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Es gibt dreierlei Formen, unter denen sich eine Metamorphose der Individuen und Rassen vollziehen kann: die 124 Paravariation oder Abänderung durch Umwelt, die Mixovariation oder Abänderung durch Kreuzung und die Idiovariation oder Selbstveränderung, die auch »Mutation« genannt wird; es ist dies der sehr merkwürdige Vorgang der spontanen, sprunghaften, explosiven Entstehung neuer Merkmale, wie ihn de Vries besonders an Pflanzen beobachtet hat, der aber in der ganzen Natur verbreitet ist. Manche Forscher nehmen an, daß eine Modifikation der Erbmasse nur durch Mixovariation stattfindet; es könnten demnach neue Eigenschaften nur durch eine Mischung schon vorhandener Erbeinheiten entstehen: dies würde aber die ganze Menschheitsgeschichte zum Rang eines geistlosen Kaleidoskops und mechanischen Permutationsspiels herabwürdigen; auch bleibt bei dieser Annahme völlig unerklärt, wie denn seinerzeit die heute, wenn auch nur noch als Komponenten, vorhandenen Menschenrassen zustande gekommen sind, denn durch bloße Kreuzung können sich nur neue Bastarde bilden, aber niemals neue Rassen. Ja selbst einzelne Darwinisten haben als Ursache der Artbildung lediglich Mischung jener Keime gelten lassen wollen, die schon von Geburt an in den elterlichen Organismen vorhanden sind, die Vererbung erworbener Eigenschaften aber in Abrede gestellt, ohne zu bedenken, daß damit ihr ganzes System fällt. Denn die Darwinsche Anpassung kann sich doch nur in der Form vollziehen, daß die Individuen durch gewisse Reize der Umwelt affiziert werden und darauf mit entsprechenden Abänderungen reagieren; sind diese nicht vererbbar, so verschwinden sie wieder mit dem betroffenen Individuum, und von einer Entstehung neuer Arten durch stete Steigerung und Befestigung der durch Anpassung erworbenen Eigenschaften kann nicht die Rede sein. Sowohl Paravariation wie Idiovariation sind Voraussetzungen des Darwinismus. Es war Lamarck, einer der bedeutendsten Vorgänger Darwins, der zuerst auf die Tatsache der Transmutation aufmerksam machte, der Veränderung durch innere, im 125 Organismus selbsttätige Ursachen. In seiner 1809 erschienenen »Zoologie philosophique« verweist er darauf, daß man zwar schon seit langem den Einfluß unserer Organisation auf unseren Charakter, unsere Neigungen, unsere Handlungen und sogar auf unsere Begriffe beobachtet habe, aber noch niemals den Einfluß unserer Gewohnheiten auf unsere Organisation; und er gelangt zu folgenden drei Grundgesetzen: jede dauernde Veränderung in den Verhältnissen bewirkt eine Veränderung in den Bedürfnissen; jede Veränderung in den Bedürfnissen macht andere Tätigkeiten notwendig, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, und folglich andere Gewohnheiten; jede neue Gewohnheit erfordert entweder den stärkeren Gebrauch eines schon vorhandenen Organs, wodurch dieses vergrößert und entwickelt wird, oder die Bildung eines neuen Organs, das die Bedürfnisse unmerklich durch »Anstrengung eines inneren Gefühls« entstehen lassen. »Man hat in diesem Punkt schon lange das Richtige gefühlt, indem man die jedermann bekannte, sprichwörtlich gewordene Sentenz aufstellte: die Gewohnheiten werden zur zweiten Natur.« Ein weiteres Gesetz lautet: Alles, was die Individuen durch Gebrauch oder Nichtgebrauch eines Organs erwerben oder verlieren, wird durch die Fortpflanzung auf die Nachkommen vererbt.
Diese Gesetze, die sich der »Neolamarckismus« zu eigen gemacht hat, werden von nicht wenigen heutigen Biologen in Zweifel gezogen, insbesondere das zuletzt genannte, indem darauf verwiesen wird, daß sich dessen Wirksamkeit nicht einwandfrei experimentell nachweisen lasse. Indes genügt, wie gesagt, bereits eine einfache logische Erwägung, um seine notwendige Geltung zu fordern und außerdem lassen sich derartige Erscheinungen nicht unter künstlichen Versuchsbedingungen, sozusagen in der Retorte, erzeugen: von solchen Homunkulusspielereien Einblicke in die Offizin der Natur zu erwarten, ist eine gelehrte Naivität. Dazu kommt noch, daß Lamarck 126 ausdrücklich von »unmerklichen« Veränderungen spricht und also mit sehr großen Zeiträumen rechnet.
Daß die Umwelt die Organismen zu modifizieren vermag, läßt sich in der freien Natur sehr wohl beobachten. Hellfarbige Tiere werden unter dem Einfluß hoher Temperaturen immer dunkler, schließlich pechschwarz, in arktischen Gebieten hingegen weiß. Ja man hat sogar beobachtet, daß Zugvögel, die immer wieder dieselben Gegenden besuchen, eine besondere Art von Gesang ausbilden, einen vom Ort erzeugten Dialekt. Die Kreolen sind in Südamerika geborene Weiße, die sich niemals mit Farbigen vermischt haben, zum Teil direkte Nachkommen der Konquistadoren; gleichwohl hat im Laufe der Jahrhunderte der Boden seine Wirkung getan und ihnen nicht nur eine dunklere Haut, sondern auch »indianischen« Habitus verliehen. Die Levantiner sind Franzosen und Italiener, die lange Zeit im Osten des Mittelmeergebiets gelebt, aber immer nur untereinander geheiratet haben; das Ergebnis ist ein Menschenschlag prononciert orientalischen Charakters: dunkel und, nach den Aussagen der Ethnologen, von »armenischem« Typus. Unter die Umwelteinflüsse, die auf das Keimplasma zu wirken vermögen, muß auch die höchst sonderbare, aber ganz unleugbare Tatsache der Telegonie oder Fernzeugung gerechnet werden: das allbekannte »Sichversehen« und die nicht selten beobachtete Erscheinung, daß der Devirginator alle späteren Geburten zu beeinflussen vermag.