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Wieder gingen Jahre dahin.
Ein jedes brachte neue Freuden, neue Erfolge und zugleich auch neue Kränkungen, neue Verzichte und an täglichen Nöten genug, um die Sonnenhelle des Morgens zunichte zu machen.
Das gesellschaftliche Umherziehen begann allmählich nachzulassen. Nicht infolge freiwilliger Entsagung, auch nicht aus Arbeitsdrang oder aus wachsender Einsicht in die Belanglosigkeit solchen Erlebens, sondern vielmehr, weil – –
Ja, wie läßt das stillschweigende Trauerspiel, welches das schwankende Eheglück des Tromholtschen Hauses langsam und gründlich zu zerstören drohte, sich am besten in Worte fassen?
Brigitte, die bisher als schöne Frau, in unverfänglichen Triumphen strahlend, an Steffens Seite durch die Welt gegangen war, zeigte um die Vierzig herum eine Neigung zur Fettleibigkeit, die trotz sorgsam angewandter Gegenmittel immer heftiger und unwiderstehlicher wurde, um den blondüppigen Rubenskörper schließlich bis zur Mißgestalt zu verzerren.
In wachsender Niedergeschlagenheit sah Steffen dieser Erscheinung zu. Wäre sein Malerauge weniger scharf, weniger unbestechlich gewesen, so hätte er sich durch Gewohnheit oder Unachtsamkeit vielleicht darüber hinwegtäuschen lassen. So aber grämte er sich nicht nur um des eigenen Mißfallens willen, sondern beobachtete auch mit lauerndem Argwohn und übersteigertem Schönheitsgefühl jeden befremdeten oder gar höhnischen Blick, der über ihre Unform dahinglitt. Schließlich erschien er sich wie ein gehetzter Verbrecher, der sich durch falsche Wahl an dem Höchsten Gesetz der Erde, dem des Ebenmaßes, versündigt hat und bereit sein muß, die allgemeine Verachtung als Strafe dafür in Empfang zu nehmen.
Brigitte selber war viel zu unbefangen und zu wenig mit sich beschäftigt, als daß sie zu Beginn dem, was an ihr geschah, große Wichtigkeit beigelegt hätte. Sie nahm es als ein Leiden, das wohl oder übel getragen sein mußte. Auf Eroberungen ging sie nicht aus, und wem sie nicht gefiel, der ließ es halt bleiben.
Nur um Steffens willen kränkte sie sich. Und Angst hatte sie vor ihm. Wenn er sie aus irgend einem Winkel her mit langen, schiefen Blicken musterte, wenn er mit schmerzhaft zusammengebissenen Lippen ihre Bewegungen verfolgte, um sich dann mit einem schaudernden Ruck zur Seite zu wenden, dann fühlte sie sich genau so gehetzt wie er; nur weniger schuldig fühlte sie sich, vielmehr grausam behandelt, weil sie ja gar nichts dafür konnte.
Oder doch vielleicht?
Die Ärzte, zu denen sie gepilgert war, hatten sie längst über den Grund des Unheils aufgeklärt.
»Gnädige Frau zeigen eine Herzschwäche, die in der Konstitution begründet sein mag, die aber auch – – haben gnädige Frau – etwa – –?«
Und nun folgte eine Frage, die dreist in Dunkles, Längstvergangenes hineinzuleuchten versuchte.
Man konnte verneinen, man konnte gestehen, je nach der Vertrauenswürdigkeit des Mannes, der vor einem stand. Und da sie fürs Lügen wenig begabt war, so wählte sie zumeist den letzteren Weg. Dabei kam's heraus, daß sie sich durch jene einstigen Liebesopfer am eigenen Leibe schwer geschädigt hatte. Ja, daß sie, wenn die Dinge sich zum Schlimmen wandten, dauerndem Siechtum verfallen war.
Schonung, geordnete Lebensweise, Fernhalten jeder Erregung, das alles wurde ihr wieder und wieder ans Herz gelegt, ihr, deren ganzes Leben aus Strapazen, Unregelmäßigkeiten und Katastrophen bestand.
Aber zu fest baute sie auf die unzerstörbare Widerstandskraft ihrer Natur, als daß die Predigten der Ärzte ihr Angst gemacht hätten. Nur wieder gut aussehen, nur wieder schlank werden, damit er sich ihrer nicht zu schämen brauchte; alles übrige bedeutete gar nichts.
Und zugleich begann eine Zeit der Selbstkasteiung, der Gewaltkuren und des Herumziehens von Bad zu Bad, die den ganzen Menschen in Anspruch nahmen und keine weiteren Erfolge brachten, als daß sie sich immer müder und mutloser fühlte.
Ihre Freude am Tätigsein sank dahin. Stundenlang konnte sie dasitzen mit einer Handarbeit oder einem Buch auf dem Schoße. Aber die Handarbeit kam nicht zu Ende, und das Buch war schon vergessen, während sie noch die Blätter umwandte.
Das Gehen wurde ihr sauer. Nach wenigen Schritten stellten Atemnot und Stiche sich ein, und nur wenn Steffen darauf bestand, daß sie ihn begleitete, waren plötzlich die Kräfte da, die in anderen Fällen versagten. Auch sonst, wenn sie durch irgend ein Muß hochgepeitscht wurde, fühlte sie sich zu Leistungen fähig, die sie sich nie mehr zugetraut hatte, ja, sie konnte plötzlich gesünder sein als alle Gesunden, aber bald fiel sie wieder in dumpfe Erschlaffung.
Und schlimmer noch als das alles war, daß die Nervenanfälle stets auf der Lauer lagen. Oft brachen sie ohne jeden Anlaß hervor. Die Dienstleute gingen mit bleichen Gesichtern umher, Atta verkroch sich im dunkelsten Winkel, und Steffen saß brütend da, den Kopf in den Händen vergraben.
Zudem neigte Mis hilfreiches Wirken sich seinem Ende zu. Sie war nun gegen die Dreißig, ihre feurige Schönheit fing an zu verblassen; es wurde Zeit, daß sie den Tapezierergehilfen, der sich dauernd im Hause zu tun machte und mit dem sie auch ausging, endlich das längst schon geforderte Jawort gab. Wer sie dann später ersetzen würde, das wußten die Götter.
Aber so geliebt war Brigitte von jedem, der in ihren Bannkreis geriet, daß sich auch hierfür schon Rat finden würde. Wer in irgend einer Art zum Hause gehörte, half einen Kreis um sie schließen, so dicht und verschwiegen, daß nichts von dem, was mit ihr geschah, darüber hinausdrang. Und so würde es bleiben, auch wenn Fremde an die Stelle der Ausscheidenden traten, dessen konnte man sicher sein.
Längst waren die Ärzte auch in diese Nöte eingeweiht worden, aber Hilfe zu bringen vermochten sie nicht, ja nicht einmal ein richtiges Krankheitsbild zu verschaffen war ihnen möglich. Denn bis sie, herbeigerufen, im Hause erschienen, lag sie bereits tief im erlösenden Schlafe. So ergingen sie sich in allgemeinen Ratschlägen, gaben Beruhigungsmittel und ließen sich von ihr täuschen, wenn sie die Schilderungen ihres Mannes als übertrieben ins Reich der Fabel verwies. Fast schien es, als wehrte sie sich dagegen, von dem Übel befreit zu sein, und Steffen sank immer tiefer in Gram und Verbitterung.
Doch so viel gesunde Kraft hat die Natur dem Menschen gegeben, daß sie die Wunden, die das Leben ihm schlägt, immer wieder zu heilen versteht, und mag die Arznei, die sie ihm darreicht, nichts als Gedankenlosigkeit sein.
So wechselten auch ferner in Steffens Gemüt Sonne und Schatten, Alltagsjammer und Alltagsbehagen, ja selbst der einstige Übermut brach ab und zu bei günstigem Anlaß hervor.
Und wie je, so auch jetzt umgab ihn Brigitte in gesünderen Stunden mit dem Wohlgefühl ihrer sorgenden Nähe, so daß er sich verlassen und vereinsamt erschien, wenn sie zu ihren Kuren für Wochen und Wochen von dannen fuhr.
Als Glück kam dazu, daß Susi, die nun ihr sechzehntes Jahr und damit die Schule hinter sich hatte, im Elternhause Einkehr hielt, um bis auf weiteres darin zu verbleiben.
Ein lichtblondes Jungfräulein mit den rosigen Farben der Mutter und einem braungoldenen Augenpaar, das in eigenwilligem Leuchten Menschen und Dinge bemaß und sich nur zu oft in tiefsinnigem Grübeln verschleierte.
Die Jahre der Fremde und des Zurückgesetztseins waren in ihrer Seele nicht ohne Spuren geblieben, mochte es ihr auch noch so fernliegen, ihrem Stiefvater die Schuld daran aufzubürden.
Im Gegenteil! Mit scheuer Innigkeit schmiegte sie sich seinem Wesen an, und er ließ sich das Zusammenleben mit ihr als Trost und Zerstreuung gerne gefallen. Der Lichtglanz, den ihre Erscheinung über ihn herströmte, das stete Rätselraten, zu dem sie ihn verlockte, der lächelnde Frohmut, mit dem ihre unverbrauchte Jugend sie trotz allem begabte, war ihm ein Antrieb zu immer neuem Schauen und Bilden.
So mußte Brigitte einstmals gewesen sein – lange bevor er sie kannte. Und wieder nicht. Nein doch, durchaus nicht. In ihr war ihm nichts verborgen geblieben vom ersten Sehen an. Ohne Vorbehalt, ohne Harm und ohne Schwere hatte sie sich ihm ans Herz gelegt, mit Heimlichkeiten spielte sie nicht, und fast konnte man ihr einen Vorwurf daraus machen, daß sie allzeit so vorwurfs frei zu ihm gewesen war.
Das galt für die Brigitte von einstmals. Die Brigitte von jetzt, die war wie ausgelöscht. Die ging so nebenher. War zärtlich zu Susi und Atta, war lieb und sorglich zu ihm, erschien, wenn er sie brauchte, verschwand, wenn eine Falte des Mißmuts sie fürchten ließ, ihm zuviel zu sein, und saß im übrigen still für sich, wie eine, die nicht mehr recht weiß, wozu sie auf der Welt ist.
Früher hatten sie mitsammen weite Spaziergänge gemacht, aber diese Gewohnheit war längst schon vernichtet. Vorerst einmal verbot ihr die Schwerfälligkeit ihres Körpers jeden Versuch einer Wanderung, dann aber mochte er auch nicht gerne mit ihr gesehen werden. Selbst Unbekannten gegenüber war es ihm peinlich, an ihrer Seite daherzugehen. Als eine Art von Ungeheuer erschien sie ihm dann – und er sich selbst mit Ketten daran gebunden.
Sie ihrerseits durchschaute seine Stimmung sehr wohl. Und weil diese Quälerei für die Dauer nicht zu ertragen war, weigerte sie sich schließlich, als seine Begleiterin die Straße auch nur zu betreten.
So geschah es ganz von selber, daß Susi sie allmählich ersetzte. Und froh darüber, ihr einst kaum geduldetes Kind als vollgültige Tochter des Hauses anerkannt zu sehen, begünstigte sie jede Annäherung zwischen den beiden, der Zweck mochte sein, welcher er wollte.
Erwartungsvoll zogen sie aus, schwatzten über Gott und die Welt, sammelten Kräuter, wie sie im Frühling und Herbst im märkischen Sande wohl sprießen, und kehrten mit heißgewehten Backen und blankgeputzten Augen um die Vesperzeit heim. So glücklich war sie selbst früher oft nach Hause gekommen, und dieses Glück gönnte sie jetzt ihrem Kinde.
Nur Atta grollte ein wenig. Sie wollte mitgenommen sein, aber Papa meinte, sie sei noch zu klein, und sie müsse auch Schularbeiten machen, und im übrigen wäre ja Mademoiselle da, um sie spazierenzuführen.
Das junge Herz mochte sich wohl aufbäumen gegen die Kühle des Vaters, doch Eifersucht lag ihm fern. Im Gegenteil! Mit Inbrunst hängte es sich an die ältere Schwester, und die beiden Mädelchen mitsammen kosen zu sehen, bot Motive von holdester Schönheit.
So spielten trotz Kummer und seelischem Druck die Tage in weichem Gleichklang sich ab, und fast wollte für Steffen ein neues Hausglück entstehen, da trat ein junges Weib ihm entgegen, das ihn abermals aus der Bahn riß.
Ein Abend beim Reichskanzler war's, die einzige Gelegenheit, bei der im Berliner Leben die verschiedenen Gesellschaftsarten sich zusammenfanden, Adel, Diplomatie, hohes Beamtentum, Kunst, Wissenschaft und Finanz, bunt durcheinandergemischt.
Steffen, der beim jüngsten Hofball dem Fürsten vorgestellt worden war und hierauf eine Einladung erhalten hatte, sah sich zu seiner Freude bevorzugt, man konnte sagen: gefeiert. Denn bis in jene Kreise war die Parole noch nicht gedrungen, die ihn ins hintere Treffen verwies. Dort galt er noch immer als Mann der Mode, als einer der vornehmsten Vertreter neudeutscher Malkunst.
Man suchte ihn auf, man umgab ihn, man reichte ihn weiter von Gruppe zu Gruppe.
Da trat ein roter Husar an ihn heran, der mit anderen Gardeoffizieren gesellschaftlichen Adjutantendienst versah, anzuschauen wie ein Paradiesvogel, sich brüstend in der Wichtigkeit seines Amtes.
Und als er beim Sichvorstellen die Hacken zusammenschlug, gaben die silbernen Sporen verheißungsvoll die Geleitmusik.
»Wenn Herr Professor die Gnade haben wollen, mir jetzt zu folgen! Ihre Erlaucht« – und nun folgte ein weitbekannter Name – »hat befohlen, daß ich Sie ihr zuführe – Ihr gütiges Einverständnis vorausgesetzt.«
»Ich bitte darum.«
Wegweisend klingelten die Sporen vor ihm her.
Das war sie wohl. Schmal, schlank, mit einem mädchenhaften Vogelköpfchen auf zartgerundeten Schultern, ein kaltstrahlendes Diadem in dem blondgewellten, enganliegenden Haupthaar und Augen darunter, nicht minder kalt in ihrem Strahlen. Oder was da aufblitzte, war das mehr als die Neugier, die man dem Fremden, Oftgenannten wohl entgegenbringt?
Durch ein kurzes Nicken löste sie sich von dem Herrn, mit dem sie sprach, und wandte sich ihm zu.
Der Husar bot ihr mit winkliger Geste seinen Namen dar und verschwand.
»Ich habe den Wunsch gehabt, Sie kennenzulernen, Herr Professor, zuerst einmal natürlich, weil ich Bewunderin Ihrer Bilder bin – dann aber auch, weil ein persönliches Band zwischen uns da ist.«
Die Stimme! Die Stimme! Es war ein weiches Schwirren darin wie von einer Geigensaite, die man leise berührt.
›Wo habe ich diese Stimme schon gehört?‹ fuhr es ihm durch den Kopf, und laut fragte er: »Welches könnte dieses Band wohl sein, Erlaucht?«
Ihr Blick glitt in die Runde, wie um auszukundschaften, ob niemand lausche. Dann noch gedämpfter als bisher: »Sie haben meine Mutter gekannt.«
»Ich bitte um Vergebung! Ich bin in den Familienbeziehungen Eurer Erlaucht nicht so bewandert, wie ich wohl müßte.«
»Ich bin eine geborene Gräfin –« Und nun folgte ein anderer Adelsname, einer, der in der preußischen Geschichte wohl oft zu finden ist, der ihm aber – seines Wissens – im eigenen Leben noch nie begegnet war.
Sein befremdetes Stutzen war von erschreckender Wirkung; deutlich sah er, wie sie erbleichte.
»Oder sollte ich mich – –? Nein doch, ein Irrtum ist unmöglich. Das muß – anderswie – zusammenhängen.«
»Wollen Erlaucht mir nicht – –?«
»Ja doch, aber nicht so – nicht hier.« Wieder ging ihr Blick in die Runde. Dann durch halbgeschlossene Lippen, von halbgeschlossenen Augen noch gleichgültiger gemacht: »Nur damit Sie wissen: mir sind Briefe übergeben worden, Briefe, die Ihren Namen tragen.«
Ja, nun wußte er. Und nun war es an ihm, zu erbleichen.
»Ist – Ihre Mutter etwa – –?« stammelte er, jede Form außer acht lassend.
Sie preßte die Lippen ein und nickte. »Vor zwei Jahren schon hat –«
Leise aufzuckend hielt sie inne. »Aber ich glaube, man holt mich. Sie werden von mir hören.« – Und dann so laut, daß die beiden älteren Damen, die in diesem Augenblick an sie herantraten, sofort an dem Gespräche teilnehmen konnten: »Ich darf also die Hoffnung mit mir forttragen, daß Sie nicht abgeneigt sein würden – – dies ist nämlich Herr Professor Tromholt. Ich bin stolz, ihn mit euch bekannt machen zu können.«
Nun gab es noch eine Anzahl Komplimente, verquickt mit etlichen Verwechslungen, die den Werken anderer Maler galten – und dann war er entlassen.
Taumlig schritt er zwischen weißen Frauenschultern und bunten Waffenröcken dahin, wurde angerufen und wußte nicht, von wo, sprach und lachte und wußte nicht, mit wem.
Dann eilte er dem Ausgang zu, irrte durch die Straßen stundenlang und suchte des inneren Aufruhrs Herr zu werden.
Zuerst war es der Schmerz über die jähe Trauerbotschaft, der ihm die Fassung nahm.
Vergessen hatte er die ungenannte Freundin nie, hatte wohl auch immer noch gehofft, daß sie ihm eines Tages in den Weg treten würde. Und wie häufig waren die Worte in ihm lebendig geworden, die sie ihm in jener einen unvergeßlichen Stunde für seine Zukunft mitgegeben hatte, die Worte schmerzlicher Mahnung: »Das Schwerste in Ihrer Ehe steht Ihnen noch bevor. Es wird die Zeit kommen, da man die Frau an Ihrer Seite nicht mehr reizend finden wird. Und Sie am allerwenigsten. Dann erst wird sich zu bewähren haben, ob Sie wissen, was Sie ihr schuldig sind.«
Und jedesmal, wenn er sie sich wiederholte, mußte er sich zugleich das Bekenntnis ablegen: ›Es hat sich nichts in mir bewährt.‹
Doch was half auch diese Ehrlichkeit! Das Auge war stärker als das Gewissen, und Schönheitsgier galt mehr als Dank und Liebe.
Nun war sie tot, die Gütige, die Edle, die, wie er sich oft einzureden gesucht hatte, von fernher als eine Art von Schutzgeist über ihm wachte.
Und an ihre Stelle war in dieser Stunde eine andere getreten, ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, die Erbin ihrer Geheimnisse.
Doch ob auch Erbin ihres Hochsinns, ihrer Seelenhelle?
Fast schien es so; denn in diesen Augen, so kühl sie blicken mochten, saß verborgen die Größe des Entschlusses, der Wille zum eigenen Ich.
Eines jedenfalls hatte sie vor der Mutter voraus, und das war die Jugend.
Sie, sie würde nicht, wie jene im Vollglanz ihrer Schönheit tat, von sich zu sagen haben: »Ich bin verblüht.« Und Jugend, siegessicher, straff und spröde, schien sie bis zur Unnahbarkeit auch über ihn emporzuheben, dem schon die Schläfen bleichten.
Wie alt sie war, ließ sich berechnen. Die Mutter hatte, soviel er sich besann, von ihr als einer Fünfzehnjährigen gesprochen. Sieben Jahre seither. Zweiundzwanzig also. Und schon verheiratet. Mutter vielleicht gar. Obwohl Mädchentum wie eine Gloriole den spielend umhergeschnellten Kopf umgab.
Als er an jenem Abend heimkam und sich wie gewöhnlich an Brigittens Bett setzte, um zu erzählen – sie konnte nie einschlafen, ehe er bei ihr gewesen war –, da wußte er nichts mehr von allem, was – außer jenem Großen – sich noch ereignet hatte. Und das gerade durfte nicht preisgegeben werden.
»Du hast wohl zu viel erlebt, als daß du davon reden könntest,« sagte sie und bot ihm lächelnd zur Gutenacht die Hand. »Geh, schlaf dich aus und schweig dich aus, ich werde dich nicht mehr fragen!«
Am nächsten Morgen tüftelte er etliches für sie zusammen, halb wahr und halb gelogen, aber das eine blieb auf dem Grunde seiner Seele, dort, wo das Bild der Freundin ruhte.
»Sie werden von mir hören.« An dieses Wort klammerte er sich fortan.
Tage vergingen, Wochen vergingen in immer gleichem Warten. Da lag eines Morgens unter den Posteingängen ein wenig vertrauenerweckender Brief mit einer Handschrift, die ihm von alters her bekannt erschien.
Und er las:
Sehr geehrter Herr Professor!
Sie werden gebeten, am Freitag, um fünf Uhr, in meiner Wohnung zu sein, wo man Sie zu sprechen wünscht.
Frau Hellwig.
Gespenstisch das alles. Die Freundin tot, und die Tochter statt ihrer an der vertrauten Stelle.
Es war ein Frühmärzabend wie jener vor sieben Jahren, als er dem Hause zuschritt, in dem er sie einst zum zweiten und letzten Male gesehen hatte.
Schneeluft und Blaulicht der Dämmerung, genau so wie damals.
Wie damals eine von selbst sich öffnende Tür, Hände, die nach Hut und Mantel griffen, ein schweigender Wink, der ihn nach rechts wies.
Es hätte gestern sein können, als ihm dies bereits einmal geschehen war.
Doch als er eintrat, da war's nicht sie, die geliebte, glückbringende Frau, da war's ein fremdes, ganz fremdes Jungmädchengesicht, das er, wie es ihm schien, noch niemals erblickt hatte.
Sie saß steil aufgerichtet in der Mitte des Sofas, von dem Lampenlichte grell beschienen, und vor ihr auf dem Tische lag, von grünem Seidenband umwunden, ein dünnes, weißes Päckchen.
›Meine Briefe,‹ schoß es ihm durch das Hirn.
Keine Hand streckte sich ihm entgegen, sie warf nur den Kopf gegen die Lehne zurück und sah mit weitgeöffneten Augen nicht ängstlich, eher erstaunt zu ihm empor. Sie machte auch keine Miene, ihn zu begrüßen oder willkommen zu heißen.
Aber geredet mußte doch werden.
»Erlaucht!« stammelte er, wohl fühlend, wie ungeschickt, wie albern fast, das pappene Wort an dieser Stelle, in diesem Augenblicke klang.
Sie schloß die Augen und sagte leise: »Haben Sie schon gesehen – was hinter mir – oder über mir – an der Wand ist?«
Er hob den Blick und gewahrte das große – noch immer rahmenlose – Bild der Mutter, das er aus der Erinnerung einst gemalt hatte. Und als er unwillkürlich die Farbenwerte abwog, stieg der Gedanke in ihm hoch: ›Damals konnte ich mehr als heute.‹
Und wieder hörte er dieselbe schwirrende Stimme, die hier einst erklungen war und die er sieben Jahre lang nicht aus dem Ohr verloren hatte: »Ich bin Ihnen vorerst eine Erklärung schuldig; denn was ich tue, ist so ungesittet, daß Sie sich kaum in mir zurechtfinden werden. Aber warum nehmen Sie nicht Platz?«
Dankend ließ er sich auf dem Stuhle nieder, der ihr zur Linken stand. Nun saß sie wieder aufgerichtet da, ihre Lippen zitterten, aber Haltung und Miene bewiesen, daß sie die Lage zu meistern versuchte.
»Ich hatte eine Mission zu erfüllen,« fuhr sie fort, »und die verlangte dies ungewöhnliche Mittel. Wollen Sie wissen, wie meine Mutter starb?«
»Es war dies die erste Bitte, die ich wagen wollte an Erlaucht zu richten,« erwiderte er.
Sie schüttelte in lächelnder Abwehr den Kopf.
»Wir beide stehen hier unter dem Zeichen der Toten«, sagte sie, »und gehören darum zusammen. Sie nannte mich immer Lissi, da ich Elisabeth heiße. Ich bitte: nennen Sie mich wie sie.«
»Diese Gnade kommt so unverhofft –« stieß er hervor.
»Unverhofft kommt dies alles,« entgegnete sie. »Seit zwei Jahren trug ich mich mit dem Gedanken, wie mich Ihnen nähern. Vorwände wollte ich nicht gebrauchen – die wären ja leicht zu finden gewesen – und so unterblieb es immer wieder … Da – an jenem Abend – sagte plötzlich jemand neben mir: ›Dort geht Tromholt.‹ Das fuhr mir wie ein Messerstich durch die Brust, und ich sagte zu mir: ›Jetzt ist der Augenblick!‹ Da winkte ich mir den Husaren heran, der ein alter Tänzer von mir ist … Ja, und so wurden wir bekannt … Daß meine Mutter mich einweihte, das kam so: Sie kränkelte schon lange, und obgleich ich kaum ein Jahr verheiratet war, saß ich meistens bei ihr. Und so traten wir uns auch als Frauen näher. Viel Glück in der Ehe hatten wir beide nicht. Sie verzeihen, daß ich dies vor Ihnen ausbreite, aber es gehört dazu. Und oft sprachen wir über das Erleben, das uns Frauen außerhalb der Ehe beschert werden kann. Die Arme hatte gedarbt und gedarbt. Sie, Herr Tromholt, sind ihr einziges Abenteuer gewesen. Und so kam's, daß sie mir die Briefe übergab, mit dem Auftrage, sie Ihnen nach ihrem Tode zurückzustellen. Und als sie gestorben war – –«
»Darf ich erfahren, woran sie starb?« warf Steffen ein, während Wellen von Herzweh ihn überfluteten.
Sie zuckte die Achseln. »Man weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Sie schwand so hin. Blutarmut. Versagen der Lebenskraft. So viel Ärzte, so viel Namen … Und nun kommt mein großes Verbrechen. Ich muß es Ihnen beichten … Als sie, wie gesagt, gestorben war, da war dieses Päckchen noch versiegelt. Aber meine Begierde zu wissen, was ein Mann, der liebt, der Frau, die er liebt, zu sagen hat, war so groß, daß ich das Geheimnis ihres Lebens verletzte und das Siegel erbrach. Hier hängen noch die Brocken … Ja, und nun muß ich doch noch von mir selber reden. Ich habe mit neunzehn geheiratet, weil es zwischen den Familien so ausgemacht war. Und ich wehrte mich auch nicht. Höchstens neugierig war ich. Und dann kam die große Enttäuschung, aus der – ich darf nicht sagen Abscheu, aber doch Fremdsein wurde. Und um zu erfahren, ob es in Wahrheit nichts gibt, was den Phantasien der Dichter entspricht – doch das sagte ich schon … Und nun, Herr Tromholt, muß ich Ihnen gestehen: ich habe viele Nächte lang über diesen Briefen geweint. Ich habe Sie liebgewonnen aus diesen Briefen. Schelten Sie mich nicht wegen dieses Bekenntnisses. Mich fror, und ich wärmte mich an fremdem Feuer.«
Sie hielt inne und senkte den Kopf tief auf die Tischplatte herab. Es war, als ob die Scham über den eigenen Freimut sie überwältigte.
»Armes junges Kind,« sagte er leise.
Mit blitzschneller Bewegung hob sie das Gesicht und strahlte ihn an. Es war ein blaues, wildes Licht in ihren Augen. Erkenntnis, Weltverachtung und eine Art voll kalter Inbrunst lag darin.
»Das ist es,« rief sie, »ich war ein Kind, und ein Kind bin ich gewiß auch noch. Wie sehr, das sollen Sie gleich erfahren. Während ich Ihre Briefe auswendig hersagen konnte, kam ein Verlangen über mich, das umso stärker wurde, je weniger ich Aussicht hatte, es mir zu erfüllen … Sie werden mich auslachen – aber was konnte ich tun? Es war eben da … Ich sagte mir: Ein Glück muß dir werden im Leben. Ehe du diesem Manne die Briefe wiedergibst, soll er sie mit dir zusammen durchlesen. Laut. Mit der Stimme, die aus diesen Zeilen redet. Denn was da steht, das ist nicht geschrieben, – das ist so, wie wenn einer die Hände der geliebten Frau in den seinen hält und leise zu ihr spricht. Und sie hat die Augen geschlossen und denkt: ›So möchte ich ihm zuhören bis in alle Ewigkeit.‹«
Sie hatte den Kopf jetzt so tief gesenkt, daß ihr Kinn fast die Briefe berührte, die vor ihr auf dem Rande des Tisches lagen.
Und nun wagte er es, der Erlaubnis gedenk zu sein, die sie ihm vorhin gegeben hatte.
»Liebe Lissi,« sagte er und streckte die Hand nach ihr aus.
Ihr Kopf flog wieder hoch.
»Also, Sie werden mir den Wunsch erfüllen?« rief sie. »Sagen Sie um Gottes willen nicht nein. Sie wissen nicht, was Sie mir damit antun würden.«
»Daß ich will,« erwiderte er, »versteht sich von selbst. Aber ob ich kann, das ist die Frage. Was in den Briefen drinsteht, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, aus welchem Gefühl heraus ich sie niederschrieb. Und ob das beim Wiedererwachen nicht ein Veto einlegen wird, ob es mir nicht wie eine Art Selbstentblößung erscheinen wird, wenn ich – – Sie müssen wissen, ich habe Ihre Mutter sehr geliebt.«
»Und ich als ihre Tochter bin hier an ihrer Statt,« erwiderte sie und reckte sich mit einem kleinen Trotz empor.
»An ihrer Statt?« fragte er, während ein Zittern ihn überlief.
»An ihrer Statt,« bestätigte sie und sah ihm fest und selbstgewiß ins Auge.
Er fühlte sich ganz willenlos geworden. »Ich werd's versuchen,« stammelte er.
Sie riß die Hülle von den Briefen herunter und legte den obersten der Reihe vor sich nieder.
»Kommen Sie her,« sagte sie, ihm neben sich Platz machend. »Lassen Sie mich mit hineinschauen, und dann lesen Sie ganz laut.«
Er setzte sich an ihre Seite, so dicht, daß ihre Schulter die seine streifte, und sie schob den Bogen nach ihm hin, ließ ihn aber nicht aus ihren Fingern.
Er erfaßte ihn an seiner anderen Seite und erblickte flimmrig die Züge seiner Hand. Wie eine Reihe von kleinen Gespenstern tanzten die Buchstaben vor ihm her.
Und er begann:
»Sie geliebte, gütige Frau!
Was mich zu Ihnen reißt, was mich zwingt, bei Tage und bei Nacht mit Ihrem Bilde vereint zu sein, ist nicht so sehr das Unglück meines Ehelebens, nicht die seelische Not, in der ich durch – –«
So weit nur kam er, da ließ er die Hand, die den Briefbogen hielt, in den Schoß niederfallen und warf sich gegen die Lehne des Sofas zurück.
Brigittens Name klang ihm ins Ohr. Damals war sie schön und zart und jung gewesen, heute stand sie vor ihm alternd und durch Unform schwer entstellt. Aber lieb war sie heut wie je und ihm hingegeben mit ihrem ganzen Sein. Jener Frau, die sein Schicksal segnend umgestaltet, hatte er davon reden dürfen, aber ob diesem fremden, hochmütig blickenden Kinde auch Leib und Seele entgegenschrie, um ihm sich und die Genossin seines Lebens preiszugeben, soweit war er ihm doch nicht untertan.
»Nun?« fragte sie mit eigenwilligem Befremden.
»Vergeben Sie mir,« knirschte er, »meine Befürchtung war richtig. Es geht nicht. Es geht beim besten Willen nicht.«
Sie zog wie zum Weinen die Oberlippe hoch. »Und ich habe mich so darauf gefreut,« sagte sie mit einem kleinen Maulen.
Und dann weinte sie wirklich. Barg das Gesicht in den Händen und schluchzte in sie hinein.
Tröstend wagte er diese Hände zu streicheln. »Was ich nur kann, will ich Ihnen zu Gefallen tun, Lissi,« sagte er, und der Name ging ihm so glatt von den Lippen, als wäre er auf ihnen seit Jahren heimisch gewesen. »Aber bedenken Sie: der Mann, der da aus den Briefen spricht, der ist ja gar nicht ich, der ist ja schon seit sieben Jahren tot.«
»Der soll aber nicht tot sein,« schrie sie auf. »An den halte ich mich. An den klammere ich mich. Der weiß, was liebhaben ist, und der soll mich jetzt liebhaben. Der muß mich liebhaben. Denn ich verhungre nach ihm.«
Damit warf sie sich besinnungslos an seine Brust.
Mit Herzklopfen fühlte er die hingegossene Last glühend an seinem Leibe. Was er noch vor wenigen Augenblicken als in Ewigkeiten unerreichbar hoch über sich schwebend erblickt hatte, war als sein eigen ihm in den Schoß gefallen.
Er umschlang sie, er preßte sie an sich und dachte dabei: ›Die Mutter versagte sich mir, nun schickt sie mir ihr Kind.‹
Dann tasteten sich ihre Lippen zu seinem Munde empor und blieben geöffnet daran hängen. Es war, als wolle sie die Erfüllung eines ganzen Jugendlebens in sich saugen.
Und dann verlor auch er die Besinnung. In der Umklammerung der Glieder hörte er sie einmal hell aufächzen, alles andere versank im Meer des Niegeschehenen, noch während es geschah.
Mit geschlossenen Augen wie eine Schlafende ruhte sie nun im Bette des Alkovens neben ihm. Ihre Kleider lagen verstreut auf dem Wege dorthin. Da schoß ihm eine Ahnung jäh durch den Kopf und wurde rasch zur Gewißheit. »Um Gottes willen,« rief er, »du warst ja bis heute noch unberührt.«
In Selbsthohn lachte sie auf, ohne die Augen zu öffnen.
»Und bin drei Jahre verheiratet,« zischte sie durch die langen, weißen Zähne. »Unsere Herren haben was Besseres zu tun, als sich um ihre Frauen – vielleicht überhaupt um Frauen – zu kümmern. Begreifst du jetzt, was jene Briefe mir waren?«
Er dachte bei sich: ›Welch unerhörtes Glück wird es sein, diesem stolzen und vernachlässigten Mädchentum auch seelisch nahezustehen!‹
Doch dann wieder war sie es nicht, die neben ihm lag und sich jetzt in aufblühendem Vertrauen an ihn schmiegte, eine andere hing in seinen Armen, die einst von ihm gegangen war, ohne ihm Erfüllung zu schenken, und die nun nach Jahren, verklärt durch neue Jugend, wiederkam.
Und dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie von sich zu erzählen begann. Anstatt ihren Worten zu folgen, lauschte er nur auf den schwirrenden Geigenklang ihrer Stimme und dachte immerzu: ›Da ist sie! Nach sieben Jahren ist sie endlich gekommen.‹
Es war, als sei sie nicht einen Augenblick lang von ihm vergessen gewesen, als hätte er sich immer und immer nach ihr gesehnt. Und neben ihm sprach es und sprach von bunten, fremden und, wie es schien, nicht sehr erheblichen Dingen. Von dieser hohen Persönlichkeit und jener, von dieser ungewöhnlichen Auszeichnung und jener, von dem eleganten und lustigen Ehekameraden – denn mehr war er ja nicht – von Viererzügen und Fuchsjagden, von Flirt und Tanz und niemals endenden Festen.
Manchmal schien es, als spräche sie gar nicht zu ihm, als ergösse sie ihre Bekenntnisse ins Leere hinein, und er wäre nur ein höchst unpersönliches Gefäß, das zufällig bereitstand, sie aufzufangen.
Da plötzlich schnellte sie in die Höhe, sah nach der Armbanduhr und sagte, die Lippen vorschiebend, wie zu sich selber: »So, jetzt ist es zu Ende.«
In wenigen Minuten war sie angekleidet, und vor dem Spiegel stehend, machte sie sich daran, das wirrgelöste Haar in den strengen Knoten zusammenzufügen, der jedes widerspenstige Löckchen zum Gehorsam zwang.
Hochaufgerichtet, ein wenig blässer vielleicht, doch strahlend in kühler und überlegener Unschuld stand sie vor ihm da, fast wieder fremd geworden, und viel fehlte nicht, so hätte die Anrede »Erlaucht« von neuem einen Sinn gehabt.
Er, neben dem Sofa sitzend, zog sie auf seinen Schoß hernieder. Sie widerstrebte nicht, aber ihr Blick ging schon in die Ferne.
»Wann sehe ich dich wieder?« fragte er mit einer Zärtlichkeit, in die ein wenig Angst sich mischte.
Sie zog ein paarmal die Achseln hoch, wie Kinder tun, die ihrer Hilflosigkeit beredten Ausdruck geben.
»Wer kann wissen?« sagte sie. »Ich bin sehr bewacht und sehr umgeben. Und ich habe auch sehr viel zu tun. Keine Stunde des Tages habe ich frei.«
»Was hast du denn soviel zu tun?«
Sie sah voller Staunen zu ihm nieder, als sei es ein Wunder, daß er danach erst frage.
»Nun – reiten,« erwiderte sie beinahe gekränkt. »Ich bin eine große Reiterin. Weißt du das nicht?«
»Wie sollte ich?« fragte er, »ich lebe ja deinen Kreisen ganz fern.«
»Aber mein Name steht doch so oft in den Zeitungen. Lies nur hübsch nach, da findest du ihn. Öfter vielleicht als den deinen.«
Das gab ihm einen kleinen Stich, denn von ihm war in der letzten Zeit nicht viel die Rede gewesen.
»Binden kann ich mich gar nicht,« fuhr sie fort, »jedes Versprechen, das ich erfüllen wollte, könnte schwere Gefahren nach sich ziehen. Und dann muß ich auch innerlich frei sein. Jawohl, das muß ich, sonst würde mir das alles unerträglich werden.«
›Schon?‹ dachte er.
Und dann küßte er sie lächelnd auf die Stirn, half ihr den Hut aufsetzen und den Mantel anziehen und gab sich zufrieden, daß sie ihm vor dem Öffnen der Zimmertür noch einmal zunickte – hingebend und vertraut und doch ein wenig leutselig, wie es ihm schien.
Eine Weile mußte er warten, ehe er ihr folgen konnte.
Auf dem Tische lag das Häuflein der Briefe achtlos hingeworfen, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten.
Während er sie zusammenraffte, fragte er sich: ›Was will ich mit diesem Kinde?‹, und fühlte zugleich, daß dieses Kind von ihm Besitz ergreifen würde, vielleicht schon ergriffen hatte – unbezwingbar, grausam, schicksalhaft.
Dann stellte er sich vor das Bild der toten Freundin und unterwarf es strenger Prüfung. Lässig gemalt war es gewiß, nur so hingepfeffert, um die Unruhe zu dämpfen, in der er sich damals verzehrt hatte. Aber wie viel Schmiß, wie viel treffsicherer Instinkt in jedem Pinselstrich!
Die Unruhe von damals, die würde jetzt wiederkommen. Das sah er klar voraus, vielleicht noch quälender und noch zermürbender als damals. Ob aber auch die Kraft, ihr durch gesteigerte Künstlerschaft die Stirn zu bieten?
Vor dem Weggehen rief er Frau Hellwig, die sich bisher nicht bemerkbar gemacht hatte, zu sich herein.
Voll geheuchelter Unbefangenheit erschien sie auf der Schwelle.
Es sei lange her, daß sie den Herrn Professor nicht gesehen habe, und der Herr Professor habe sich gar nicht verändert und so dergleichen.
»Das Bild Ihrer Herrin ist damals ohne Rahmen geblieben,« sagte er und schrieb die Adresse eines Vergolders auf seine Karte. »Wenn Sie es morgen da hintragen, wird es in wenigen Tagen nachgeholt sein.«
»Ja, ja,« sagte seufzend die Frau und warf einen schielenden Blick nach dem zerwühlten Bett, »wer hätte das damals gedacht?«