Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die Zwiebeltheorie

Über die Entstehung der Pyramiden hat Lepsius folgende Hypothese aufgestellt: Jeder König baute zunächst eine nicht sehr große Pyramide, um sein Grab für alle Fälle unter Dach zu bringen; war ihm eine längere Regierung beschieden, so ließ 195 er Jahr für Jahr einen neuen Mantel um den alten Kern legen, und so wuchs das Bauwerk zu immer größerer Höhe und Breite. Nach dieser Theorie, die noch heute ziemlich allgemein akzeptiert ist, könnte man also von den Steinriesen wie an Jahresringen die Lebensdauer der Könige ablesen. Cheops, Chephren und Mykerinos, von denen die drei größten Pyramiden stammen, haben in der Tat sehr lange regiert. Aber andererseits machen ihre Grabmäler nicht den Eindruck, als seien sie nur durch günstige Umstände und gleichsam zufällig gewachsen wie Zwiebeln, vielmehr wirken sie nach Form und Anlage wie aus einem Guß und als eine von vornherein gefaßte großartige Konzeption. Sie sind der machtvoll lapidare Ausdruck des ägyptischen Heldenzeitalters, eines schwellenden Weltgefühls, wie es den Frühling eines Volkes zu erfüllen pflegt. Ohne vieljährige Arbeit konnten sie freilich nicht entstehen; aber eine innere Stimme muß diesen Königen gesagt haben, daß sie das heroische Werk vollenden würden. Die Zwiebelschalentheorie ist zu naturalistisch.


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