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Es versteht sich, daß all dies dem Klerus eine hohe Macht verlieh. Der »Tempel« war der größte Grundbesitzer des Landes und besorgte durch seinen vieltausendköpfigen Beamtenstab auch die Agenden einer Großbank, indem er Hypotheken und Vorschüsse gewährte, Käufe und Pachtgeschäfte vermittelte, Gelder und Vertragsurkunden in Verwahrung nahm. Über ihm, aber nicht selten ganz unter seinem Einfluß stand der »Palast«, der Hof des Großkönigs, mit einem Heer von Angestellten: dem Hausvorsteher, dem Bierschenk, dem Speisemeister, dem Oberbäcker, dem Salbenmischer: lauter Chargen, die natürlich längst ebenso symbolisch geworden waren wie in Ägypten. In den Provinzen herrschte unter ernannten Statthaltern die landesübliche orientalische Satrapenwirtschaft. In sehr entfernten Ländern wurden meist die einheimischen Fürsten auf dem Thron gelassen, kontrolliert von Regierungskommissären, die aber nicht selten mit ihnen unter einer Decke spielten. Grabungen in der Gegend von Ur haben es sehr wahrscheinlich gemacht, daß dort die höchsten Würdenträger und deren Gattinnen dem König ins Grab folgten, nachdem sie ein starkes Betäubungsgift eingenommen hatten: eine uralte Sitte, die vermutlich noch in vorgeschichtlicher Zeit, aber später gewiß nicht mehr bestand und sich auch damals bloß auf die engste Umgebung des Herrschers erstreckte, als ein besonderes, sicher eifersüchtig gehütetes Vorrecht; denn wer mit dem König starb, zog, gleich diesem, in den Götterhimmel ein. Die Privatgräber befanden sich damals noch ausnahmslos in Form von Tonwannen im eigenen Hause: Jedes Gebäude war in seinem Souterrain ein Friedhof. Im übrigen herrschte natürlich zu allen Zeiten am Hof eine peinliche Etikette. Eine besonders feierliche Zeremonie war die Thronbesteigung: Die Großen geleiten den neuen König in den Krönungssaal, alles wirft sich vor ihm nieder, küßt die Erde und ruft: »Vater des Vaterlandes, seinesgleichen gibt es nicht!« Auch wer zum Herrscher in 312 Audienz befohlen war, fiel vor ihm zu Boden und küßte seine Füße, während der gewöhnliche babylonische Gruß darin bestand, daß man sich tief verbeugte oder auch bloß die Hand segnend an die Stirn hob; genau wie in Ägypten sprach man nicht mit dem König, sondern vor dem König. Ist der König oder jemand aus seiner nahen Verwandtschaft gestorben, so wird »ein großes Weinen«, eine Landestrauer veranstaltet. Aber auch die privaten Trauersitten waren sehr ausgebildet: bezahlte Klagemänner und Heulweiber rufen »o wehe« und »ach wie schade«, schlagen sich an die Brust, zerreißen sich die Kleider und ritzen sich sogar, bei einem Begräbnis erster Klasse, mit Messern die Haut blutig. Die nächsten Hinterbliebenen trauern niedergehockt in Sack und Asche (von da haben es die Juden) oder werfen sich jammernd auf den Bauch.
Eine sehr merkwürdige Einrichtung war die Absetzung des Königs beim Frühlingsfest, das alljährlich zur Geburtsfeier des Tammuz stattfand. Der Oberpriester nahm ihm die Herrschaftsinsignien ab und an seiner Stelle wurde ein »Tauschkönig« auf den Thron gesetzt, der nun für die Dauer des Festes nach Belieben über den Hofstaat, die Tafel und sogar den Harem des Königs verfügen durfte: ein schönes Symbol für die Gebrechlichkeit aller irdischen Macht. Zur Zeit der ersten Dynastie von Isin, also vor etwa viertausend Jahren, ereignete sich aber ein ziemlich romantischer Zwischenfall. Während der Gärtner Ellil-bani, zum Maskenkönig erkoren, das Szepter führte, starb plötzlich der richtige König an einem heißen Brei, den er zu hastig geschlürft hatte. Ellil-bani behielt die Krone und regierte segensreich vierundzwanzig Jahre lang. Das Ganze, heißt es, war von der amourösen Ischtar arrangiert, die sich in den hübschen Burschen verliebt hatte (auch vom großen Sargon ging die Sage, daß er in seiner Jugend ein einfacher Gärtner gewesen sei). Es ist durchaus möglich, daß die Erzählung wahr ist; auf jeden Fall aber wäre sie ein dankbarer Stoff für ein 313 Drama, der sich entweder ins Lustspielmäßige wenden ließe, indem sich Ellil-bani als ein viel besserer König herausstellt als alle geborenen, oder ins Tragische, indem er unter der furchtbaren Last der Verantwortung zusammenbricht, oder auch, was dem Charakter dieses sinnigen Lebensmärchens vielleicht am besten entsprechen würde, ins Philosophische, indem der Gärtner zu der Erkenntnis gelangt, daß auch das echte Fürstentum bloß Larve und Schein ist und in seinen schlichten Blumen mehr Würde und Wahrheit lebt als in allem Kronenglanz, der immer nur geliehen ist.