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5. Bemühungen Maximilians um die Königswahl seines Enkels. Sein Tod. Wahlkampf. Politik Leos. Kaiserwahl Karls V. 28. Juni 1519. Lorenzo Medici stirbt. Pläne Leos auf Parma, Piacenza, Ferrara. Giampolo Baglione hingerichtet Juni 1520. Karl kommt nach Deutschland. Krönung in Aachen. Fortgang der Reformation. Reichstag zu Worms. Das Wormser Edikt.
Die entstehende Reformation begleitete der große Wahlkampf im Reich. Unablässig bemühte sich Maximilian, die Wahl seines Enkels zum römischen Könige durchzusetzen, das habsburgische Kaiserturn in ihm fest zu gründen. Einst, so hoffte er, würde der mächtige Karl Mailand und französisch Burgund wiedererobern und die Herrlichkeit des Reiches herstellen. Die Stände widerstrebten, teils von Frankreich erkauft, teils die zu große Erbmacht Karls fürchtend; auch sei es unerhört, einem lebenden, noch ungekrönten Kaiser einen Nachfolger zu geben. Maximilian wollte sich deshalb krönen lassen. Da ihm Franz I. die Romfahrt versperrte, begehrte er vom Papst die Absendung eines Krönungslegaten mit der Krone nach Deutschland. Dies zeigte, wie die mystischen Vorstellungen von der römischen Kaiserkrönung in der Zeit geschwunden waren, wo sich das Reich von Rom zu trennen und deutsch zu werden begann. Der Papst lehnte dies Begehren ab. Zornig sagte des Kaisers Botschafter in Rom: der römische Hof will dem Kaiser die Krone nicht schicken; wohlan, einst kommt der Tag, wo er es gern wollen, aber nicht mehr können wird. Ohne seine Wünsche erreicht zu haben, doch ihrer Verwirklichung nahe, starb Maximilian am 12. Januar 1519 zu Wels in Österreich: ein unvergeßlicher Monarch, die deutsche Kaisergestalt der Renaissance auf der Grenzscheide zweier Zeitalter, romantische Ideen mit praktisch modernem Wesen mischend; der letzte Ritter, einer der ersten Politiker; Schöpfer eines ersten nationalen Heersystems und preiswürdig durch sein Bemühen, dem sich auflösenden Reichskörper durch eine Verfassungsreform mehr Einheit und Kraft zu geben. Obwohl unglücklich in seinen Bestrebungen, hatte er doch die Reichsidee wieder belebt, in dem ganz verkommenen Deutschland die kriegerischen und nationalen Triebe erweckt und ihm in den Niederlanden ein Bollwerk gegen das vordringende Frankreich aufgestellt.
Das deutsche Kaisertum war freilich durch die immer monarchischer werdende Macht der Landesfürsten bereits zu einer wesenlosen Schattengestalt aufgezehrt. Wie ohnmächtig, wie hilflos war nicht die Reichsgewalt selbst unter Maximilian gewesen. Aber dies verblaßte Imperium konnte doch demjenigen Fürsten die europäische Herrschaft verleihen, welcher es mit einer mächtigen Krone zu verbinden vermochte. Jetzt strebten nach der Kaiserwürde die größten Monarchen, Heinrich VIII., Franz I., Karl I., drei junge hochbegabte Männer, die Repräsentanten der europäischen Gewalten überhaupt. Ihre Bewerbung drückte aus, daß es sich hier handelte um die Renaissance des Cäsarentums. Das Schicksal Europas hing von der Frage ab, an welche Krone die Reichsgewalt fallen werde, an Frankreich oder an Spanien-Habsburg. Beide Bewerber waren gleich stark: Karl I. gebot über mehr Länder, aber Franz I. beherrschte eine blühende Monarchie, mit deren geeinigter Kraft sich die zerstreuten, einander fremden Gebiete Karls nicht messen konnten. Einige Reichsstände waren durch Bestechung längst für Franz gewonnen. Der Papst schwankte: ein jeder der Prätendenten war ihm zu mächtig, ein jeder hielt seinen Fuß in Italien. Obwohl der päpstliche Einfluß bei der Kaiserwahl nicht mehr das frühere Gewicht hatte, war er doch nicht bedeutungslos: die Kandidaten bewarben sich eifrig um die Stimme des Papsts. Sein Legat Caetanus forderte die Reichsfürsten in Wesel auf, nicht Karl zu erwählen, weil er auch König von Neapel sei und die Vereinigung dieser Krone mit dem Reich der Konstitution Clemens' IV. zuwiderlaufe. Zwar gab sich Leo den Schein, als ob er die Wahl Franz' I. unterstütze, wozu er den Bischof Robert Orsini nach Deutschland schickte; doch im Grunde wollte er nur Karl und Franz durcheinander bestreiten und die Wahl eines Dritten, eines kleinen deutschen Fürsten, durchsetzen. Schon nach dem Augsburger Reichstag rieten Leo und Lorenzo Medici dem Könige, von der Reichskandidatur abzulassen und dahin zu wirken, daß ein schwacher deutscher Fürst gewählt werde. Leo dachte an Friedrich von Sachsen; auch manche Reichsstände wünschten diesen. Aber der edle Kurfürst erkannte seine unzureichende Kraft und lehnte diese Ehre ab. Auch den Kurfürsten von Brandenburg schlug der Papst vor, doch sah er ein, daß die Erwählung Karls unausbleiblich sei. Und schon am 17. Januar 1519 hatte er mit ihm ein geheim gebliebenes Bündnis geschlossen, welches gegen die Übermacht Frankreichs gerichtet war. Augenblicklich konnte ihm die noch unbedeutende Persönlichkeit Karls weniger gefährlich erscheinen als der sieggekrönte Franz. Karl schien ganz vom Herrn von Chièvres beherrscht, und dieser neigte, wie man annahm, zu Frankreich. Durch Karl konnte Leo viele Vorteile erlangen: Vergrößerung des Kirchenstaats, Erweiterung der Macht der Kurie in Spanien und Deutschland, Ausrottung der lutherischen Ketzerei durch kaiserliche Autorität.
Vor dem Patriotismus der Deutschen zerfielen die französischen Sophismen, welche die Gleichgültigkeit der Nationalität des Reichsoberhaupts geltend machten oder auf die uralte Frankendynastie zurückwiesen, als ob Karl der Große Franzose gewesen sei. Deutschland wollte keinen Welschen auf dem Thron der Salier und Hohenstaufen sehen. Als Fürst von Burgund und König von Spanien war hier Karl freilich ein Fremder, aber doch Enkel Maximilians und eines erlauchten Kaisergeschlechts. Die Versprechungen seines Großvaters an die Kurfürsten hatte er erneuert und noch vermehrt. Die drohende Türkenmacht, die wachsende Größe Frankreichs, die Hilflosigkeit des Reichs forderten einen Kaiser mit starker Macht: so wurde der Enkel Maximilians am 28. Juni 1519 zu Frankfurt erwählt.
Die Kaiserwahl Karls V. war der große Wendepunkt in der Geschichte Europas, wo die neuen staatlichen und kirchlichen Verhältnisse gegründet wurden. Dieser außerordentliche Mensch, durch Glück und Macht hoch hervorragend, begann seine Laufbahn geräuschlos und mit leiser Vorsicht, bis ihm der Ehrgeiz und Hochmut Frankreichs und die Politik des Papsts den Gedanken der Renaissance der cäsarischen Weltmonarchie aufdrängten. Als dieser mittelalterliche Traum zerfiel, enthüllte sich nach einem furchtbaren Zusammenstoß der Nationen die moderne Wirklichkeit der europäischen Monarchien. Karl V. war wider Willen und Absicht eine revolutionäre Macht. Er half der Reformation das Papsttum zerstören. Dann hat die Reformation sein Cäsarentum zerstört. Jene lateinischen Hierarchien, das Reich und die Kirche, wurden für immer machtlos. An die Stelle ihrer Gegensätze, die das Europa des Mittelalters erzeugt hatten, trat fortan das germanische und romanische Kulturprinzip, Katholizismus und Protestantismus und der Kampf Frankreichs mit Deutschland um die europäische Hegemonie. Das politische Leben Italiens wurde in diesem Prozeß aufgezehrt.
Ein wütender Krieg zwischen Karl V. und seinem tief beleidigten Nebenbuhler stand zunächst in Aussicht. Dies Frankreich, von des Kaisers Ländern, Flandern und Spanien, im Norden und Süden umschlossen, war zu mächtig, um eine auf solchen Grundlagen erneuerte Reichsgewalt zu dulden, und dieser Kaiser war zu mächtig, um die Größe Frankreichs und seine Herrschaft in Mailand zu ertragen.
Viele deutsche Patrioten begrüßten das Kaisertum Karls mit großen Erwartungen. Man ahnte, daß die Zeit in hohen Wogen gehen werde, daß alle kleinlichen Verhältnisse der Geschichte abfallen, die Politik Europas kolossale Maßstäbe annehmen müßten. Der Anblick der Kaiserkrone auf dem Haupt eines erst neunzehnjährigen Fürsten, welcher Spanien, Flandern, Neapel und Sizilien mit Deutschland zu einem Reich verband und sich »König der indischen Inseln und des ozeanischen Festlandes« nannte, machte dies klar. Es gab Idealisten, welche die Wiederherstellung des hohenstaufischen Reichsideals hofften; doch kühlere Staatsmänner konnten sich sagen, daß von Karl V. die Durchführung einer deutschen Nationalmonarchie nicht zu erwarten sei. Sie konnten eher die Romanisierung Deutschlands durch diesen Kaiser fürchten.
In Rom feierten die Anhänger Karls Freudenfeste. Mit Fackeln durchzogen Spanier und Colonna die Straßen, jubelnd: »Spanien und Reich.« Wie tot blieben die Gesandten Frankreichs. Der Papst selbst versank in tiefes Nachdenken. Die spanischen Botschafter Don Luis de Carroz und Don Hieronimo Vich eilten zu ihm, ihn zu bewegen, sich jetzt von Frankreich zu trennen und zum Kaiser zu halten. Doch für Leo war die Wahl Karls, die er hatte gutheißen müssen, immer eine Demütigung und die Niederlage des römischen Systems. Sie zerstörte das Gleichgewicht der Mächte. Das Kaisertum Karls mußte einen unwiderstehlichen Druck auf Italien ausüben und das Papsttum früher oder später in seine Machtsphäre ziehen. Die Lage desselben war derjenigen gleich geworden, in der es sich zur Zeit Friedrichs II., des Herrn von Neapel und Sizilien, befunden hatte.
Die Anerkennung der Wahl Karls zeigte den Rückzug Leos aus seinen französischen Verbindungen an, und diesen hatte ihm der Tod seines Nepoten erleichtert. Lorenzo starb am 4. Mai 1519, sechs Tage nach seiner französischen Gemahlin, welche ihm am 13. April Caterina Medici geboren hatte. So erlosch der legitime Stamm der Cosimo; denn nur ein Bastard Alessandro blieb von Lorenzo übrig, und dies gab den Florentinern Hoffnung, ihre staatliche Unabhängigkeit wiederzuerlangen. Machiavelli riet dem Papst, Florenz die Freiheit, wenn auch unter mediceischer Oberhoheit, wiederzugeben. Aber Leo schickte dorthin gleich nach Lorenzos Tode als Regenten den Kardinal Lodovico Rossi, dann Julius Medici. Er sah Florenz als ein mediceisches Hausgut an. Das Herzogtum Urbino zog er zur Kirche ein, nur die kleine Grafschaft Montefeltre und San Leo schenkte er den Florentinern als Entschädigung für die Kosten des Kriegs um Urbino; Sinigaglia verlieh er dem Giammaria Varano.
Mit dem Schicksal des Augustus konnte er das seinige vergleichen. Seine Nepoten, die er als mediceische Könige in Italien hatte einpflanzen wollen, waren beide dahingeschwunden. Ohne Michelangelo, der sie durch ihr Grabmal unsterblich machte, würde heute selbst ihr Name vergessen sein. Indes der Tod Lorenzos war für Leo, nach der Meinung seiner besten Freunde, ein Glück. Wenn dieser nicht unfähige Nepot länger gelebt hätte und wenn er der Mann für Machiavellis patriotische Hoffnungen gewesen wäre, würde er wohl die Wege des Cesare Borgia auch im Kirchenstaat eingeschlagen haben. Jetzt aber befreite sein Tod den Papst von tausend Verlegenheiten, auch vom Nepotismus überhaupt. So wurde der Kirchenstaat zwar vor der Vergewaltigung durch die Medici gerettet, doch dieser Fetzen Landes blieb die ewige Quelle von Kriegen und Erschütterungen. Kein Papst konnte sich mehr aus dem Bann befreien, in welchen ihn die weltlichen Bestrebungen der Päpste Sixtus IV., Alexander VI. und Julius II. geschlagen hatten.
Die weltliche Politik, der Kirchenstaat, die Stellung in Italien, blieben der Angelpunkt des Papsttums. Zwischen den zwei großen Nebenbuhlern stehend, schwankte Leo X. hin und her, beiden Versprechungen machend und ablockend, den einen durch den andern steigernd, während alle Mächte Europas seit der Kaiserwahl Karls in Bewegung waren, Bündnisse und Gegenbündnisse aufzustellen. Man hat gesagt, daß Falschheit ein Charakterzug der Medici war, und Leo X. soll sich offen zu dem Grundsatz bekannt haben: wenn man mit der einen Partei ein Bündnis macht, dürfe man nicht aufhören, mit der Gegenpartei zu unterhandeln. Die Seele dieser Künste war der Kardinal Julius Medici, und er sollte als Papst an ihnen kläglich untergehen. Parma, Piacenza und Ferrara mit dem Kirchenstaat zu vereinigen, blieb jetzt der rastlose Gedanke Leos: das Mittel der Krieg, vor welchem Venedig dringend warnte: Zweifel quälte ihn, ob dieser Krieg im Bunde mit dem Kaiser oder dem König zu führen sei. Im Jahre 1519 (der Monat ist ungewiß) entwarf er einen Vertrag mit Franz I.: er genehmigte die Eroberung Neapels für einen französischen Prinzen, nur sollten das Grenzland und Gaëta zum Kirchenstaat geschlagen werden. Dafür versprach der König, zur Eroberung Ferraras behilflich zu sein. Zum Abschluß kam es nicht, denn Leo unterhandelte auch mit Karl, den er durch seine französischen Beziehungen zu größeren Zugeständnissen drängen wollte. Von ihnen machte er die Investitur Neapels abhängig.
Nun wagte er am Ende des Jahres 1519, da der Herzog Alfonso krank lag, einen ersten listigen Versuch, sich Ferraras zu bemächtigen, welches der Bischof Alessandro Fregoso von Bologna aus mit Truppen überfallen sollte. Nur die Wachsamkeit Federigo Gonzagas rettete damals Alfonso. Selbst meuchelmörderische Anschläge gab der Herzog dem Papste schuld; ein Jahr später soll ihn nur die Treue eines deutschen Hauptmannes gerettet haben.
Besser gelang Leo im Frühjahr 1520 ein Anschlag gegen den Tyrannen von Perugia. Der frevelvolle Giampolo Baglione hatte bei den Venetianern lange mit Auszeichnung gedient und sich nach dem Tode Julius' II. seiner Vaterstadt wieder bemächtigt. Es ist nicht klar, warum der Papst erst jetzt gegen ihn einschritt. Er tat dies mit derselben Arglist, die er gegen den Kardinal Petrucci gebraucht hatte. Giampolo hatte seine Tochter Elisabetta dem Camillo Orsini zum Weibe gegeben und die Hochzeit in Castiglione del Lago prächtig gerüstet. Sein Sohn Orazio war mit dem Bräutigam von Rom, sein anderer Sohn Malatesta von Venedig zum Fest gekommen. Da hörte man, daß päpstliches Kriegsvolk gegen Perugia vorrücke, und man brach in Eile auf. Giampolo kehrte nach Perugia zurück, wo er Truppen sammelte. Es ist unbegreiflich, wie dieser Mann, welcher einst den Schlingen der Borgia entronnen war, sich in die des Papsts locken ließ. Mit dessen Sicherheitsbrief und auf die Orsini vertrauend, ging er nach Rom. Hier am 17. März angekommen, sagte man ihm, daß der Papst in der Engelsburg sei: er eilte in dies offene Grab und verließ es nicht mehr. Die Geständnisse, welche er auf der Folter machte, sollen gräßliche Mysterien enthüllt haben. Am 11. Juni wurde Giampolo enthauptet und dann in S. Maria Traspontina begraben. Seine Söhne entflohen ins Königreich Neapel, hierauf nach Venedig. In Perugia wurde Haupt der Regierung Gentile Baglione, ihr Oheim.
Karl befand sich unterdes in Spanien, wo die Stände Kastiliens und Aragons gegen ihren flandrischen Herrn schon in Empörung begriffen waren. Seine Lage war gefahrvoll, er bedurfte des Friedens, sich erst in seiner Herrschaft zu befestigen. Er mußte Verbündete suchen, vor allem den Papst gewinnen. Trotz der Gärung des Landes verließ er am 20. Mai 1520 Spanien, wo er den Kardinal Hadrian zum Regenten einsetzte, um nach Flandern, sodann nach Deutschland zu gehen. Den eitlen Heinrich VIII., den Gemahl seiner Tante Katharina von Aragon, wollte er zuvor für sich stimmen und den Kongreß unschädlich machen, welchen dieser König mit Franz I. zu Calais verabredet hatte. Er kam mit ihm in Dover zusammen und erreichte seinen Zweck: Wolsey namentlich wurde durch Pensionen und andere Zusagen vollständig für Karl gewonnen. Hierauf ging dieser nach Deutschland. Am 22. Oktober 1520 wurde er in Aachen gekrönt: in Köln schrieb er seinen ersten Reichstag nach Worms aus, zum 6. Januar 1521.
Deutschland war damals durch die kirchliche Bewegung weit und breit entflammt. Den Bann hatte der Papst am 15. Juni 1520 über Luther ausgesprochen. Diese übereilte Bulle hatte Eck in Rom gefordert und erlangt und sie in der Eigenschaft eines apostolischen Nuntius nach Deutschland gebracht. Von ihm und den Legaten Aleander und Caracciolo wurde sie hier öffentlich kundgemacht.
Sie hatte keine andere Wirkung, als daß sie die Flammen der Empörung Deutschlands zum heftigen Brande auflodern ließ. Der Spott der freien Geister verlachte sie, der Ruf nach Freiheit übertönte sie. Luther appellierte an ein Konzil; zwei gewaltige Schriften ließ er ausgehen, im August die erste »An den christlichen Adel deutscher Nation«, im Oktober die andere »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche«. Sie faßten mächtig. Es wogte ein Geistessturm durch das ganze Deutschland, und nie hat ein gleicher ein Volk so im Innersten sittlich aufgeregt: nie handelte es sich seit der Entstehung des Christentums um eine das gesamte Volksleben so gewaltig umgestaltende Revolution. Die ganze Rechtsverfassung, das ganze Lehrgebäude der katholischen Kirche, ihren Kultus und ihr Priestertum, ihr Vermögen und ihre Güter verneinte Luther, forderte das evangelische Christentum, die entwendeten Rechte der Gemeinde zurück, für Deutschland die Nationalkirche mit einem Primas als Haupt. Am 10. Dezember warf der kühne Mann die Bannbulle in den Scheiterhaufen zu Wittenberg. So riß er sich für immer vom Papsttum los. Seit diesem Tage hat sich das deutsche Volk dem Kampf gegen jede Gewissenstyrannei geweiht; da ward es zur geistigen Führung der Welt berufen. Es war dieselbe ernste und gläubige Nation, welche das verderbte Römerreich zertrümmert, das germanische Imperium aufgerichtet, das Papsttum in Rom erhoben und befestigt, für das große Kulturideal der christlichen Republik jahrhundertelang ihr Blut in Italien dahingegeben hatte: jetzt zerriß sie im Zorn die starken Ketten der Geschichte, die sie seit Karl dem Großen an Rom und sein entartetes Papsttum gebunden hielten.
Der große Reformator war eine nationale Macht geworden. Einst hatte der genialste aller deutschen Kaiser in seinem Kampf mit dem Papsttum tragisch untergehen müssen, weil er sich dem Boden seiner Nation entzog. Jetzt siegte ein Sohn des deutschen Volks in demselben Kampf, weil ihm der Boden seines Vaterlandes die Kräfte des Antaeus gab. In Luther war die ganze sittliche Natur Deutschlands verkörpert. Im Herzen dieses einen Mannes, des teuersten Kleinods unsrer Geschichte, ruhte das Schicksal des deutschen Volks. Nicht ein Heer könnte mehr, so schreiben die Nuntien dem Papst, diesen Mönch seinem Vaterlande entreißen und mit Gewalt nach Rom bringen. So seltsam verketteten sich die Verhältnisse, daß Luther zu einem Hebel der Weltpolitik werden konnte. Schon Maximilian hatte gesagt: Luther kann mir einst wider diese Feinde (die Päpste) nützlich werden; und dies begriff auch Karl. Der junge Kaiser stand gerade in den lebhaftesten Unterhandlungen mit dem Papst; denn der ehemalige Kanzler Sforzas, Girolamo Morone, und Don Juan Manuel, kaiserlicher Botschafter in Rom, bemühten sich, Leo zum Abschluß einer Liga mit Karl zu gewinnen, deren Zweck die Vertreibung der Franzosen aus Mailand war. Dort wollte der Kaiser Francesco Maria, den Bruder des verstorbenen Massimiliano Sforza, als Herzog einsetzen: mit Parma und Piacenza, selbst mit Ferrara, endlich mit der Ausrottung der Ketzerei in Deutschland wollte er das kostbare Bündnis des Papsts erkaufen.
Am 3. Januar 1521 erließ Leo das Anathem wider Luther und seine Anhänger. Im Februar kam Karl V. zu dem denkwürdigen Reichstage nach Worms, um hier zum erstenmal vor sein Volk zu treten. Es erwartete ihn mit Ungeduld: es schmachtete nach Erlösung aus unerträglichen Zuständen in Kirche und Staat. Die Führer der nationalen Bewegung, Hutten und Sickingen, hatten Karl, als er nach dem Rheine zog, aufgerufen, sich an die Spitze der Nation zu stellen, Deutschland wieder zur ersten Macht der Welt zu erheben, den Kampf gegen seine zwei großen Feinde aufzunehmen, Frankreich und Rom: das ganze deutsche Volk würde er dann mit Begeisterung unter seinen Fahnen sehen. So glichen damals die Deutschen den Italienern zu Dantes und Petrarcas Zeit, als sie die Kaiser wie Heilande ihres zerrissenen Vaterlandes mit Sehnsucht herbeiriefen. Der Enkel Maximilians war dem deutschen Wesen fremd, obwohl seine Gestalt germanisch erschien: ein junger Mann mittlerer Größe, blaß, mit freier Stirn und blauen Augen, die Unterlippe trotzig vorgedrängt, einsilbig und schwermütig; kein Herz sprach aus seinen phlegmatischen Zügen. Nichts verriet den großen Staatsmann, wenn nicht das abgemessene und schweigsame Wesen. Er hatte noch keine größeren Pläne, als sich die Herrschaft der Länder zu sichern, die er besaß. Seine weiteren Aufgaben waren: in Deutschland die Anarchie der Verfassung und die kirchliche Revolution, im Osten die furchtbare Türkenmacht, im Westen den ruhelosen Ehrgeiz Frankreichs zu bändigen. Frankreich reizte ihn zum Krieg. Er wollte diesen führen, aber im Bündnis mit demselben Papst, von dem sich loszureißen ihn das junge Deutschland ermahnte. Die legitime Reichsidee, der Besitz seiner katholischen Länder, eigene Überzeugung trennten ihn für immer von der Reformation. Daß er sich nicht an deren Spitze stellte, war ein Glück für sie, denn in den Händen des Kaisers würde sie verfälscht worden sein. Unter schrecklichen Kriegen mit der Reichsgewalt und der Papstgewalt mußte sie ihr Dasein erkämpfen, um das freie Besitztum des Volks zu bleiben, dessen Tat sie war. Sie zerriß Deutschland, ohne dessen Kaiser sie nicht vollständig national werden konnte; sie öffnete Frankreich die Landesgrenzen, und sie erschöpfte durch den Dreißigjährigen Krieg die Kraft Deutschlands für lange Zeit. Aber ihr rastlos fortarbeitender, alle Lebenssäfte der Nation erneuernder Geist war es doch, welcher nach einem Prozeß von drei Jahrhunderten die politische Reformation Deutschlands zu einem Nationalreich vollzog, dessen Staatsidee und Macht sittlicher und größer sind, als es jenes kolossale Weltreich Karls V. gewesen war.
Als der Kaiser, vom Legaten Aleander begleitet, nach Worms ging, war er schon bereit, Luther zu opfern, denn sein Botschafter in Rom meldete ihm den nahen Abschluß der Liga mit dem Papst. Am 16. April 1521 kam Luther mit kaiserlichem Geleitsbrief. Der fanatische Aleander forderte, ihn einfach in die Reichsacht zu tun; die Stände aber verlangten sein Verhör. Der 17. und 18. April, wo Luther im Dom zu Worms vor Kaiser, Fürsten und Ständen die Unbesiegbarkeit eines sittlich freien Menschen aussprach, sind Tage des hellsten Glanzes in der Geschichte des deutschen Geistes, unverlöschbare Triumphe in der Geschichte der Menschheit überhaupt.
Am 26. Mai unterschrieb der Kaiser die von Aleander verfaßte Achtserklärung, ein Edikt in der maßlosesten Sprache, welches den größten Mann Europas als einen leibhaftigen Luzifer auszurotten befahl. Dies Aktenstück, den Ständen, die meist schon abgereist waren, nicht vorgelegt, hatte keine rechtliche Form. In Rom verbrannte man Luther im Bilde; man glaubte, daß jetzt alles abgetan sei. Zumeist um dieses Ediktes willen hatte sich Leo entschlossen, von Frankreich zurückzutreten, mit dem Kaiser sich offen zu verbinden. Und doch begriff dieser sehr wohl, daß die Vernichtung Luthers ihn eines mächtigen Werkzeuges gegen diesen wandelbaren Papst berauben würde. Die Zeiten des Hus waren in Deutschland vorüber; das Wormser Edikt blieb auf dem Papier. In der sicheren Stille der Wartburg ließ der Reformator die ersten Stürme vorüberziehen.
Die Geschichte der Reformation, das ist der Renaissance des Christentums und der Neubildung der Kulturwelt durch den deutschen Volksgeist, gehört nicht in die der Stadt Rom im Mittelalter. Nur an deren Grenzen steht die große Gestalt Luthers, beleuchtet von den Reflexen der vergangenen Kaiserzeit. Die lange Reihe jener Ghibellinen, welche von Heinrich IV. und Arnold von Brescia bis zu ihm hinabreicht, gewinnt in ihm das geschichtliche Resultat. Die Reformation machte theoretisch und praktisch der päpstlichen Universalgewalt ein Ende, und sie schloß als ein Weltabschnitt das Mittelalter. An solchen gelangt die Menschheit, so oft sie eins der großen Lebensprinzipe entdeckt, welche so einfach sind wie Gesetze der Natur. Wenn man die Gestaltung der christlichen Kirche vom apostolischen Symbolum bis auf Leo X. überblickt, so hat man das zusammenhängendste und größte Werk menschlicher Geistesarbeit vor sich: die Ablagerung eines Gedankenprozesses von Jahrhunderten ohne jede Unterbrechung; das riesige Produkt des Verstandes, Wissens und Gefühls, des Genies und des Wahns von Nationen und Zeitaltern; ein nicht auszudenkendes System von Gebräuchen, Formeln, Geheimnissen und Symbolen, von hellen und finsteren Träumen, von Rechten und Usurpationen, von Wahrheiten und Erdichtungen, von tausend Gesetzen, Ordnungen und Sozietäten: was alles ein moralisches, um einen mystischen Mittelpunkt gravitierendes Ganze von solcher Großartigkeit bildet, daß dieser kirchliche Kosmos selbst an der Sphäre jenseitiger Himmel keine Grenze findet. Nach anderthalb Jahrtausenden des Wachsens und Bestehens dieser staunenswürdigen Schöpfung machte der deutsche Geist die Entdeckung, daß der Mensch dieses ungeheuern formalen Apparats zur Glückseligkeit entbehren könne, ohne aufzuhören, tief religiös und ein Christ zu sein. Dies war die größte Entdeckung seit der Entstehung der Kirche überhaupt. Die Reformation vereinfachte die religiösen Verhältnisse, indem sie dieselben im Gewissen vertiefte. Sie befreite den christlichen Gedanken von seiner Materialisierung im Mittelalter. Sie reinigte den Kultus, die Lehre und die Verfassung der Kirche von vielem, was darin Mythologie, Scholastik und hierarchische Herrschsucht aufgehäuft hatten. Sie fand das Christentum als einen im Lauf der Zeit tausendfach überschriebenen Palimpsest vor und stellte dessen kaum noch kenntliche Urschrift, das Evangelium, wieder her. Sie entfesselte vom Bann einer übernatürlichen Autorität die menschliche Vernunft, das Gewissen und das Recht der Persönlichkeit, die Wissenschaft und den Staat. Sie tat, was in jener Zeit ein bewundernswerter Mut war: sie sagte sich von dem größten Institut der Welt, vom Papsttum los, in welchem sie nur noch einen kirchlich-politischen Despotismus und den Feind der geistigen Fortentwicklung der Menschheit erkannte. Mit der Idee, daß Europa nur ein römischer Kirchenstaat im großen sei, hat sie auch den konzentrierten Absolutismus des lateinischen Weltsystems für immer zerstört. Vergebens schlossen Kaiser und Papst ihren Bund.
Der Anblick der ehrwürdigsten Ruine der Welt erfüllt diejenigen noch mit Schmerz, welche für die irdische Gestalt allgemeiner Ideale eine ewige Fortdauer im Wechsel der Zeit beanspruchen, statt sie nur als ein Wandelbares im unendlichen Fortschritt des geschichtlichen Geistes zu begreifen und statt zu bekennen, daß im Verhältnis zu diesem die ganze christliche Kirche einst nur als eine der vielen Entwicklungsformen der Menschheit erscheinen wird. Wenn sie die Maßlosigkeit der Reformation verklagen, weil sie die große Mutterkirche, statt sie zu erneuern, gewaltsam zerbrochen hat, so mögen sie nur nachweisen, wie die Aufgabe der Reform der Kirche an Haupt und Gliedern mit der Allmacht des unfehlbaren Papstes vereinbar war und wie die Einheit der christlichen Republik Karls des Großen im Zeitalter Karls V. behauptet werden konnte, wo das Grundgesetz des modernen Lebens, die Freiheit des Gewissens, gefunden wurde. Aus der Epoche des Kampfs um ihr Dasein, wo sie im Bunde mit der Landesmonarchie zu einer protestantischen Papstkirche zu erstarren drohte, ging die Reformation nach vielen Verirrungen endlich doch siegreich mit dem Prinzip der Toleranz hervor, und dies, wie die Freiheit des forschenden Gedankens überhaupt, erschloß der reformatorischen Idee die Herrschaft über unermeßliche Gebiete des geistigen Lebens, wodurch sie die Welt sittlich erneuert hat. Die ganze große Bewegung Europas seit drei Jahrhunderten ist die Wirkung der Reformation. Aus ihrem innersten Prinzip floß ihre schrankenlose Kulturfähigkeit und glücklicherweise auch ihre kirchliche Schwäche, ihr schneller geschichtlicher Zerfall in Sonderkirchen. Als kirchliche Form ist der Protestantismus nur eine unvollkommene Phase im religiösen Leben der Welt, in dessen Neugestalt er sich auflösen wird, wenn seine Mission vollendet ist. Diese Aufgabe war und ist noch die rationelle Umgestaltung des hierarchischen und dogmatischen Geistes, welche durch sein stetes Fortwirken unabweisbar vollzogen wird. Das große Drama der Reformation ist noch nicht abgeschlossen. Die beiden Gegensätze, in welche sie die Welt gestellt hat, um ihr neues Leben zu erzeugen, sind noch im erbitterten Kampf. Wenn uns nun dessen endliche Versöhnung in einer neuen Weltform ein tiefes Geheimnis bleibt, so wird diese doch niemals mehr die einer katholischen Papstkirche sein können.
Auf die Römer und Italiener mußte die deutsche Reformation vor allem durch ihr politisches Prinzip großen Eindruck machen. Während die weltliche Macht der Kirche als ein Incubus auf ihrem Lande lag, sahen sie, wie man in Deutschland das Papsttum aufgab, die geistlichen Feudalitäten aufhob, und wie Fürsten ganze Landgebiete säkularisierten. Sie sahen jenseits der Alpen die Ideen Savonarolas und Machiavellis wirklich werden und eine neue Staatsidee entstehen, gegründet auf die Ausscheidung der feudalkirchlichen Mächte. Dies ghibellinische Prinzip war den Italienern verständlicher als die Lehre von der Rechtfertigung und jede andere theologische Frage. Ihre größten Staatsmänner haßten das weltliche Papsttum als das Übel ihres Vaterlandes und das Priestertum als die Quelle der moralischen Verdorbenheit. Aus der Schule Machiavellis, Guicciardinis und Vettoris floß die nationale Staatsidee der Italiener, welcher in unsern Tagen Cavour die Formel gegeben hat. Guicciardini beklagte, daß er, der »natürliche Feind« des Kirchenstaates, durch die Verhältnisse gezwungen wurde, den Päpsten zu dienen. »Die Stellung«, so sagte er, »die ich bei einigen Päpsten hatte, nötigte mich aus persönlichen Rücksichten, ihrer Größe ergeben zu sein, und ohnedies würde ich Luther geliebt haben wie mich selbst, nicht, um mich von den hergebrachten Lehren des Christentums loszusagen, sondern um diesen Schwarm von Frevlern in seine Schranken zurückweisen zu sehen, das heißt, daß sie entweder ohne Laster oder ohne Autorität blieben.« An einer andern Stelle wiederholt er dies und sagt: »Ich habe aus Natur der Dinge den Untergang des Kirchenstaats gewünscht, und das Schicksal zwang mich, für die Größe zweier Päpste mich zu bemühen; ohne diese Rücksicht würde ich Luther mehr lieben als mich selbst, denn ich würde hoffen, daß seine Sekte diese gottlose Priestertyrannei stürzen oder ihr doch die Flügel lähmen könnte.« »Drei Dinge«, so sagte derselbe Staatsmann, »möchte ich vor meinem Tode sehen, doch zweifle ich, daß ich auch nur eins von ihnen erlebe: eine gut geordnete Republik in Florenz, die Befreiung Italiens von den Barbaren und die Befreiung der Welt von diesen ruchlosen Priestern.« Aber das große Beispiel Deutschlands ging an Italien vorüber, weil dieses Land nicht Kraft noch Reife auch nur für die politische Reformidee besaß. Es bedurfte noch der Leiden und Mühen von 350 Jahren, bis das reformatorische Staatsprinzip so viel Stärke gewann, um die Theologie aus der Politik auszusondern, den Kirchenstaat aufzuheben, Rom von der Papstgewalt abzulösen und in die Hauptstadt des von den Fremden befreiten und einigen Italiens zu verwandeln. Und dies Wunder verdankt Italien der Machtentfaltung des protestantischen Deutschlands.