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Was den moralischen Zustand anlangt, so dürfte das Wort des Isokrates zu Recht bestanden haben: »Die Menschen tun alles aus Genußsucht oder Gewinnsucht oder Ehrsucht.« Man hört wenigstens von nichts anderm. An der Frechheit zum Beispiel, mit der Demosthenes von seinen Vormündern, den besten Freunden seines Vaters, um sein Vermögen bestohlen wurde, ist die Sache selbst nicht so bemerkenswert (denn Lumpen hat es immer und überall gegeben), als die offenbare Selbstverständlichkeit des Vorgangs, der sich ebenso als alltägliche Usance enthüllt wie etwa die Beamtenbestechung in Gogols Revisor. Übrigens war auch diese allgemein verbreitet; nahezu alle öffentlichen Personen waren in Korruptionsaffären verwickelt, auch Demosthenes selber. In besonderer Blüte stand auch die Erbschleicherei oder vielmehr Erbprellerei mit 923 gefälschten Testamenten, erlogenen Schuldverpflichtungen, unterschobenen Kindern, vorgeblichen Adoptionen, bis zu glattem Raub, Freiheitsentziehung, Erpressung und Mord. Auf erotischem Gebiet kann man geradezu von einem Zeitalter der Hetairokratie sprechen. Nicht nur das ganze Gesellschaftsleben dreht sich um die Buhlerinnen, sondern auch die Kunst, die Politik, sogar die Religion. Der Busen der Laïs war in ganz Hellas berühmt; daß sie nicht bloß schön, sondern auch geistreich war, beweist ihre Doppelbeziehung zu Aristipp und Diogenes, den beiden originellsten Philosophen ihrer Zeit: dem reiche Aristipp nahm sie Geld ab, aber dem armen Diogenes gab sie sich umsonst hin. Die jüngere Aspasia, die Geliebte des Kyros, spielte bei diesem dieselbe Rolle wie ihre Namensbase bei Perikles; sie wurde nach der Schlacht bei Kunaxa gefangen, bestrickte aber sogleich auch den Großkönig. Phryne war das Modell des Apelles und Praxiteles; sie verlangte für eine Nacht hundert Drachmen (Laïs angeblich zehntausend), stiftete ihre goldene Bildsäule nach Delphoi und soll sich erbötig gemacht haben, die Mauern Thebens wieder aufzubauen, wenn man ihren Namen darauf setze. Sie zeigte sich nie unbekleidet und besuchte keine öffentlichen Bäder, stieg aber alljährlich am Poseidonsfeste nackt in die Flut. Die bekannte Geschichte, daß man ihr deshalb einen Prozeß wegen Religionsfrevels anhängte und ihr Verteidiger Hypereides ihren Freispruch bewirkte, indem er ihre Brust entblößte, hat bei den damaligen Gerichtssitten nichts Unwahrscheinliches, paßt auch gut zu dem Lebemann Hypereides und wurde jedenfalls im ganzen Altertum geglaubt. Thaïs soll den Brand des Königspalastes von Persepolis verschuldet haben, indem sie Alexander bei einem Zechgelage dazu anstiftete, die erste Fackel zu werfen. Die Sache zeigt, welchen Einfluß sie auf ihn hatte, war aber im übrigen eine bloße Alkoholangelegenheit: Alexander, der sich als Nachfolger des Großkönigs gab und fühlte, dessen 924 Hofzeremoniell einführte und dessen Mörder hinrichten ließ, durfte nicht dessen Residenz niederbrennen und soll auch, ernüchtert, alsbald die Löschung anbefohlen haben. Thaïs wurde später sogar, als Gattin Ptolemaios des Ersten, eine Königin, und Menander machte sie zur Heldin eines seiner Lustspiele. Übrigens bewegte sich die spätere Komödie fast ausschließlich in den Kreisen der Demimonde.