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Quellen: Dr. Wilhelm Fließ: »Vom Leben und vom Tod«. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena, 1916. – Dr. Wilhelm Fließ, Aufsätze: »Über die periodischen Tage« in den »Braunschweiger Neuesten Nachrichten« vom 15.1.1914, »Das Jahr im Lebendigen« im »Berliner Börsen-Courier« vom 25.12.1915, »Schöpferische Tage« in der «Vossischen Zeitung« vom 13.2.1916. Z.
Der bedeutende Berliner Biologe und Arzt Dr. Wilhelm Fließ hat in dem großen Werk »Der Ablauf des Lebens« die Ergebnisse der Forschungen niedergelegt, denen er seine Lebensarbeit gewidmet hat. Fließ stellt hierin die mit einem imposanten wissenschaftlichen Rüstzeug verteidigte Theorie auf, daß unser Dasein in seinem Auf und Ab nicht einen unregelmäßigen Verlauf nimmt, sondern durch ganz bestimmte Rhythmen beherrscht wird. Die Perioden von 23 und 28 Tagen sind es nach Fließ, die, miteinander verkettet, unser Leben beherrschen; sie sind Äußerungen der männlichen und der weiblichen Substanzen, aus denen unser Körper aufgebaut ist.
„Durch alles Leben geht, so schreibt Fließ, derselbe Doppeltakt, der Rhythmus von 23 und 28 Tagen, nach dessen Ablauf sich der Leib verändert. Und zwar deshalb plötzlich verändert, weil die 23 und 28 Tage plötzlich aus sind. Dieser Rhythmus hat sich so lange seiner Entdeckung entzogen, weil die beiden Perioden sich ineinander verschlingen, sodaß scheinbar unregelmäßige Intervalle die Folge sind.
Man denke sich zwei Uhren mit ungleicher Stundenlänge. Jede soll schlagen, wenn der Zeiger das Zifferblatt durchlaufen hat. Sie haben im selben Augenblick ihren Gang angefangen, aber wie ungleich sind die Zwischenräume zwischen den Schlagzeiten! Kennt man nicht die ursprünglichen Stundenlängen, so wird man niemals glauben, daß hier dennoch eine Regelmäßigkeit vorliegt.
Der zusammengesetzte Klang besteht aus Elementartönen, deren jeder völlig gleichmäßige Schwingungen von ganz konstanter Dauer hat. Indem diese Grundtöne sich mischen, geben sie einen scheinbar unregelmäßigen Verlauf der 41 Schwingungskurve. Ebenso scheinbar nur ist die Ungleichförmigkeit im Ablauf des Lebens. Und wie die physikalische Analyse eines Helmholtz die wirre Form jener Klangkurven in die edle Linie der einfachen Töne aufgelöst hat, so hat auch die biologische Analyse zu zeigen vermocht, daß zwei einfache Grundperioden die ganze Mannigfaltigkeit im Lebenslauf decken.
Vor einigen Jahren ging die Nachricht von einem 552-Stunden-Schlaf durch die Blätter. Die Fliegerin Mrs. Stocks war auf dem Flugplatz von Hendon abgestürzt. Weder sie noch ihr Partner waren dabei sichtbar beschädigt. Der Partner blieb auch wohl. Sie aber verfiel alsbald in einen Schlaf, der nach 552 Stunden ebenso plötzlich aufhörte, wie er eingetreten war. Niemand hat gefragt, warum der Schlaf gerade 552 Stunden gewährt habe, d. h. genaue 23 Tage. Und doch liegt eben in dieser Zeitbestimmung die Erklärung des ganzen Phänomens.
Da sehe ich in des Dichters Otto Ludwig Tagebuch, daß seine schweren rheumatischen Anfälle im Jahre 1840 am 11. und 22. Mai gekommen seien. Am 3. Juni hat dann die erste Besserung eingesetzt, und am 19. Juni hat er die Krücken wieder entbehren können. Die Distanzen dieser Daten sind nicht gleichmäßig, denn sie betragen 11, 12, 16 Tage. Aber die Harmonie klingt, wenn wir hören, daß vom ersten Anfall (11. Mai) bis zur ersten Besserung (3. Juni) genau 23 Tage verflossen sind, und vom zweiten Anfall (22. Mai) bis zur weiteren Besserung (19. Juni) ebenso genaue 28 Tage.
In unserem Organismus laufen also zwei Perioden von verschiedenem Ausmaß ab. Jedesmal wenn eine der beiden Lebensuhren schlägt, wenn also in Wirklichkeit eine der beiden Perioden abgelaufen ist, ändert sich unser Leib. Eine Mutter schenkt dann ihrem Kind das Leben. Bei einem anderen Schlag bricht der erste Zahn des Säuglings durch, und die Stunde, wo der erste Sprachlaut geboren wird, gibt unsere Uhr ebenso sicher an, wie die, in der wir die ersten selbständigen Schritte in die Welt tun. Nicht zufällig, nicht irgendwann geschieht das alles, sondern zu seiner Zeit, fest bestimmt und vorgesehen.
Aber dieselben Uhren regeln auch das Leben des Tiers und der Pflanze. Wann die erste Knospenspitze erscheint, wann die Blüte sich öffnet und wann sie abfällt, unterliegt der gleichen Bestimmung unserer periodischen Tage. Auch die niedrigsten Organismen, die Bakterien, sind ihr unterworfen.
Der französische Gelehrte Munz hat beobachtet, daß das Dampfen der Erdschollen um Paris vom 28. März bis 25. April – also genau 28 Tage – dauerte. Dieses Dampfen, das ganz plötzlich und unvorbereitet eintritt, und das er »das Erwachen der Erde« nennt, wird durch den Lebensprozeß von salpeterbildenden Bakterien hervorgerufen. Sie beginnen ihre Tätigkeit von 42 innen heraus. Keine zufälligen äußeren Temperaturverhältnisse sind da im Spiel. Denn auch die im Winter ausgehobenen und dann bei einer gleichmäßigen Wärme im Schrank aufbewahrten Erdschollen erwachten ebenso plötzlich und an demselben Tag wie die Erde draußen und hörten erst mit ihr zu dampfen auf.
Es sind drei Charakteristika, die wir herausheben wollen. Erstens, daß die periodischen Änderungen plötzlich auftreten, zweitens, daß den Tagen des periodischen Mißbefindens ein Tag erhöhten Wohlseins voraufgeht. Und drittens, daß die periodischen Tage nicht den Einzelnen allein treffen, sondern immer zugleich mehrere nahe Blutsverwandte.
Wir haben von Otto Ludwigs Anfällen gesprochen. Das Wort Anfall drückt schon die Plötzlichkeit aus. Schlaganfall, Krampfanfall, Schmerzanfall sind uns geläufig. Indes wir haben kaum darüber nachgedacht, warum wir überhaupt so plötzlich krank werden können. Ist aber die Zeit von 23 oder 28 Tagen nicht plötzlich aus? Erst wenn die letzte Minute abgelaufen ist, kommt die Änderung, mag sie nun Krankheit oder Gesundung heißen, einen Aufstieg oder Abstieg bedeuten. Ein Kind z. B. macht plötzlich die ersten Schritte. Es lernt nicht ganz allmählich gehen. Wohl aber gibt es nach einer Zeit des Stillstands den weiteren Fortschritt, daß zu den ersten drei Schritten nicht ein vierter kommt, sondern ein freies Laufen durch den ganzen Korridor. Man beobachte nur die Entwicklung des Kinds, und man wird erstaunt sein, zu sehen, wie plötzlich und fertig alles neue Können geboren wird.
Nicht nur vom Anfall sprechen wir, sondern auch vom Einfall. Denn auch die erlösenden Gedanken kommen plötzlich. Und es hat Wissenschaftler und Künstler immer in Erstaunen gesetzt, wie plötzlich ihnen die guten Ideen eingegeben werden. Oft, nachdem sie sich lange und vergeblich um die Lösungen bemüht und vielleicht schon resigniert hatten.
Archimedes hatte wochenlang erfolglos darüber gegrübelt, wie er das Volumen von Hieros Krone bestimmen könne. Denn ohne diese Kenntnis vermochte er nicht anzugeben, wieviel Gold und Silber sie enthalte. Plötzlich eines Morgens springt er aus dem Bad. Heureka, ich hab's! Leider kennen wir das Datum jenes Morgens nicht. Aber wir dürfen getrost auf einen periodischen Tag schließen.
Vom Mathematiker Gauß wissen wir den Tag, wo er morgens 7 Uhr aus dem Bett stieg und das lange gesuchte Induktionsgesetz hatte. Und das war wirklich ein periodischer Tag, denn 262 mal 28 Tage später ist Gauß gestorben. Und Franz Schubert starb 208 mal 23 Tage nach seinem berühmten, fruchtbaren 15. Oktober des begnadeten Schaffensjahrs 1815. Bei Gauß sehen wir die 28tägige, bei Schubert die 23tägige Periode am Werk.
43 Ist denn auch der Tod an einen periodischen Tag gebunden? Gewiß: »Schnell tritt der Tod den Menschen an.« Häufig aus voller Gesundheit heraus. Ein »Schlag« endigt dann unser Leben. Und auch, wenn es das Ende einer Krankheit ist, kommt doch die letzte Todesveränderung plötzlich. Der Tod hat im Dasein einen ebenso festen Platz wie die Geburt. Und was zwischen diesen beiden Pforten des Lebens liegt, sind die einzelnen Schübe des Werdens und Vergehens an den periodischen Tagen.
Gewöhnlich befinden wir uns nicht besonders wohl an ihnen. Nicht im Vollbesitz unserer Spannkraft. Weil bei Frau Stocks gerade ein periodischer Tag begann, ist sie gestürzt. Zu anderer Zeit hätte der Schock bei ihr nicht gleich einen krankhaften Schlaf ausgelöst. Und der Schlaf hätte sonst auch nicht bis auf die Stunde genau 23 Tage gedauert. Zu den periodischen Zeiten sind wir ungeschickter als sonst. Keine Willenskraft und kein Training können daran etwas ändern. Desto aufmerksamer werden Sportsleute auf ihre Tage zu achten haben und besondere Leistungen an ihnen vermeiden. Die Zahl der Unfälle wird sinken, sobald die Kenntnis ins praktische Leben übertragen sein wird.
Und solchen Unglückstagen gehen ganz regelmäßig besondere gute voraus. »Wenn dem Esel zu wohl ist, dann geht er aufs Eis.« Hast Du, mein lieber Leser, Dir schon einmal überlegt, wie tiefsinnig der Spruch ist? Weißt Du, daß vor dem schlimmen Tag immer ein schöner ist, der Tag gesteigerten Wohlseins? Warum will der Volksmund nicht, daß man sein Wohlsein rühmt? Weil das Volk weiß, daß auf den allzu frischen Tag der müde, auf den allzu gesunden der kranke kommt. Fühlt man sich überwohl, dann haut man leicht ein bischen über die Stränge. Und wenn dann der nächste Morgen grau ist, so glaubt man, das letzte Glas Bier sei an allem schuld, oder die genossene Auster sei giftig gewesen.
Notiert man sich aber die Daten dieser Unglückstage, so erkennt man zu seiner Überraschung ihre periodische Beziehung und damit die Nebensächlichkeit der Gelegenheits-Ursachen. Nun wird es auch klar, was die Wendung sagt: eines schönen Tags war er mausetot. Wenn der Todestag wirklich ein periodischer ist, darf ihm der Auftakt des Wohlbefindens nicht fehlen. Und wer weiß nicht, wie oft der Kranke gerade dann stirbt, wenn er und sein Arzt vom Beginn der Genesung überzeugt sind.
Trifft der Tod wirklich nur den, der stirbt? Eine sonderbare Frage. Sie wird gleich ihre Beleuchtung empfangen, wenn ich an die häufigen Fälle erinnere, wo die Tochter nach dem Tod der Mutter »zusammenklappt«, oder einer seit dem Tod des Bruders ein alter Mann geworden ist. Meist sagt man, infolge der Aufregung. Aber das kann nicht richtig sein. Denn man sieht bei 44 Blutsverwandten gewöhnlich krankhafte Veränderungen mit dem Tod ihrer Nächsten eintreten, selbst dann, wenn sie von diesem Tod nichts wissen. Hier beginnt eine Gallenkolik, dort ein Haut- oder Nierenleiden, eine Schwerhörigkeit, ein Zuckerleiden. Man hat auf diesen zeitlichen Zusammenhang der Personen gleichen Bluts bisher noch nicht geachtet und hat äußere Ursachen dort gesucht, wo innere vorlagen.
Natürlich verrät der Tod nur mit besonderer Deutlichkeit, was auch sonst den periodischen Tagen eignet. Die Tage der Eltern färben auf die Kinder ab. An ihnen entstehen und heilen Krankheiten unserer Kleinen. Und wer sich ein wenig auf die Kinderseele versteht, kennt auch die Fleißtage und die »Faulfieber«, die Tugendtage und den »Bock«. Wer aber weiß, daß man diese Zeiten voraussagen kann, wenn man die monatlichen Schwankungen der Mutter berücksichtigt?”
Als einen besonders deutlichen Beweis seiner Theorie erzählt Fließ die folgende merkwürdige Krankheitsgeschichte.
„Einer meiner Klienten suchte mich alljährlich um den 22. November auf. Da war er immer krank. Bald hatte er sich »erkältet« und einen Katarrh erworben, bald »den Magen verdorben« und Verdauungsbeschwerden davongetragen, bald war er mit einem Furunkel behaftet, dessen Ursache er in »unreinem Blut« vermutete. Dieser 22. November war der Geburtstag seines Vaters und zweier Vaterbrüder. Und es war meinem Klienten selbst aufgefallen, daß jener 22. November als Krankheitszeit sich erst seit dem Todesjahr des Vaters bemerkbar gemacht hatte.
Eines Jahrs aber war mein Klient trotzdem am 22. November nicht erschienen. Er war gesund geblieben. Das fiel mir schwer aufs Herz. Denn ich weiß, daß ein plötzliches Aussetzen eines alljährlich wiederkehrenden Leidens nichts Gutes ahnen läßt. So war es auch hier.
Am 23. Januar des folgenden Jahrs werde ich schleunigst gerufen. Ein heftiger Schüttelfrost hatte den Patienten niedergeworfen. Es war der Sterbetag seiner Mutter, die vor 38 Jahren verschieden war. Nach einer bald darauf vorgenommenen Blinddarmoperation fühlte sich unser Kranker überfrisch. Die gewöhnlichen Beschwerden nach einem solchen Eingriff lernte er nicht kennen. Es war, als sei gar nichts geschehen. Solche Überfrische, die man Euphorie nennt, ist vom Übel. Denn der Umschlag ist nie weit. So konnte ein abermaliger Fieberfrost, der am 16. Februar zugleich mit heftigem Nasenbluten einsetzte, nicht wundernehmen. Glücklicherweise hatte sich nur ein Bauchdeckenabszeß entwickelt, der sich Tags darauf, am 17. Februar, ohne Kunsthilfe entleerte. Dieser 17. Februar aber war der mütterliche Geburtstag!
Die Krankheit war am mütterlichen Todestag entstanden und hatte am mütterlichen Geburtstag ihr natürliches Ende gefunden.
45 Das väterliche Jahr war also diesmal vom mütterlichen verdrängt worden, und diese Verdrängung hatte sich nicht ohne heftige Erschütterung vollzogen.
Nach diesen verblüffenden Tatsachen sah unser Freund nicht ohne Besorgnis dem nächsten 22. November entgegen. Ich konnte ihn beruhigen. Er hatte für dieses Mal dem Ablauf des Jahrs in seinem eigenen Organismus den schuldigen Tribut bezahlt. Aber nur für seine Person. Denn er mußte mir an diesem 22. November melden, daß sein Onkel, des Vaters Bruder, der auch am 22. November geboren war, an demselben Tag vom Herzschlag tödlich getroffen wurde!
Man wird ergriffen sein, wenn man einst voll erkennt, wie groß die Ahnenreihe ist, die mit ihrem Jahrestakt unser Leben formt. Uns ist nur der erste Blick vom Horeb her gegönnt. Aber es ist keine Fata morgana, die uns das gelobte Land der Erkenntnis vorspiegelt. Die Fülle des Erschauten ist heute schon erdrückend!”