Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Messias

Versuchen wir uns das theologische System Marcions in großen Zügen zu vergegenwärtigen, so springen als seine reformatorischen Hauptgedanken ins Auge: die Leugnung der Messianität Jesu, die Ausscheidung des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon und der Dualismus des fremden Gottes und des Schöpfergottes. Daß Christus nicht der jüdische Messias war, kann wohl von keiner vorurteilslosen Betrachtung geleugnet werden. Ursprünglich ist der Messias bekanntlich ein weltlicher Nationalheros, aber auch in der geläuterten Auffassung des späteren Judentums ist er niemals der leidende Messias, der die Schuld der ganzen Menschheit sühnt. In keinem einzigen der Zukunftsbilder, sosehr sie sich im Laufe der vielen Jahrhunderte gewandelt haben, ist von seinem Opfertode die Rede. Die berühmte Stelle aus Deuterojesaja, die einzige, die so gedeutet werden könnte, versteht unter dem »leidenden Gottesknecht« ein Kollektivum und ist überhaupt nicht Weissagung, sondern Rückblick. Ist aber der Heiland nirgends im Alten Bunde verkündigt, welche Beziehung besteht dann zwischen den beiden Teilen der Bibel? Nach Marcion verhalten sie sich wie polare Gegensätze, nach der Auffassung der Kirche wie Stufen: das Alte Testament ist legisdatio in servitutem, das 31 Neue Testament legisdatio in libertatem. Aber ist das Judentum wirklich eine Art Vorhalle des Christentums? Wenn man will, ist alles Vorhalle, und eine im vorigen Jahrhundert sehr beliebte, heute glücklicherweise schon im Verschwinden begriffene Geschichtsmethode pflegte jedes historische Phänomen mosaikartig aus »vorbereitenden Momenten« aufzubauen. Dann freilich sind nicht bloß Mose und Daniel, sondern auch Plato und Philo, Buddha und Zarathustra Vorläufer des Christentums. Aber das Christentum hat keinen »Unterbau«! Eben weil Marcion das schlechthin Neue, Weltumwandelnde des Evangeliums so erschütternd empfand, wollte er von einem Alten Testament als Heiliger Schrift nichts wissen, ohne daß er geleugnet hätte, daß darin viel Nützliches und Schönes zu lesen sei. Deshalb erlaubte er auch seinen Jüngern dessen Lektüre; jedoch nur an der Hand der Antithesen. Aber es ist schon so, wie Harnack sagt: »Was christlich ist, kann man aus dem Alten Testament nicht ersehen.« Dasselbe hatte bereits Schleiermacher erkannt. Aber auch Nietzsche empfand mit voller Deutlichkeit, daß es sich hier um zwei ganz verschiedene Ebenen handelt, als er (natürlich von seinem Standpunkt des »Antichrist«) in Jenseits sagte: Dieses »Neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem Alten Testament zu einem Buche zusammengeleimt zu haben, als ›Bibel‹, als ›das Buch an sich‹: das ist vielleicht die größte Verwegenheit und ›Sünde wider den Geist‹, welche das literarische Europa auf dem Gewissen hat«; und in der Morgenröte spricht er von dem »unerhörten philologischen Possenspiel«, das man um das Alte Testament herum aufgeführt habe: »Ich meine den Versuch, das Alte Testament den Juden unter dem Leib wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte nichts als christliche Lehren und gehöre den Christen als dem wahren Volke Israels: während die Juden es sich nur angemaßt hätten . . . überall sollte im Alten Testament von Christus und nur von Christus die 32 Rede sein . . . alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes!«


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