Egon Friedell
Kulturgeschichte des Altertums
Egon Friedell

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Die griechische Aussprache

Der überflüssige, aber prachtvolle Dual verschwindet bereits in der hellenistischen Zeit, und das ausgehende Altertum nähert sich in der Volkssprache schon dem Neugriechischen, das auch keinen Dativ mehr und an Modi nur noch den Indikativ und Imperativ besitzt. Der Neugrieche spricht Eta und Ypsilon, ei und oi wie i, ai wie e, Zeta wie s, Phi (das im Altgriechischen wie p + h lautete) wie f, Chi (altgriechisch: k + h) wie ch, und zwar vor e und i als Gaumenlaut (»ich«), sonst als Kehllaut (»ach«), Rho als Zungenspitzenlaut, der sich auch in vielen anderen modernen Sprachen, am schärfsten im Spanischen, erhalten hat, Delta wie das weiche, Theta wie das harte englische th, das bekanntlich ein Lispellaut ist, und Beta wie w. Auch Ypsilon wird in Diphthongen (αυ, ευ) zu w: deshalb sagen wir »Evangelium«. Dieser Buchstabe war offenbar ursprünglich ein u, und die Diphthonge wurden wie a + u, e + u gesprochen. 632 Übergänge zwischen u und w finden sich auch in anderen Sprachen: Im Lateinischen sind U und V gleichwertig; das ägyptische w wird im Koptischen häufig zu u, besonders in Diphthongen; das englische w wird fast wie u gesprochen.

Hieraus hat sich die große Streitfrage entwickelt, ob nicht die antiken Griechen, zumindest seit ihrer klassischen Zeit, ganz ähnlich geredet hätten wie die heutigen. Sie geht bis in das Zeitalter der Reformation zurück. Die Kenntnis des Griechischen gelangte ins Abendland durch byzantinische Gelehrte, die natürlich ihre, das heißt die moderne Aussprache mitbrachten. Dagegen erhob sich die Leuchte des Jahrhunderts, der berühmte Erasmus von Rotterdam, in einer Abhandlung »De recta Latini Graecique sermonis pronunciatione«, der er nach der Sitte der damaligen Zeit die Form eines Dialogs gab: Bär und Löwe streiten sich über die richtige Aussprache der Alten. Sein einfacher und einleuchtender Grundgedanke war, daß die Griechen, wenn sie ι, η, υ, ει, οι, υι gleichmäßig wie i sprachen, doch keinen Grund gehabt hätten, besondere Zeichen einzuführen. Aber Erasmus, der, ein starker Geist in einem schwachen Fleisch, auch in den weit wichtigeren Kämpfen um Glauben und Freiheit Theorie und Praxis opportunistisch zu trennen wußte, behielt selber die traditionelle Aussprache bei. Energischer setzten sich einige englische Gelehrte für die neue Ansicht ein; gegen sie aber wandte sich der Bischof Gardiner, indem er als Kanzler der Universität Cambridge ein Edikt erließ, worin er den Professoren die Ausstoßung aus dem Senat, Studierenden die Relegation und Knaben häusliche Züchtigung androhte, wenn sie es wagen sollten, αι von ε und ει oder οι von ι in der Aussprache zu unterscheiden, auch er hier im kleinen ganz ebenso wie im großen handelnd, denn er war einer der wildesten Ketzerfresser, die die Kirchengeschichte kennt. Wenn jemand ein Hasenfuß oder ein Fanatiker ist, so ist er es eben auch in der Aussprache.

633 Die Anhänger der neugriechischen Aussprache nannten sich Itazisten oder (nach dem Begründer der griechischen Studien in Deutschland) Reuchlinianer, im Gegensatz zu den Etazisten oder Erasmianern, die aber Sieger blieben, denn nahezu alle bedeutenden Altphilologen schlugen sich zu ihrer Partei. Heute sind nur noch die Neugriechen selber Itazisten, aus Gründen, die mehr mit Kulturpolitik als mit Wissenschaft zu tun haben, indem so die Kontinuität zwischen Gegenwart und glorreicher Vergangenheit sich sinnfälliger aufdrängt. Für den Etazismus spricht neben einer Reihe spezieller Argumente allein schon der gesunde Menschenverstand. Da es im Wesen einer jeden Sprache liegt, daß sie sich ununterbrochen wandelt, so ist es ausgeschlossen, daß die Griechen heute noch genau so reden wie vor zweitausend Jahren. Ferner schreibt jedes Volk zunächst genau so, wie es spricht; und wenn es anders spricht, als es schreibt, so geht daraus hervor, daß es auch einmal anders gesprochen hat. Wenn der Franzose corps schreibt, so kommt dies eben daher, daß seine Vorfahren corpus sagten, und er schreibt moi, weil er noch am Ende des Mittelalters »moj« sprach. Schon die einzige Tatsache, daß in einer Komödie des Kratinos der Tierlaut »βῆ βῆ« vorkommt, der genau unserem »bäh bäh« entspricht, beweist den Etazismus. Hingegen hat ein Reuchlinianer den witzigen, aber völlig kraftlosen Einwand vorgebracht, die Schöpse seien doch wohl keine kompetenten Sprachrichter. Sie sind es aber sogar im höchsten Maße, denn wenn sie, was man doch wohl annehmen muß, sich schon damals so ausdrückten wie heute, so bezeugt die Wiedergabe bei Kratinos unwiderleglich, daß sie und alle anderen Athener Erasmianer waren. Nach den Itazisten hätten sie »wi wi« sagen müssen.

Man darf aber deshalb nicht glauben, daß das Erasmische ein auch nur annähernd porträtähnliches Bild der griechischen Aussprache bietet. Sehr treffend sagt hierüber Friedrich Blaß: 634 »Ich bin ganz fest überzeugt, wenn ein alter Athener auferstände und hörte einen von uns Griechisch reden, auf Grund bester wissenschaftlicher Forschung und mit schönstem und geübtestem Organe, so würde er die Aussprache abscheulich barbarisch finden. Hörte er aber einen Neugriechen, so würde er wohl nicht so tadeln, aber nur, weil er nicht merkte, daß dies seine Sprache sein soll.« Alle modernen Völker sprechen das Griechische anders, nämlich ihrer eigenen Sprache angeglichen (nur kommt ihnen dies meist nicht zum Bewußtsein), und alle sprechen es falsch. Daher hat es, beiläufig bemerkt, nicht so viel auf sich, ob wir die griechischen Eigennamen »richtig« oder latinisiert und sogar französisiert wiedergeben. Vor einem halben Jahrhundert konnte man noch in allen Gymnasiastenaufsätzen von Kretensern, Atheniensern, Karthageniensern lesen; heute haben sich bereits überall die abgeschnittenen Formen durchgesetzt, die bedeutend bequemer, aber noch unkorrekter sind, denn jene waren wenigstens lateinisch, diese sind ganz willkürlich. Andrerseits nimmt man heute keinen Anstand mehr, für Delphi, Mycenä und Äschylus Delphoi, Mykenai und Aischylos und sogar für Piräus das schöne aber schwierige Peiraieus (Ton auf der letzten Silbe) zu gebrauchen. Auch die Phoiniker, Makedonen und Boioter sind bereits vollkommen literaturfähig geworden: Diese und viele ähnliche Bezeichnungen vereinigen den Vorzug des Echtgriechischen mit dem der Kürze. Hingegen sagt kein Mensch Sapfō (mit dem Ton auf der letzten Silbe) oder gar Psapfō, wie sie wirklich hieß. Sehr angenehm sind die französischen Formen Epikur, Epiktet, Demokrit, Hesiod; doch haben sie sich nicht bei allen Namen eingebürgert: Oedip zum Beispiel will schon nicht recht über die Feder. Beim »Dunkeln von Ephesos« hat man die Wahl zwischen Heraklit und Herakleitos, während die lateinische Form Heraclitus ganz ungebräuchlich ist, bei Peisistratos ist wieder Pisistratus sogar das gewöhnlichere, dagegen Pisistrat völlig 635 unmöglich. Neuerdings wird auch versucht, »troisch« und »Troer« als alleinberechtigt durchzusetzen, und tatsächlich ist ja die Form »Troja« vollkommen falsch, weil das Jota im Griechischen nie Konsonant war; aber hier sträubt sich etwas: die »Trojaner« haben sich durch Dramen und Romane, Zeitung und Konversation, Kirche und Schule so in unserem Vorstellungsleben festgesetzt, daß man die Empfindung hat, ein »troischer« Krieg habe überhaupt nicht stattgefunden. Es entscheidet eben stets die Usance und daneben Geschmack und Sprachgefühl des einzelnen.


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