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Siebzehntes Kapitel

War Steffen Tromholt jemals durch irgend eine Leidenschaft verhext gewesen, so umso mehr von diesem Tage ab.

Verlorengegangen die schwer erkämpfte Seelenstille. Zerstoben der erste Lichtschein einer bescheidenen, aus Entsagung entstandenen häuslichen Heimat.

Gleich Larven aus einer fremden Welt starrten die Gesichter seiner Umgebung ihn an. Und wie aus gleichgültiger Ferne verklangen die Stimmen, deren inniger Wohllaut so lange die Welt erfüllt hatte. Verkrochen in seiner Werkstatt brachte er seine Tage hin, und wenn er ausging, trieb er sich bis in die Nacht hinein auf den Feldern herum, die nahe vor seinem Hause begannen.

Vergebens wartete Susi darauf, von ihm mitgenommen zu werden, vergebens hoffte Brigitte am Fortgang seiner Arbeit beteiligt zu sein. Dieses eine heilige Amt hatte in all den Jahren noch nie eine Schmälerung erfahren, und plötzlich nun verbarg er sogar vor ihr das Neugeplante und Neugeschaffene.

Daß darin in hundert Spielarten eine blonde Hochgestalt regierte, mit langgestrecktem Knabenkörper und einem Busen, der wie die zwei Äpfelchen der Holbeinzeit aus einem hageren Rippengewölbe in erzener Härte sich erhob, mit einem schmalnasigen Vogelköpfchen, das der straff geknotete Haarschopf noch kleiner, noch lebendiger machte, mit Augen, deren Lider den Blick hochmütig verschatteten, wenn sie nicht in kühler Bläue sternenhaft erstrahlten – das durfte Brigitte freilich nicht ahnen; denn vor ihrem alles erratenden Instinkte hätte dann das ganze Erlebnis offen dagelegen.

Neben dem großen Atelierraum gab es etliche Kabusen, durch das schräg abfallende Dach begrenzt und durch Mansardenfenster hinreichend beleuchtet. Hier versteckte er alle die begonnenen und halbfertigen Bilder, die zur Vollendung nur gedeihen konnten, wenn das, was seine Erinnerungskraft ihm bot, durch lebendiges Schauen ergänzt wurde. Vor ihnen stand er oft in der halbgeöffneten Tür und prüfte und verglich, tat hier einen Tupfen hinzu, schabte dort ein Lichtchen hinweg und verwob Kunsttrieb und fleischliche Sehnsucht so sehr in eins, daß er kaum mehr wußte, wonach ihn mehr verlangte, nach ihrem Modellstehen oder ihrer Umarmung.

Wochen und Wochen vergingen. Der Frühling kam ins Land. Er hörte nichts mehr von ihr.

Da, eines Maitags, las er in seiner Zeitung von einer Reiterquadrille, die nach der großen Frühlingsparade zusammen mit anderen Lösungen equestrischer Probleme dem Kaiser die Zeit Friedrichs des Großen vor Augen zu führen bestimmt war. Und unter den Mitwirkenden war unter anderen hochadligen Namen auch der ihre genannt.

Ein Brief an den obersten Herrn des Marstalls genügte, um ihm zu einer der Proben Eintritt zu verschaffen. Man werde die Ehre zu würdigen wissen, lautete die höfisch verschnörkelte Antwort, daß ein Maler von seinem Range sich herbeilassen wolle, dieses im kleineren Sinne auch historische Unternehmen als künstlerischer Historiograph zu verewigen.

Auf dem Bahnhof in Potsdam stand ein Hofwagen für ihn bereit, ja, ihm wurde sogar die Auszeichnung zuteil, am Eingang der Reitbahn von dem Allgewaltigen empfangen und den Herren des Komitees vorgestellt zu werden. Fürstliche Namen umschwirrten ihn, und weißbelederte Hände neigten vom Sattel sich huldvoll zu ihm herab.

Drüben aber in den Logen saßen schwarze, schmale Frauengestalten, steckten die Köpfe zusammen und äugten zischelnd zu ihm herüber.

Wo er Platz zu nehmen befehle – hier oder auf der Gegenseite, in der Nähe der Damen, die sich sicherlich glücklich schätzen würden, ihm bei der Arbeit zusehen zu dürfen.

»Wenn ich mich nach Möglichkeit unsichtbar machen könnte, so würde meinem Gestrichel am besten gedient sein.«

Da wies man ihm höflich einen Sitz, den einer der tragenden Pfeiler beinahe verbarg und der ihm gestattete, mit seinen Blättern und seinen Kreiden zu hantieren, ohne wichtig genommen zu werden.

Jetzt erst wagte er, nach ihr Ausschau zu halten. Aber aus der Entfernung sahen die drüben alle ganz gleich aus in ihrem schwarzen, enganliegenden Dreß und in dem goldberänderten Dreispitz, der als einziger Vorläufer die künftige Rokokopracht ahnen ließ.

Ein Glockenzeichen ertönte. Reitknechte, die draußen gewartet hatten, führten am Zügel die Damenpferde in den Raum der Manege. Die Gruppen in den Logen drüben lösten sich auf. Einige der schmalen Gestalten stiegen federnd und mit gehobener Schleppe in die sandige Bahn hinab. Andere setzten sich wieder. Mehrere Reiter waren rasch aus dem Sattel gesprungen, um den Damen beim Aufstieg behilflich zu sein.

Und da endlich erkannte er sie. In dunkler, schmächtiger Kurve hing ihr Körper wie schwebend an dem weißen Pferde herab, das in den Flanken tänzelnd sich wiegte. Um die ineinandergebissenen Lippen saß ein dünnes, gezwungenes Lächeln, und die schwerlidrigen Augen suchten das Leere.

›Wenn sie nah an der Brüstung vorbeikommt,‹ fragte er sich, ›werde ich sie dann begrüßen?‹

Aber natürlich. Er mußte ja. In aller Öffentlichkeit war er ihr vorgestellt worden. Jede Unterlassung würde ihm als plebejische Befangenheit ausgelegt werden.

Aber zu gleicher Zeit zuckte seine Hand nach dem Rotstift, und wenige Augenblicke später stand sie gebannt auf der weißpapierenen Fläche. Die Reihen ordneten sich. Wieder erklang eine Glocke, und zugleich setzte von einer oberen Galerie viertönig ein anschwellender Hornruf ein, der sich in eine muntere Melodie aufzulösen begann.

Kommandos schallten durch die Arena. Atembeengende Wichtigkeit legte sich über das müßige Spiel.

Knirschen, Klirren, Schnaufen und Scharren und ein wachsendes Durcheinander stetig verschobener Figuren.

Er aber arbeitete. Arbeitete, daß die Kreiden flogen und kleine Trümmerhaufen auf der Pappe zerspellten. Eine Gestalt nach der anderen wurde lebendig, und jeder Strich, keck und besonnen zugleich, brachte vom flinken Handgelenk aus Ansatz, Treffer, Vollendung.

Dabei zitterte er nach einem Blicke von ihr. Zweimal war sie schon dicht an ihm vorübergeritten, zweimal hatte er versucht, sich ihr durch Aufstehen bemerkbar zu machen, aber so angespannt, so hingenommen schien sie durch die welterschütternde Forderung, die ihr gestellt war, daß ihr Auge nicht um Haaresbreite von der Bahn abwich, die sie in der nächsten Zeit zu durchreiten hatte.

Auf dem Stuhle neben ihm häufte sich Blatt auf Blatt, Skizze auf Skizze. Kein Momentphotograph konnte eiliger vorwärts kommen als er. Manch Reiterstück hatte er schon gemalt, aber noch nie war ihm die Verbindung von Mensch und Pferd so sehr zum Kentaurentum verwachsen erschienen. Schließlich schaute er kaum noch aus, um Lissis Gestalt aus dem Knäuel zu lösen, und verfolgte nur fiebrig den Vorwurf, den sein Griffel gepackt hielt.

Da plötzlich hatte das Reitspiel ein Ende. Einige entstiegen dem Sattel, andere drängten zusammen, um vor dem Abschied noch ein wenig zu schwatzen. Manche Einzelheit, die Steffen bisher nicht genügend hatte festhalten können, wollte jetzt in der Ruhe rasch noch ergänzt sein.

Da trat der Oberstallmeister höflich-herablassend an ihn heran und erbat sich die »Gnade«, das eben Geschaffene kennenlernen zu dürfen. Helle Bewunderung begrüßte jegliches Blatt, das Steffen ihm über die Brüstung reichte.

Dadurch wurde die Neugier der anderen lebendig. Pferdeköpfe tauchten im Halbkreis schaumspritzend dicht vor ihm auf. Auch von den Damen geruhte diese und jene, in die von Hand zu Hand wandernden Blätter Einsicht zu nehmen.

Vorstellung wurde gewünscht, und Steffen erhielt Gelegenheit, seine Lippen über duftendes schwedisches Leder spazierenzuführen.

›Jetzt muß sie doch endlich auftauchen,‹ dachte er, bemüht, durch die Lücken der Pferdeleiber hindurch den Raum zu überschauen. Noch eine kam und wieder eine, aber sie – hatte die Reitbahn verlassen.

Grübelnd, verwirrt, verängstigt fuhr er nach Hause.

›Hat sie mich nicht gesehen? Hat sie mich nicht sehen wollen? Bereut sie, schämt sie sich meiner?‹, so jagten die Fragen wild durch sein Hirn. Tausend Pläne ersann er, ihr aufzulauern, sie zur Rechenschaft zu ziehen, sich aus ihrer Reue, aus ihrer Vertrotztheit sogar, neue Liebesmöglichkeiten zu holen.

Zu Mittag war er nicht nach Hause gekommen, und als er um die Vesperstunde endlich erschien, fand er das ganze Haus so verhungert, wie er selbst es war.

Aber Brigittens erster Blick galt der Mappe, die er unter dem Arme trug. Sie, die sonst niemals zu fragen wagte, wo er gewesen war, fühlte sich durch das Handwerkszeug, das ihn begleitet hatte, zu begierigem Forschen berechtigt. Und auch Susi drängte sich eifrig herzu. Einen Augenblick lang wollte er sie beide mit brüsker Weigerung abtun. Aber zugleich bedachte er, daß sein Geheimnis gewahrt bleiben würde, selbst wenn er sie teilnehmen ließ an dem, was der Tag ihm beschert hatte.

Rufe glückseligen Staunens empfingen auch hier jegliches Blatt, und die waren mehr wert als jenes stumpfe Gerede.

»Nicht ein Strich, der nicht säße,« jubelte Brigitte, »eine ganz fremde Welt hast du da hingezaubert. O Steffen, Steffen, was bist du für ein großer Kerl!«

›Leisten kann ich immer noch was,‹ dachte er, eine aufquellende Bitterkeit hinunterwürgend.

Und als Susi sich mit aufglänzenden Augen an ihn schmiegte, war ihm das vielleicht noch ein lieberer Lohn.

In dieser Nacht schlief er wenig, und als der Morgen graute, gab er schon alles verloren.

Aber an dem Abend des folgenden Tages brachte man ihm einen Brief, dessen Aufschrift ihm den Herzschlag zum Halse emportrieb.

 

Geehrter Herr Professor!

Sie werden ersucht, morgen nachmittag um sechs in meiner Wohnung zu sein.

Frau Anna Hellwig.

 

Nun war es klar: sie hatte ihn gesehen und hatte ihn verleugnet. Vielleicht tat ihr das leid, vielleicht wollte sie ihn für immer aus ihrem Leben entfernen – wer konnte es wissen?

Geladen mit finsteren Entschlüssen trat er den Weg zu dem Hause an, in dem höchstes Erleben und höchstes Erinnern eine Heimat hatten.

Heute war sie noch nicht da, und Frau Hellwig, die jetzt bei Tageslicht schwammig und ältlich aussah, führte ihn triumphierend vor das Bild, das, endlich von breitem Prunkrahmen umkleidet, im Schein der Abendsonne erstrahlte.

»Die kleine Lissi hat mir schon ein Vermögen dafür geboten,« sagte sie, »aber ich geb' es nicht her.«

Ein Glücksgedanke schoß ihm durch den Kopf.

»Vielleicht leihen Sie es mir für einige Zeit,« sagte er, »damit ich es für sie kopieren kann.«

Sie maß ihn mit bedenklichem Blicke. »Und wenn ich es nicht mehr wiederkrieg'?«

»Schämen Sie sich,« schalt er lachend.

Da gellte im Hausflur die Klingel.

Hoch, schmal, in flachen Bogenlinien, fast nur ein Lichtstreif, stand sie im Dunkel der geöffneten Tür, die hinter ihr leise ins Schloß fiel, und die kühlblauen Sterne ruhten fragend, gleichsam Rechenschaft fordernd, auf seiner Gestalt.

Ein heißer Groll stieg angesichts dieser sinnwidrigen Überlegenheit in ihm empor.

Er trat auf sie zu und packte sie bei den Armen.

»Also du kennst mich wirklich noch,« knirschte er, »nachdem du mich vorgestern so tapfer geschnitten hast?«

»Gerade um dieser Sache willen bin ich gekommen,« erwiderte sie, »und das war gewiß sehr unbedacht von mir. Denn es ist gar nicht so leicht, bei hellem Tageslicht nach solchen Gegenden hin zu verschwinden. Zuerst einmal eine Frage! – Aber du mußt mich loslassen.«

»Ist das dein ganzer Willkommen?« fragte er, von Ingrimm geschüttelt.

»Sei doch ein bißchen geduldig,« mahnte sie lächelnd. »Ich bin ja da, und bald wirst du mit mir machen können, was du willst. Aber vorerst sage mir eins: hast du dir um meinetwillen eine Einladung zu der Probe besorgt, oder war es ein Zufall?«

»An den Zufall glaubst du ja selbst nicht,« erwiderte er.

Sie warf sich in einen der rotplüschenen Sessel. »Und weil ich nicht daran glaubte, darum habe ich dich auch nicht wiedererkannt … Denn das geht nicht, mein lieber Herr Professor, daß Sie von meinem Leben Besitz ergreifen.«

»›Besitz ergreifen‹ ist köstlich!« hohnlachte er.

»Oder sich in mein Leben eindrängen oder – wie Sie das nennen wollen … Denn das Leben, das ich nun einmal führe, hat mit unserer Gemeinsamkeit gar nichts zu tun … Dies ist für mich etwas Abseitiges, ein Hafen, ein Schlupfwinkel, in den ich mich flüchten kann, wenn die Geschichte mir drüben zu bunt wird … Aber was da drüben nun einmal ist, gehört mir allein. Da darfst du mir nicht 'reingucken. Du würdest es auch gar nicht verstehen. Das ist eine Welt für sich, wie auch die deine es ist. Sieh, ich stöbere ja auch nicht bei dir herum.«

»Möchtest du nur!« rief er. »Es gibt da manches Bild, das lauert nur auf dich, damit ich es beenden kann.«

Ihr Mund und ihre Augen öffneten sich weit vor Entsetzen. »Um Gottes willen,« stieß sie hervor, »willst du sie etwa ausstellen?«

Er lachte. »Sei unbesorgt! Niemand, selbst nicht meine Frau, hat sie bisher gesehen.«

»Am Ende hast du mich sogar nackt gemalt!«

»Auch das. Bloß ein anderer Kopf sitzt darauf.«

»Und wenn man mich doch erkennt?«

»Wer sollte dich erkennen? Es gibt viele, die ähnlich gebaut sind wie du. Und nach dem, was ich von dir weiß, hat – außer deinem Gatten vielleicht – dich so noch niemals ein Mann erblickt.«

Nun schien sie einigermaßen beruhigt. »Komm zu mir,« sagte sie, auf die Sessellehne weisend, »aber bevor du mich küssest, mußt du mir feierlich versprechen, daß du so etwas wie vorgestern nicht wieder versuchst.«

»Und wenn doch einmal der Zufall mitspielt,« fragte er, »wie damals, als du mich dir vorstellen ließt, oder aber – bei Hofe?«

»Bist du denn eingeladen bei Hofe?« fragte sie, während in plötzlichem Respekt die Augen ihr weit wurden.

»In jedem Winter habe ich das Vergnügen ein- bis zweimal,« erwiderte er. »Meistens sag' ich ja ab, denn in den Eskarpins komm' ich mir lächerlich vor.«

»Nicht wahr, sie sind scheußlich?« bestätigte sie voll Eifer. »Mein Mann sagt immer: ›Das sind die Kavaliere zweiter Güte.‹«

Er lachte hell auf. »Und ebenso bin ich ein Liebhaber zweiter Güte,« erwiderte er.

Nun endlich schien sie zu fühlen, wohin sie in aller Unschuld geraten war.

»Schließlich habe ich dich noch verletzt,« sagte sie, und ehe er sich dessen versah, hing sie abbittend an seinem Halse.

Von nun an war sie ganz Willfährigkeit und ganz Inbrunst. Und erst als sie in ruhevollem Sattsein beieinanderlagen, kam ihr zurück, was sie fürchtete und begehrte.

»Du ahnst nicht, wie erschrocken ich war, als ich dich unter meinen Menagerietieren plötzlich auftauchen sah … Ich hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick wird alles ruchbar sein … Und um keinen Preis der Welt hätte ich mich dir auch nur mit einem Blicke zu nähern gewagt.«

»Wenn dich jemand beobachtet hätte,« erwiderte er, »der um unser offizielles Bekanntsein wußte, wie zum Beispiel der rote Husar oder die beiden Damen, die zu dir traten, so wäre dein Verhalten doch sehr unklug gewesen.«

Sie lächelte in mildem Besserwissen.

»O nein doch,« sagte sie, »dergleichen ist an sich so belanglos. Mit wieviel Leuten kommt man nicht in Berührung, die man im nächsten Augenblicke vergessen hat!«

»Auch wenn sie etwas vorstellen oder bedeuten? Wenn sie etwa Angehörige deiner Kreise sind?«

»Du bist aber kein Angehöriger meiner Kreise. Gott sei Dank, daß du es nicht bist; denn sonst dürfte ich nicht bei dir sein … Das Wort ›Ritterlichkeit‹ führen unsere Herren zwar zu allen Zeiten im Munde, aber was nach einem Kasinoessen morgens um zwei alles erzählt wird, davor haben wir Frauen doch schreckliche Bange. Drum bin ich sehr froh, daß du mit ihnen nie in Berührung kommst, und wenn dir etwas daran liegt, daß wir uns jemals wiedersehen, dann nähere dich mir nicht und schreibe mir auch nicht und warte, bis ich mich melde.«

»Und in welchen Zwischenräumen willst du das tun?«

Sie zog die zarten Mädchenschultern nach vorne.

»Wie kann ich mich binden, mein Lieber? Jetzt gehe ich zum Beispiel zu einer Tante aufs Land. Und später auf eins unserer Güter … Und zu Papa muß ich auch, damit er nicht zu viel dumme Geschichten macht … Seit Mama starb, ist mit dem alten Manne gar kein Auskommen mehr.«

»Wie alt ist er denn?«

»Ach, so sehr alt ist er noch gar nicht. Nicht viel älter als du. Und du bist doch noch ganz jugendlich in mancher Beziehung.«

Mit einem Auflachen küßte er quittierend die streichelnde Hand, als wäre sie schuld an der neuen Ohrfeige, die er soeben erhalten. Dabei aber fühlte er, wie er sich mit jedem Augenblicke mehr an dieses junge Menschenwesen verlor, das ihn mißhandelte, indem es ihn spielend umkoste.

»Dann würde ich dich also im Laufe des Sommers gar nicht mehr sehen?« fragte er, des quälerischen Wartens gedenkend, in dem er die letzten zwei Monate hingebracht hatte.

Sie ründete überlegend die schmalbogigen Lippen. »Das ist nicht gesagt,« erwiderte sie, »inzwischen komme ich immer wieder mal her, und wärst du dann da – –«

»Du müßtest mir nur zeitig genug Nachricht geben,« sagte er, »so daß ich nach Berlin fahren könnte.«

»Ach ja, du sollst ja da irgendwo ein schönes Schloß haben, hörte ich erzählen. Und überhaupt! Schade!«

»Was: schade?«

»Ach nichts. Im Gegenteil. Froh sein. Zufrieden sein. Liebhaben.«

Damit warf sie sich über ihn und erstickte ihn fast unter ihren peitschenden Küssen.

»Ist es nicht eine Schmach,« fragte sie, sich unterbrechend, »daß eine wohlerzogene Tochter aus immerhin besseren Ständen so unsittlich ist?«

»Ich glaube, du hast gedarbt genug,« erwiderte er.

Sie dachte ein wenig nach. »Ich weiß nicht, ob ich gerade gedarbt habe. Ehe ich deine Briefe las, wußte ich kaum, was Liebe bedeutet … Aber meine Mutter, die hat gedarbt. Und nach dir gebangt hat sie sich bis zu ihrem letzten Atemzug.«

In ihm quoll eine sinnlose Sehnsucht heiß empor. »Sprach sie denn oft von mir?« fragte er.

»O nein, das nicht. Aber – das fühlt man. Das hat man im Blute. Und wenn jetzt ich dich umarme, umarme ich dich auch für sie.«

Alles, was die Tote ihm einst gewesen war, wurde von neuem in ihm lebendig. Und ein plötzlicher Gram um sie überwältigte ihn. Er riß den Körper der Tochter an sich und barg das Gesicht an ihrer Brust, damit sie seine Tränen nicht sehe.

»Wenn sie mich wirklich so liebhatte«, fragte er leise, »und du jetzt an ihrer Stelle bist, wirst du mich liebhaben wie sie?«

»Hab' ich dich nicht lieb?« fragte sie verwundert zurück.

Er schüttelte ablehnend den Kopf.

Sie warf sich empor und sah von ganz nah her in seine nichts mehr verbergenden Augen.

»Kann dir eine Frau noch stärkere Liebesbeweise geben als ich? Sind die überhaupt möglich? Ich liege hier schamlos und mir selber ganz fremd – und du willst noch mehr von mir?«

»Laß, laß, du verstehst mich nicht,« wehrte er ab.

»Nein,« sagte sie mit einem kleinen Aufbegehren, »da verstehe ich dich wirklich nicht.«

Aber dann war sie wieder ganz zärtlich, und als sie erklärte, ihre Zeit sei um und sie müsse eilends in ihre Kleider schlüpfen, schien kaum der Schatten einer Mißempfindung zwischen ihnen zu liegen.

»Wann also werde ich dich wiedersehen?« fragte er beim Scheiden, um sich wenigstens eine kleine Hoffnung zu sichern.

»Quäl mich doch nicht!« sagte sie und ließ nach ihrer Gewohnheit die Schultern auf- und niederfliegen. »So ein Entschluß fällt immer sehr schwer. Wir müssen eben hübsch warten.«

Noch einmal küßte sie ihn, spielend, schmatzend, wie Kinder tun, und dann ging sie von hinnen.

Hinter dem Vorhang verborgen sah er sie in weißschimmernder Linie durch die Dämmerung dahingleiten, und das Gefühl seiner Würdelosigkeit stieg siedend heiß in ihm auf.

›Der bin ich verfallen,‹ dachte er, in Ohnmacht sich windend, und nirgends fand sich ein Weg in die Freiheit.


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