sie. Mehr nicht. Aber das eine lockende Wort genügte, um jede Gegenwehr zu zerbrechen. Gehorsam folgte er ihr in ihr Zimmer, und als er, umfangen von ihrem Arm, den Kopf gegen ihren Hals gedrückt, in der wohligen Wärme ihres Leibes geborgen dalag, dachte er mit einem Seufzer wiederkehrenden Friedens: ›Hier liegt es sich besser als auf dem Revolver.‹

Und allgemach kam auch der Schlaf. Nicht jenes dumpfe zuckende, dem Morphiumdusel gleiche Betäubtsein, aus dem man in jeder Minute schreckhaft emporfährt, nein, die weiche, notstillende, gliederlösende Wonne des Ausruhens, deren Geheimnis nur Brigitte kannte und die sie allein zu schenken verstand.

Als er am Spätmorgen, so wie er sich hingelegt hatte, in ihrem Arme erwachte, sah er sie mit trüben, sorgenden Augen über sich hingeneigt, jeden Zug seines Gesichtes studierend, als wolle sie das Rätsel ergründen, das sich dahinter verbarg.

›Ahnt sie was?‹ …

Noch nicht ein einziges Mal seit ihrer Rückkehr hatte er sich diese Frage vorgelegt, so sicher fühlte er sich in dem Versteck seines Schweigens. Aber seit er ihr den Wahnsinn der Bewachung preisgegeben hatte, war es kaum anders glaublich. Und mochte sie noch so harmlosen Sinnes neben ihm hergehen, allzu frech schlugen die Tatsachen ihr ins Gesicht, als daß sie nicht erkennen mußte, wie's um ihn stand.

Und war's erst so weit, dann drohten Katastrophen, denen auszuweichen unmöglich schien.

Das alles schoß ihm durch den Kopf, während er ihr Angesicht mit den ängstlich forschenden Augen über sich hängen sah.

Aber nein doch, Argwohn lag nicht darin, – nichts als Liebe vielmehr und opfervolle Besorgnis.

Und dann kam sogar noch ein lächelnder Scherz, mit dem sie sein Erwachen begrüßte.

Wahrhaftig, so rein bis in seine letzten Falten war ihr Wesen, daß es darin für den gebotenen Verdacht keinen Platz gab. Eher mochte sie, die Helläugige und Feinhäutige, den Vorwurf, ein Dummchen zu sein, mit in den Kauf nehmen, als auszudenken, was ihr unausdenkbar war.

Oder sollte sie gar so klug, so gefaßt sein, um in sich zu verbergen, was nach Offenbarung und Brandmarkung schrie?

Und diese Frage legte Steffen Tromholt sich in den folgenden Zeiten noch oftmals vor, wenn er ihr linderndes und heilendes Walten an sich verspürte.

Wie einen Schwerkranken behandelte sie ihn – wochen- und wochenlang, umgab ihn mit niemals nachlassender Sorge, spornte seine laschgewordene Arbeitsgier und wiegelte ab, wenn er in plötzlichem Wandel des Guten zuviel tat, regelte seine Spaziergänge und erbot sich sogar, ihn zu begleiten, obwohl sie ihres ihn quälenden Umfanges wegen noch immer nicht gerne an seiner Seite daherging.

Auch Gäste lud sie ihm ein – mehr als ihre Nerven vertrugen – und war glücklich, ihn nach dumpfiger Einsamkeit beredt und behenden Geistes zu finden.

Und waren sie wieder allein, dann lobte sie ihn über die Maßen.

»Nein, wie warst du mal wieder in Form heut! Und wie haben die Frauen nach dir die Hälse gereckt! Und keiner der Männer hat so den Nagel auf den Kopf getroffen wie du! Ach, ich war mal wieder sehr stolz auf dich, Steffen.«

Und lächelte er auch nur ein dünnes und schmerzhaftes Lächeln, geschmeichelt fühlte er sich ja doch, und ihm kam auch etwas wie Mut, das Spiel des Lebens, das fast schon verlorene, noch einmal neu zu beginnen.

Aber gar so leicht war die Heimkehr nicht aus Wahn und Verbiesterung.

Wurden von Susi Briefe erwartet – an Brigitte oder gar an ihn selber – dann rannte er umher, verhetzt und verwildert – gebärdete sich wie ein Verzweifelter, wenn sie nicht kamen – und waren sie endlich da, dann las er die kuriosesten Dinge zwischen den Zeilen, so daß Brigitte nicht nachlassen durfte, die Gespenster zu verscheuchen, mit denen er sich herumschlug.

Und immer weiter wühlte die Eifersucht. Der junge Russe war längst wieder da, das hatte er auch ohne Detektiv leicht in Erfahrung gebracht; und nun umstrich er sein Haus, zwecklos, sinnlos, als ob es den Mann, der ihm seinen Liebling zu rauben drohte, durch bloßes Nahesein unschädlich zu machen gelänge.

Ein Glück war's, ein langes und schmerzlich entbehrtes, daß er all seine Leiden nicht mehr schweigend hinunterzuwürgen brauchte.

Unter dem Deckmantel der Väterlichkeit durfte er reden, reden, reden, soviel er nur wollte. Und fand in Brigitte stets eine Hörerin, die sorglich mit ihm beriet und die ihm selbst bei Meinungsverschiedenheit immer noch wohl tat.

In Susis Briefen fanden sich Anspielungen auf baldige Heimkehr.

Aber nun war er es, der widerstrebte.

Oh, noch lange nicht! Oder gar überhaupt nicht. In München, wo Kurt war, könne sie weiterstudieren. Den beiden Geschwistern einen kleinen Haushalt zu gründen, falle nicht schwer; dort gebe es Buntheit der Tage und schrittweises Vergessen.

Vergessen derweilen vielleicht auch für ihn! Doch das behielt er wohlweislich für sich.

Brigitte, die sich ihm meistens bereitwillig fügte, war diesmal anderer Ansicht.

Gerade heimkommen solle sie – solle an Ort und Stelle auskämpfen, was es für sie etwa zu kämpfen gäbe, um dann befreiten Gemütes ihr Leben weiterzuführen.

Und dabei sah sie ihn nachdenklich an, als meine sie weniger ihr Fleisch und Blut als einen ganz andern, der in Feigheit einem Wiedersehen ausweichen wollte.

So erlahmte sein Widerstand allgemach, und man kam überein, daß Susi zwar nicht jetzt nach Berlin, wo der junge Russe zu nah war, doch dann alsbald heimkehren solle, wenn man zur Sommerruhe sich in Neuheide heimisch gemacht hatte.

Und jetzt in plötzlichem Wandel suchte er die Rückkunft zu beschleunigen.

Möglichst festlich sollte sie vor sich gehen. Die zwei Zimmer, die im Schlosse Susi gehörten, wurden neu austapeziert und mit weißen Lackmöbeln ausgestattet, damit alles jungmädchenhaft heiter ihren Eintritt begrüßte.

Eigens war er voraufgefahren, um die geplanten Überraschungen selbst zu bewachen. Etliche Tage später folgte Brigitte.

Und als die Wirtschaft mit Leuten, Hunden und Koffern angelangt war, als das Lüften, Säubern und Einräumen ein Ende erreicht hatte und das ganze große Haus von Blumen übervoll dastand, wie zu einem Hochzeitsfeste geschmückt, da, ja da konnte sie kommen.

Brigitte war ihr zur Station entgegengefahren, und während die Stunden verflossen, schritt er, sich erinnernd und sich verwundernd, die Wege ab, die er im vorigen Herbste gewandelt war, – allabendlich bis in die Nacht hinein, treppauf, treppab – die mondhellen Korridore entlang – und dann in der Halle rundum, wie ein im Käfig kreisendes Raubtier, von dem Schein der glühenden Öfen in eine purpurne Decke gehüllt.

Noch fühlte er sich tiefverstrickt in das selbstgewobene Netz, aber doch war er ein anderer bereits, der Gefahr und dem Frevel des Blutes nicht mehr verfallen. Auftauchend zum Sonnenlicht aus dem düstern Qualm, in dem er so lange gehaust hatte und in den zurückzustürzen kaum noch möglich war, denn jetzt gab es ja eine Hand, die ihn festhielt.

Und dann schrillten die Glocken, und der Wagen knirschte auf dem Kiesgrund der Auffahrt.

Da sprang sie schon hoch – sein Liebes – sein Holdes, zu dem all seine brachliegende Leidenschaft sich hin verirrt hatte. Und jauchzte ihm zu und flog aus dem Wagen geradeswegs in seine zwei Arme.

»Papa! Lieber Papa! Lieber Papa!«

Und wie er ihr rosigrundes Gesichtchen zurückbog, um ihr in die Augen zu sehen, da fand er ein Lächeln auf ihren Lippen, das von jenem schmerzlichen Erdulden kaum noch Spuren aufwies, das vielmehr in unbefangener Freude zärtlich erblühte.

So war sie nun wieder sein eigen, und alles schien leidlich in Ordnung, hätte sich sein Herz nicht sofort in alter Inbrunst an sie geklammert.

Und dann kam die Halle mit ihren Blumenkuppeln und Blumengirlanden, und Susis Wohnzimmer kam, leuchtend in spiegelnder Weiße. Und wieder Blumen, Blumen, soweit das Auge nur reichte.

Wie im Traume, wie verzaubert ging sie umher, ab und zu ein glückseliges Quietschen ausstoßend, streichelte dies, streichelte das und fiel bald der Mutter, bald ihm in aufquellendem Danke rasch um den Hals.

Beide Eltern hielten sich an der Hand, und er dachte in plötzlichem Widerstreit zu allem Gewesenen: ›Dies Kind sollte ich lieben? Warum denn? Das ist ja ein Kind.‹

Aber das Herzweh, das hoffend und klagend in ihm saß, bewies, daß er sie trotzdem noch liebte – immer noch, immer noch – nur war's, als hätte sich auf den Brand seiner Wunden eine kühlende Salbe gelegt.

Nun folgten Tage gesegneten Nahseins.

Brigitte sah lächelnd dem Wiedereinleben zu.

Kein Abglanz von Argwohn – oder von Forschen nur – barg sich in ihrem Auge. Hätte sie die Innigkeiten, deren Zeugin sie war, tragisch genommen, hätte sie gelauert, gescholten oder gar Katastrophen zusammengerührt, so wäre sein Empfinden auf schlimmeren Wegen als damals dem Abgrunde zugeeilt; nun aber sah er in ihr seinen Halt, seine Hilfe und darüber hinaus den Spiegel jedes drohenden Widersinns.

Noch immer war er sich nicht drüber klar, ob sie so harmlos, so unbeirrbar in ihrem Reinheitsbedürfnis dahinlebte, daß eine Schuld ihr unmöglich schien, oder ob die Klugheit ihres Herzens ihr eingab, wozu ein Verstand niemals fähig gewesen wäre.

Und wie es um Susi stand, war ihm genau so ein Rätsel. Ihre Seele neigte sich ihm zu, ihr Körper schmiegte sich ihm an wie je, die bitterseligen Zeiten des Winters schienen wiederkehren zu wollen, aber auch das wehe Lächeln kehrte zurück und ein Seitwärtsirren des Blicks ins Ferne, ins Leere hinaus, als steckte ein Fluchtgedanke dahinter.

Und Briefe bekam sie, um deren Ursprung er augenscheinlich nicht wissen durfte. Die Post wurde allvormittäglich im Amtshause abgegeben und dort gesichtet und abgeteilt. Was der Herrschaft gehörte, gelangte gleich drauf durch Boten ins Schloß.

Susi machte sich um diese Stunde zumeist auf dem Hofe zu schaffen, fing den Burschen ab, der Briefe und Zeitungen brachte, und war hernach für etliche Zeit nicht mehr zu finden. Genau so, wie er einst getan hatte, als – – doch weg mit solchem Erinnern!

Bisher war alles unausgesprochen geblieben. In diesem Schweige- und Schwebezustand lag die einzige Bürgschaft für die Möglichkeit gemeinsamen Lebens. Jetzt aber, da die Eifersucht mit jähem Tatzenschlag noch einmal auf ihn herabfiel, war er unhaltbar geworden. Man verblutete dran!

»Du, sag mal, warum treibst du dich, wenn der Postbote kommt, immer auf dem Hofe herum? Unsere Briefe werden uns ja zugetragen. Kannst du die deinen nicht erwarten, oder hältst du sie vor uns geheim?«

Flammenröte. Stammeln. Gesenkte Lider.

Also ertappt!

Und dann mit offenherzigem Aufblick, aus kurzem Entschlusse heraus: »Papa, ich habe mit dir zu sprechen.«

Sein Herz sprang hoch.

Dies war die Entscheidung, das wußte er sofort.

»Bitte, mein Kind.«

»Aber nicht hier, Papa, irgendwo, wo keiner uns hört.«

»Ich werde anspannen lassen, wir fahren zum See.«

»Wie du bestimmst, Papa.«

Und nun schaukelten sie im Boote, draußen auf der silberschuppigen Fläche. Alles war Licht, und alles war Stille, nur die Rohrspatzen lärmten noch ein wenig in dem sich neigenden Schilfe.

Er ruderte wie gehetzt der Seemitte entgegen, und eine Stimme rief ihm zu: ›Dies ist die Stunde, da dir dein Liebstes genommen wird.‹

Sie saß zusammengekauert vor ihm auf dem Steuersitz, die Lippen ineinandergekniffen, die Blicke auf seine Stiefelspitzen gerichtet.

Er zog die Ruder ein und beugte sich nach ihr vor.

»So, nun sprich.«

»Ja, also Papa, ich glaube, es ist das beste, daß ich gar keine Umschweife mache. Ich werde mich verheiraten.«

»Du wirst dich verheiraten? Ohne zu fragen, ohne dir raten zu lassen? Warum reden wir denn noch?«

»Lieber Papa, du mußt das, was ich sage, nicht als lieblos und unkindlich auffassen. Aber raten kann man sich in solch einem Falle wohl nur allein, besonders wenn man fürchten muß, grundsätzlichem Widerstand zu begegnen.«

»Woher weißt du das?«

»Oh, das fühlt man.«

»Wer ist es?«

»Ach, du weißt ja, wer es ist.«

»Der junge Russe, der im Herbste hier draußen war?«

»Natürlich, ich kenne ja niemanden sonst.«

»Du kennst junge Männer genug und manchen darunter, der ganz anders für dein Glück in Betracht käme als – –. Aber vielleicht läßt du dich herab, mir einiges Nähere mitzuteilen.«

Sie griff nach seinen Händen.

»Nicht so, Papa! Bitte, bitte, nicht so!«

Er fühlte den Jammer heiß in sich hochsteigen. ›Nicht weich werden!‹ mahnte er sich. ›Nichts merken lassen! Eher verrecken, als sich was merken lassen!‹

»Sieh mal, Papa, mit meinem Studium wird es doch nichts Rechtes. Entweder bin ich zu unbegabt, oder meine körperliche Kraft reicht nicht zu. Und nur so herumsitzen, das halt' ich nicht aus. Darum würde meines Bleibens im Elternhause doch nicht lange mehr sein.«

»Was fehlt dir im Elternhause? Willst du dir etwa einreden, daß – du bloß so – geduldet bist?«

Sie antwortete nicht, aber um ihre Lippen tanzte das süß-wehe Lächeln, das er von alters her kannte, und dieses Lächeln schien ihm Antwort genug.

›Flucht!‹ schrie es in ihm. ›So habe ich sie also richtig in die Fremde gejagt.‹

Aber ihre nächsten Worte schienen dazu angetan, ihn wieder ruhiger zu stimmen.

»Oh, was das belangt, Papa, ich habe es viel zu gut im Elternhaus. Ihr verwöhnt mich ja weit mehr als Atta, und sie wäre doch die nächste dazu … Aber – aber –«

Und nun stockte sie doch.

Sogleich flackerte die Angst neu in ihm auf.

›Jetzt wird sie es sagen,‹ dachte er; ›mir blank ins Gesicht.‹

»Aber?« fragte er, und seine Stimme war ebenso zittrig, wie die Glieder ihm zitterten.

Sie riß sich sichtlich zusammen, und dann kam's wie aus der Pistole geschossen: »Mein Leben muß einen Zweck haben. Mein Leben muß ein Ziel haben … Kampf muß sein im Leben … Schicksal muß sein im Leben … Und hat man kein eigenes, dann muß man das eines anderen teilen … Kann man nicht aus eigener Kraft in die Höhe, dann muß man sich mit hochreißen lassen, von einem, dem Flügel gewachsen sind.«

»Und du glaubst, dein Freund hat solche Flügel?«

Sie nickte triumphierend, während ein ekstatisches Leuchten aus ihrem Auge brach. Das war dieselbe Flamme, die darin erglommen war, als an jenem Herbsttage ihr Freund sie verlassen hatte, während er selbst in Neid und Gram sich verzehrte.

Sie waren beide noch da, der Neid und der Gram, aber über sie hinaus wuchs die herzerleichternde Freude, sie nicht aus dem Hause getrieben zu haben. Wenn sie nicht log, dann liebte sie jenen, hatte ihn immer geliebt – und von seinen eigenen Nöten war kaum ein Schatten über sie hingefegt.

Oder reichte sein Ahnen nicht aus, sich in dem Wirrsal zurechtzufinden, aus dem die arme junge Seele zu Freiheit und Ordnung emporklomm?

Wie dem auch sein mochte, jetzt galt es jede Rücksicht auf das, was immer noch in ihm wucherte, zu ersticken und dem irrenden Kinde Berater und Schützer zu sein. Zugleich kam eine Ruhe über ihn, die er sich niemals zugetraut hätte.

»Vielleicht willst du mir nun erzählen,« sagte er, »was dein Freund für Zukunftsaussichten hat!«

»Gar keine,« erwiderte sie mit einem Stolze, als ob die Schätze Indiens ihr schon zu Füßen lägen. »Er hat mir erklärt, daß er weder von dir noch von seinen Eltern etwas annehmen wird. Das Geld für unsere Überfahrt nach New York hat er, das ist alles.«

»Und daraufhin willst du heiraten?«

»Er sagt, er brauche nur den richtigen Boden, und alles wächst dann von selber.«

»Was du tust, ist Wahnsinn, Kind!«

»Wahnsinn ist manches, Papa.«

Er schrak zusammen. Ihr Blick war klar, ein Vorwurf gegen ihn lag nicht darin, aber was sonst konnte es sein, worauf sie zielte?

»Weiß Mama darum?« Mit dieser Frage schob er die andere – gefährlichere – beiseite.

Sie verneinte. »Zuerst hab' ich mit dir reden wollen, weil du ja doch Familienoberhaupt bist.«

Er lachte grell auf. ›Familienoberhaupt! Ein nettes Familienoberhaupt!‹

Und dann erwiderte er: »Die Dinge liegen so, daß ich in Wahrheit gar nichts zu sagen habe … Dein Vormund bin ich nicht, und selbst, wenn ich es wäre, hätte mein Recht bald ein Ende, denn du bist ja demnächst einundzwanzig … In meiner Stellung als Stiefvater komme ich überhaupt nicht in Betracht … Wenn du aber irgend einen Wert auf meine Ansicht legst: Eher würde ich mir die Zunge ausschneiden, als daß ich hierzu meine Einwilligung gäbe.«

Sie sank mutlos in sich zusammen, aber auf Stirn und Lippen stand geschrieben, daß an ihrem Entschlusse nichts mehr zu ändern war.

Schweigend ruderte er sie zum Ufer hin.

Und schweigend war auch der Heimweg.

Erst als sie die Stufen zum Haustor hinanschritten, sagte er: »Wir werden uns später sehr fremd werden, Kind, aber versprich mir, daß, solange wir auf Erden noch beieinander sind, sich in deinem Verkehr mit mir und deinen Gefühlen für mich nichts ändern wird.«

Statt der Antwort schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn, als wäre es noch alles wie einst.

Er legte ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, und als nähme er jetzt schon Abschied für immer, vergrub er seinen Blick in dem ihren. Dann sagte er: »Jetzt geh zu Mammi, damit auch sie weiß, wie's um dich steht.«

Damit wandte er ihr den Rücken und schloß sich in den Atelierzimmern ein.

Was nun? Auf dem Schreibtisch lag der Revolver. Wäre ihm dies im Winter geschehen, er hätte sich ohne Zweifel eine Kugel in die Schläfe gejagt. Jetzt wog er ihn nur in der Hand und warf ihn höhnisch lachend beiseite.

Aus! Nichts übrig mehr als die Gespenster eines zuchtlosen Irrwahns – und das Verwundern darüber, daß man in diesem Absturz nicht zugrunde ging.

Das Gong rief zum Essen. Er wollte es überhören und verkroch sich im hintersten Winkel. Nur keinem begegnen!

Aber da war auch schon Brigittens vertrautes Pochen an der gepolsterten Tür, das sich zu allen Zeiten ein Öffnen erzwang.

»Komm,« sagte sie, seine Handgelenke leise umfassend. »Es ist besser, wir sehen den Dingen ins Auge, als daß wir – –. Ich weiß, ich weiß, mein Steffichen, es tut sehr weh.«

Und was jetzt in ihrem Blicke sich malte, war Mitleid – weiß Gott – das war Mitleid, obwohl sie ja von Rechts wegen weit mehr zu leiden hatte als er.

Da kam ihm zum Bewußtsein, daß er nur ihr seine Rettung verdankte. Ja, ihr und tausendmal ihr!

Kein Bekenntnis war abgelegt, kein Vorwurf auf ihn eingedrungen, kein Wort des Verstehens oder Mißverstehens hatte das Schamtuch von seiner Seele hochgehoben; nichts war gewesen als Glaube an Reinheit aus eigenster Reinheit heraus und über allem der Segen ihrer Nähe, vor dem kein Dämon standhielt. – –

Zwei Monate vergingen bis zu dem Tage, für den Hochzeit und Abfahrt angesetzt waren.

Ob Brigitte sich auch mit dem Unabwendbaren versöhnte, so änderte Steffen doch nichts an dem, was er gesagt und beschlossen hatte, und wer ihn kannte, machte keinen Versuch, die Einwilligung von ihm zu erbetteln. Da der Bräutigam nicht daran dachte, sich dem Hause zu nähern, so blieb ein Begegnen beiden Teilen erspart. Und daß die Hochzeit ohne den Brautvater gefeiert werden würde, verstand sich von selbst.

In Hamburg sollte sie stattfinden, wenige Stunden bevor der Dampfer in See stach.

Brigitte saß mitten in Ausstattungssorgen. Mehr als ein paar Koffer mit Kleidern und Wäsche konnte sie ihrem Kinde nicht mit auf den Weg geben, aber auch das verlangte Umsicht und Mühe. Susi ließ mit sich geschehen, was die Mutter nur wollte. Sie fuhr mit ihr nach Berlin, sobald es notwendig war; aber kam sie zurück, dann schien's, als ginge sie das alles nichts an. Ruhelos wanderte sie durch Garten und Hof, oder sie saß in Büchern versunken und machte verstörte Augen, wenn man sie wegrief.

Das Versprechen, das sie Steffen gegeben hatte, hielt sie ganz redlich. Nie mischte sich ein Ton des Vorwurfs – oder des Fremdseins nur – in ihre Worte; manchmal war's, als sei überhaupt nichts geschehen, aber dies Drumrumreden und Totschweigen schuf einen Dunstkreis, in dem Vertrauen nicht mehr gedeihen konnte.

Er seinerseits mühte sich, auszulöschen, was so lange in ihm gebrannt hatte. Nur Sorge um ihre Zukunft sollte noch in ihm sein, die aber quälte ihn reichlich. Er sah sie brotlos, unterkunftslos, als Bettlerin an der Seite des Bettlers im fremden Lande umherirren und sich selbst ohne Aussicht, ihr jemals helfen zu können, denn daß der Mann, dem sie ihr Schicksal anheimgab, für sich und sie lieber den Hungertod wählen würde, als den verhaßten Widersacher um Rettung anzugehen, stand außer Zweifel. Vielleicht hätte er ihr heimlich zustecken können, was ihr für jetzt oder später ein Notgroschen gewesen wäre, aber er wollte nicht, denn dies hätte einem Sichfügen verteufelt ähnlich gesehen.

Und so verbiß er sich mehr und mehr in Trotz und Verbitterung.

Brigitte sah seine Kämpfe wohl, aber sie machte keinen Versuch mehr, ihn weicher zu stimmen.

Da, als sie wenige Tage vor der Trennung zu dreien am Teetisch saßen, sagte sie plötzlich: »Ich habe noch einiges in Berlin zu besorgen, wobei ich das Kind nicht brauchen kann. Drum wär's besser, sie bliebe hier, während ich ihr vorauffahre … Ihr beide habt euch so lange vertragen, ich nehme an, ihr werdet auch noch vierundzwanzig Stunden miteinander aushalten können.«

Steffen fühlte, wie der Herzschlag ihm stillstand.

Allein mit ihr! Noch einmal allein! Welch ein nicht auszudenkendes Glück!

›Aber sie wird nein sagen,‹ rief es in ihm. ›Mit Händen und Füßen wird sie sich wehren, mir überlassen zu sein.‹

In angstvoller Spannung hing sein Blick an ihrem Gesicht. Oh, da war es wieder, das leidvoll-zärtliche Lächeln, mit dem sie die Waffen wegwarf und das ihn wehrlos machte wie sie.

Und ruhig sein Auge suchend, sagte sie: »Wenn du willst, Papa, ich will ganz gerne.«

»Ich sicherlich,« entgegnete er, scheinbar so ruhig wie sie. »Ich habe ja nichts gegen dich.«

Und Brigitte lachte noch auf und rief: »So ist's recht, Kinder! Habt euch nur lieb, solange ihr könnt.«

Am nächsten Vormittag fuhr sie von dannen. Beider Tücher wehten hinter ihr her. Und als sie allein waren – so allein wie in jenen Novembertagen –, da wußten sie erst nicht recht, was miteinander beginnen. Sie standen und standen, und keiner fand irgend ein Wort.

Endlich sagte sie: »Wenn du arbeiten willst, dann möchte ich dir tragen helfen.«

Dies war seit Jahren unzählige Male geschehen, denn für alles Malgerät reichten zwei Arme nicht aus.

Aber er mochte nicht. »Dafür ist die Zeit wohl zu schade,« erwiderte er. »Ist es dir recht, dann gehen wir zum Walde und lagern uns irgendwo.«

»Ach fein!« rief sie. »Nicht weit vom Försterhause, wo wir als Kinder spielten, als Atta geboren war.«

Er war es zufrieden. Und sie holte Decken für beide, denn ob die Septembersonne auch wärmend herniederschien, der Boden war immer schon kühl von der Nacht her.

Nun lagen sie dicht beieinander im weißgrauen Moose. Purpurner Dunst umhüllte die halbkahlen Fichten, die in all den Jahren kaum noch gewachsen waren und von deren Geäste ein Flechtengewirr zottig herabhing. Von Baum zu Baum hüpften schätternd die Elstern, und irgendwo gluckste leis eine Taubenschar. Das war die einzige Versöhnung in dieser herben und dürftigen Umwelt.

»Wie kann man so viel Häßlichkeit bloß so liebhaben!« sagte sie. »Ich glaube, nicht an das Schloß, nicht an den Park, auch nicht an Hof und See werde ich so gerne zurückdenken wie an dieses armselige Fleckchen … Hier saß einmal Mammi neben dem Wägelchen, in dem unsere lebende Puppe lag … Und ich seh' ihre Augen immer noch vor mir … Ich glaub', ich hab' soviel Glück nie mehr gesehen, ich mag noch so viel in der Vergangenheit 'rumsuchen.«

Er rief sich das Jahr zurück, für das er sich einst mit Brigitte zusammengetan hatte. Nun war ein ganzes Leben daraus geworden. Doch hätte er's übers Herz gebracht, sich scheiden zu lassen, dann wäre ihm dieses Glück niemals begegnet, von dem er nun zehren durfte bis in die späteste Zukunft.

Ja, auch das hier hieß Glück! War Glück! Noch gestern galt es ihm als Qual und als Frevel, und heute schon hing es in eitel Verklärung hoch über ihm.

Er drehte sich auf seinem Lager um, und den Kopf auf die Hände gestützt, blickte er zu Susi hinüber, die, auf dem Rücken liegend, unter halb geschlossenen Lidern die Sonne anblinzelte.

Als sie bemerkte, daß er sie unverwandt ansah, lächelte sie lieb und ein wenig verlegen.

»Warum guckst du, Papa?« fragte sie leise.

»Laß mich doch gucken,« erwiderte er. »Ich werde dich ja mein Lebelang nicht mehr zu sehen kriegen.«

Da schloß sie die Lider ganz, und zwei dicke Tränen rollten darunter hervor.

Ein wilder Schmerz quoll in ihm hoch, aber der barg keine Begierde mehr und keinen Drang, den Augenblick auszukaufen. Fast war sie schon wieder sein Kind, wie damals, ehe der Glutwind ihm das Herz versengt hatte.

Er hob nur die Hand nach ihr hin und strich ihr das Wirrhaar sacht aus der Stirn, die so klar und säuberlich vor ihm lag, daß es ein Unding gewesen wäre, Gedanken der eigenen Art dahinter zu suchen.

Somit schien auch die hoffende Angst zunichte zu werden, daß ein geheimes Verstehen ihr Dulden und Handeln regierte.

Und wenn dies alles ein Hirngespinst war, was blieb da noch übrig von seiner großen, todbringenden Liebe? – –

Das Gong, das klirrend vom Schloß her den Wald durchdrang, rief sie beide zu Tische.

Das Mahl verlief schweigend, und dann trennten sie sich, um Mittagsruhe zu halten.

Aber das Liegen fiel schwer. Er rannte in den Atelierzimmern herum und sog an der kaltgebliebenen Pfeife. Jeder Augenblick war ein vergeudeter Schatz, und sicherlich schlief sie so wenig wie er.

Da klang auch schon ihre Stimme. Wenn der Herr nach ihr frage, sagte sie draußen zu einer Magd, sie sei nach dem Hofe hinüber, Abschied zu nehmen.

Diese Pflicht war nicht zu umgehen, und so nützte sie die Zeit des Getrenntseins.

Endlich schlug die Vesperglocke. In der Halle wartete sie bereits und hantierte vor dem dampfenden Teezeug. Wie oft hatte sie so dagestanden, den Heißwasserkessel in der einen, die Kanne in der anderen Hand, und die Spiritusflamme hatte zu ihr emporgeleckt, während das Fensterlicht ihr Haar mit einem Heiligenschein umrundete!

Und heute zum letztenmal!

Ihre Augen waren ein wenig gerötet, und Tränenspuren schimmerten drin.

»Es war doch recht herzbeweglich,« sagte sie. »Sie hängen alle so an einem, und man hat es gar nicht verdient.«

»Du wirst es dir schon verdient haben,« sagte er. »Du weißt es nur nicht. So geht es mit allem Liebhaben unter uns Menschen.«

Statt der Antwort trat sie auf ihn zu und schmiegte sich an ihn. Er aber wehrte sie sanft von sich ab, denn der Hauch ihrer Nähe war ihm fast eine Pein.

»Noch fehlt mir der See,« sagte sie, zu ihrem Teezeug zurückkehrend, »dann hab' ich von allem Abschied genommen.«

Er läutete und befahl, daß angespannt werde.

»Willst du allein hin?« fragte er, um sicher zu gehen.

»Ach nein! Ach bitte, bitte!« schmeichelte sie, und er freute sich wie ein Beschenkter.

Der kleine Jagdwagen stand alsbald vor der Tür, und dann fuhren sie los.

Auf den Feldern stampften die Pflüger in den frisch gebrochenen Furchen, und verbranntes Kartoffelkraut qualmte gleich Opferfeuern in den herbstlichen Abend.

Wieder einmal lag der See als Feuerfläche vor ihnen, und während der lenkende Bursche beim Fuhrwerk blieb, glitten sie in die chromgelbe Lichtwelt hinaus.

Wohl zogen Dampfschwaden, die die einsetzende Kühle aus dem Wasser hervorgeholt hatte, veilchenfarbig darüber hin, aber kein Schatten zeigte sich weit und breit, ausgenommen vielleicht eine langhalsige Taucherfamilie, die beim Nahen des Bootes mit eiligem Plumpsen verschwand, und hie und da der Korkschwimmer eines ausliegenden Netzes.

Unter dem Himmel dahin strich langsam ein Reiherpaar mit glockigen Flügeln, die blitzartig aufglänzten, wenn bei einer Seitenwendung ein Sonnenstrahl sie zu fassen bekam.

Das Schilf stand hoch in goldenen Mauern, und darüber hinweg neigte der Rohrkolben seine wolligen Häupter.

»Komm hin, Papa!« bat Susi. »Wir wollen uns verstecken, wie ich als Kind immer tat.«

Er wußte wohl: Das war ihre Gewohnheit gewesen. Ganze Vormittage lang verschwand sie und kam erst zur Mahlzeit mit glutrotem Kopfe wieder zum Vorschein. Dann war sie zum See geradelt, hatte irgendwo im Schilfe gesteckt und sich – ein Buch auf dem Schoß – von der Sonne zerbrennen lassen.

Er lenkte das Boot geradeswegs auf die Mauer zu, aber nirgends fand sich ein Einlaß. Als dichtes Gitter drängte sich Halm an Halm, durch Wasserminze und Windengerank verstrickt und verrammelt.

So ließ er die Ruder eine Zeitlang am Rande entlangplätschern, bis eine für die Entenjagd geschlagene Schneise zum Hineinfahren einlud.

Und nun saßen sie mitten in dem goldenen Gefängnis, vom Röhricht so eng umschlossen, daß es als Wölbung den Himmel beinahe bedeckte. Kein Laut weit und breit, nur ganz in der Nähe schlüpfte ein unsichtbares Vögelchen mit leisem Zirpen durchs Dickicht.

So einsam war's hier, als gäbe es außer ihnen niemanden mehr auf der Welt.

Er hatte sich auf der Ruderbank zusammengekauert und brütete vor sich hin, der Stunde gedenkend, da sie ihm ihren Lebensplan offenbart hatte. Nichts war gebessert seitdem, im Gegenteil, das Schlimmste, das zu befürchten gewesen, hatte sich treulich erfüllt.

Und dennoch – fast friedlich saß er ihr gegenüber, und all sein tobender Ingrimm war ein stilles Entsagen geworden. Was an Haß und Erbitterung sich in ihm vorfand, richtete sich gegen den Mann, der sie ihm wegnahm. Aber der ließ sich ausstreichen aus dem Buche der Lebenden, solange sie bei ihm verweilte.

Da hörte er ihre Stimme von drüben her: » Lieber Papa.«

»Was, mein Kind?«

»Da wir hier so ganz miteinander allein sind, möchte ich – möchte ich – –«

»Na, was möchtest du?«

»– dir noch einmal danken – für alles Liebe – das ich von dir empfangen habe und das ich dir nun nie mehr vergelten kann.«

In ihm hohnlachte etwas: ›Sie dankt mir auch noch,‹ aber die Weichheit der Stimmung erstickte es gleich.

»Laß, laß!« wehrte er, und weil er fühlte, daß ihm das Flennen sehr nahe war, griff er rasch nach den Rudern und stieß das Boot an den Wurzelknollen entlang ins Freie zurück und dem jenseitigen Ufer entgegen.


Nun war es Nacht geworden. Sie hatten zu Abend gegessen und saßen im Wohnzimmer bei dem milchweißen Schein, der unter der Lampenglocke hervorquoll.

Die stählernen Öfen brannten noch nicht, und darum fehlte der Glutdunst, der einst die Räume gespenstisch erhellt hatte.

Sie fragte: »Soll ich was spielen, Papa?«

»Wenn du willst.«

»Nein, wenn du willst.«

Mochte sie nur! Zu reden gab es nichts mehr, denn um das, was von Wichtigkeit war, ging man im Bogen herum.

Und sie spielte. Zuerst die »Kinderszenen«, dann einen Chopin, und schließlich kam die Mondscheinsonate heran.

Vor seinem Auge stand jener Sommerabend im Park, als aus ihrem dunkeln Zimmer heraus dieselben Klänge zu ihm herniedergedrungen waren und er nach Atta herumgesucht hatte, bis er sie endlich schluchzend im Efeugewirr der Ruine entdeckte.

Atta! Mein Gott, wo war Atta? Zum Schatten war sie geworden über all dem heißen Erleben, das ihm das Hirn aus dem Kopfe geschwelt hatte.

Und sie spielte und spielte. Wie ein Hammerschlag drang jeder Ton auf ihn ein.

Daß sie das aushalten konnte!

Und sie konnte auch nicht. Denn plötzlich sprang sie auf, warf ihre Arme um seinen Hals. – »Gute Nacht, Papa,« sagte ein schluchzendes Stimmchen – und dann war sie verschwunden.

Lange blieb er vor ihrer Schlafzimmertür – geradeso wie im vorigen Herbst, als Schuldbewußtsein ihm den Eintritt verwehrt hatte.

Heute durfte er's wagen. Heute stand kein Warnungszeichen flammend vor ihm. Aber höher ging der Herzschlag ihm doch.

Und endlich drückte er sacht auf die Klinke. Die Tür gab nach.

Da lag sie im Licht der blauumschirmten Bettlampe in die weißen Kissen gemummelt. Das Langhaar floß strahlend an ihren Armen herab.

Wie sie ihn eintreten sah, flog ein grüßendes Lächeln über ihr Angesicht.

»Ach, ist das schön, daß du kommst!« rief sie aus. »Ich glaub', ich hätte nicht einschlafen können, wenn du nicht gekommen wärst.«

Er setzte sich neben sie auf die Bettkante. Sie griff sofort nach seiner Rechten und legte sie sich unter die Wange. Und zugleich schloß sie die Augen.

Wie eine Schlafende lag sie da, und er dachte: ›Ist das ein Glück, daß ich freien Sinnes hier sitzen darf!‹

Nicht lange dauerte es, da schien's, als schliefe sie wirklich. Die Gespanntheit ihrer Züge ließ nach, und ihre Brust hob und senkte sich in tieferem Atmen.

›Welch ein grausiger Spuk!‹ dachte er weiter, während die Geschichte der letzten anderthalb Jahre in wirren Bildern an ihm vorüberzog.

Behutsam stand er auf und bückte sich zu einem leisen Kuß auf ihre Stirn herab, wofür sie schlaftrunken mit einem kindischen Schmatzlaut quittierte.

Dann schlich er auf Zehenspitzen zur Tür zurück.

Eine kleine Enttäuschung schwand, wie sie gekommen war, nur ein seliges Dankgefühl blieb in ihm übrig und suchte nach jemandem, an den es sich klammern konnte.

Und wen sonst auf der Welt gab es hierfür als Brigitte?


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