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Im Exil entstanden auch Teile des Buches Jesaja, das eines der schwierigsten Probleme der Bibelforschung darstellt. Karl Marti nennt es geradezu »eine kleine Bibliothek prophetischer Schriften«. Die Kapitel 40 bis 55 werden ziemlich allgemein einem »zweiten« oder Deuterojesaja zugewiesen und nach ihrer Abfassungszeit als teils exilisch, teils nachexilisch angesehen. Im Gegensatz zum ersten Jesaja wird hier überall die Zerstörung des Tempels, die Wegführung des Volkes, die babylonische Gefangenschaft nicht vorausgesagt, sondern vorausgesetzt; Kyros wird als der erhoffte Befreier vom Chaldäerjoch häufig in deutlicher Anspielung und einige Male sogar mit Namen erwähnt. Im theologischen Sprachgebrauch wird Deuterojesaja gern als der »Große Unbekannte« bezeichnet. Diesen Namen verdient er vollauf: Seine Hinterlassenschaft gehört zum Größten, was im Alten Testament überliefert ist. In ihm wandelt sich die Prophetie aus der Unheilsverkündigung, die sie bisher war, in eine Heilslehre. Jahwe tilgt die Schuld der Vergangenheit und vergibt; Kyros ist sein Messias: wer anders als Jahwe sollte ihn gesandt haben? Denn Er ist der Beweger der Weltgeschichte und noch mehr: hier zum erstenmal auch Schöpfer Himmels und der Erde. Trotzdem aber – und dies ist ein völlig neuer Gedanke von erschütternder Paradoxie – ist und bleibt er der Gott Israels: Dies Volk hat er zertreten und 514 ebendadurch erwählt, denn je elender der Wurm, desto näher Gott, für ihn lenkt er den Weltlauf. Das Exil ist ein Tod, der zum Leben, eine Sintflut, die zur Wiedergeburt führt. Diese Wahrheit aber auch den Heiden zu verkündigen, ist die heilige Mission Israels: Auch sie sollen wissen, daß Gott durch Leiden erhöht und erlöst. Alles Fleisch ist Gras und wie die Blume auf dem Felde; das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort Gottes währet ewiglich.
Im großen Unbekannten ist das Judentum völlig überwunden: Jahwe, der Gott aller Völker, die einzige Wirklichkeit sein Wort, Israel triumphierend durch Leiden und der Messias ein Perser! Es ist ergreifend zu sehen, wie die babylonische Gefangenschaft fast gleichzeitig die höchste und die niedrigste Schöpfung des israelitischen Glaubensgeistes geboren hat: die Weltreligion und die Gesetzesreligion. Israel hatte zu wählen, und es hat falsch gewählt. Es hat Jeremia gesteinigt und Jesaja vergessen: Dem Judentum ist der große Unbekannte eine unbekannte Größe. Es hat sich für den Geist Esras und Ezechiels entschieden, der die Seele im Babel des Buchstabens gefangenhält, für die leere Form und äußere Geste der Frömmigkeit, für den Jahwe der Wüste, der rächt und richtet und die Feinde verachtet, für den Messias aus Davids Stamm, der irdische Macht und Herrlichkeit verleiht. Die Religion Jesajas war der Glaube an das ewige Wort, die Religion Judas blieb der Glaube an das ewige Gras. Jesaja lehrte, Gott zu lieben; aber Juda liebte das Leben. Darum ward ihm vergönnt, ewig zu leben; aber nur auf dieser Erde.
Vermöge seiner ungeheuren und fast ungeheuerlichen Sprachgewalt, die mit Blitzeshelle durch die erhabensten Wolkenhöhen und die schaurigsten Abgründe jagte, ist Deuterojesaja auch der größte Dichter, den der alte Orient hervorgebracht hat. Und dieser größte Dichter ist anonym: wie Homer, wie Shakespeare, wie der Schöpfer der schönsten Blüte der deutschen Mystik, der »Frankfurter«, der das Büchlein vom 515 vollkommenen Leben schrieb. Aber ist dies so sonderbar? Ist nicht zumeist das Größte in der Welt anonym? Der Geist Gottes waltet am liebsten hinter Schleiern.
Die letzten Kapitel (56 bis 66) werden einer dritten Persönlichkeit zugeschrieben, dem Tritojesaja, der zur Zeit Esras oder vielleicht auch schon um 500 tätig war. Auch er bewegt sich in einem Kreis edler Gedanken, und schöne Worte entstammen seiner Feder. So, wenn er lehrt, das rechte Fasten sei, dem Hungrigen das Brot zu brechen, und Gott brauche man kein Haus zu bauen, denn der Himmel sei sein Stuhl und die Erde seine Fußbank. Höchst unjesajanisch aber ist die Prophezeiung, daß Israel den Reichtum der Völker verzehren und in ihre Herrlichkeit einrücken werde, sie aber zur Knechtsarbeit bestimmt seien. Auch sonst ist der Standpunkt des dritten Jesaja nicht selten befremdend jüdisch, und den Frommen, die den Sabbat gewissenhaft halten, tut er viel zuviel Ehre an.