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Die ältesten uns bekannten Handschriften stammen aus dem zehnten christlichen Jahrhundert; sie dürften sich aber infolge genauester Überlieferung mit dem Text des Kanons decken, der neun Jahrhunderte früher fixiert wurde: die Abschreiber haben alle so gewissenhaft kopiert, daß sie sogar kleinere, größere, höherstehende und umgekehrte Buchstaben wiederholten. Der Kanon ging natürlich auf noch ältere Handschriften zurück. Bei diesen dürfte eine fast unvermeidliche Fehlerquelle der Umstand gebildet haben, daß in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten die aramäische »Quadratschrift« an die Stelle der 475 althebräischen Schrift getreten war, die noch keine Worttrennung kannte und einen Buchstaben nie zweimal schrieb, auch wenn er das eine Wort endete und das nächste begann; bei anderen Leseschwierigkeiten lassen sich Hörfehler im Diktat, Verwechslungen, Überspringen, Wortverdoppelungen mutmaßen.
Der Kanon war lediglich Konsonantentext. Die sogenannten Masoreten (von masora, »Überlieferung«) hatten es sich im siebenten und achten Jahrhundert nach Christus zur Aufgabe gemacht, die Vokalisation durchzuführen; sie besorgten dies durch Punkte, Striche und Bogen, die sie oberhalb und unterhalb der Konsonanten als Vokalzeichen anbrachten. Die älteste griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta, fußt aber auf einer älteren und vielfach besseren Vorlage als der masoretische Text. Ihren Namen verdankt sie einer Legende: Ptolemäus Philadelphus, der in der ersten Hälfte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts regierte, ließ, so hieß es, zu Alexandria durch sechs Männer aus jedem Stamm die Bücher Mosis ins Griechische übertragen, und diese zweiundsiebzig vollendeten das Werk in zweiundsiebzig Tagen; jeder übersetzte in einer eigenen Zelle, und als man die Arbeiten verglich, waren sie bis auf den Buchstaben gleichlautend. Später wurden die übrigen Bücher hinzugefügt. Zur Zeit Jesu stand die alexandrinische Bibel bei den Juden allgemein in Gebrauch; als aber das junge Christentum sich ihrer zu bedienen begann, wandten sie sich von ihr ab und verhöhnten sie als eine Ausgeburt der ägyptischen Finsternis: Für die späteren Rabbinen ist die Septuaginta nicht weniger fluchwürdig als das Goldene Kalb. Die katholischen Theologen wiederum erklärten, daß der masoretische Text teils durch »Bosheit« gefälscht, teils durch die Sorglosigkeit der Abschreiber verderbt sei, und verwiesen auf die Unsicherheit in der Aussprache der Vokale; auch Luther, Zwingli und Calvin hielten die Vokalisation als spätere Zutat 476 für nicht bindend. Demgegenüber verfocht die protestantische Orthodoxie im Interesse ihrer Dogmatik, die auf dem strikten Schriftbeweise fußt, die Unversehrtheit des Textes, die Inspiration auch der Vokale und sogar die Ursprünglichkeit der Quadratschrift. Der einflußreichste Vertreter der Verbalinspiration war Johann Gerhard, Professor in Jena, dessen Schule im siebzehnten Jahrhundert über ganz Deutschland verbreitet war.