Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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104. Die Seherin von Prevorst

Quelle: Justinus Kerner: »Die Seherin von Prevorst«, Verlag von Philipp Reclam jun., Leipzig. Z.

Eine in der Geschichte des Hellsehens gleichfalls als höchste Merkwürdigkeit verzeichnete Begebenheit hat sich im Jahre 1826 in dem kleinen Städtchen Weinsberg im württembergischen Neckarkreis zugetragen. Dort wohnte der Dichter und Arzt Justinus Kerner, in dessen Behandlung im genannten Jahr eines der bedeutendsten Medien des vorigen Jahrhunderts kam. Es war Frau Friederike Hauffe, geborene Wanner. Sie stammte aus dem kleinen Bergdorf Prevorst und hatte schon seit früher Jugend Erscheinungen. Im Anfang des Jahres 1822 wurde sie nach einem nächtlichen Traum von einem schweren hysterischen Anfall mit furchtbaren Krämpfen heimgesucht, und seitdem war sie schwer leidend. Als sie zu Kerner nach Weinsberg kam, schien sie eine Sterbende. Alle drei bis vier Minuten mußte ihr ein Löffel Suppe gereicht werden, den sie oft nicht verschlingen konnte, sondern nur in den Mund nahm und wieder ausspie. Reichte man ihn ihr nicht, so verfiel sie in Ohnmacht oder Starrkrampf. In diesem Zustand hat sie noch viele Jahre gelebt.

Jeden Abend um sieben Uhr sank sie in »magnetischen Schlaf«. Gleich in den ersten Tagen ihres Weinsberger Aufenthalts, als sie weder von der Örtlichkeit noch von den Verhältnissen der Einwohner irgend eine genaue Kenntnis haben konnte, klagte sie im Schlaf darüber, daß ein Mann, den sie nicht weit von sich in einer sehr traurigen und bemitleidenswerten Gestalt sehe, sie bedränge, es solle ein Blatt Papier von nicht ganzer Foliohöhe voll von Zahlen hervorgeholt werden. Oben in der rechten Ecke sei eine kleine Einbiegung, in der oberen Zahlenreihe stehe eine 8 und daneben eine 0. Es beginne mit einem J in der ersten Zeile. Sie beschrieb den Mann nach Gestalt und Kleidung so genau, daß man in ihm deutlich den vor einigen Jahren verstorbenen K. erkannte.

Dieser K. war Geschäftsführer in der Handlung von F. gewesen. Er hatte sich Unredlichkeiten zuschulden kommen lassen, und nach seinem Tod wurde das Konkursverfahren gegen sein hinterlassenes Vermögen eröffnet. Die Handlung von F. wurde dadurch um mehrere tausend Gulden geschädigt, und Herr F. erhob Ersatzansprüche gegen die Witwe K.; er bedrohte sie mit dem 135 Offenbarungseid, besonders auch über ihre Kenntnis von einem Geheimbuch. Dessen Vorhandensein war durch ein von K. geschriebenes und zu den Akten gegebenes Blatt bekannt geworden, das »ins Geheimbuch einzutragende« Notizen enthielt. Gerade aber dieses Blatt war und blieb verschwunden.

Über diese recht komplizierten Dinge konnte nach der Meinung aller derer, die den hier geschilderten Vorgängen beiwohnten, Frau Hauffe nicht unterrichtet sein. Sie drang nun auf das Rührendste in Kerner, doch das von ihr beschriebene Blatt zu suchen. Es befinde sich in einem sechzig Schritt von ihr entfernten Gebäude. Sie habe sich in dieses Gebäude versetzt und folgendes gesehen. „Zuerst sei dort ein geräumiges, dann ein minder geräumiges Zimmer, in dem ein langer Mann allein oben an einem Tisch arbeite. Darauf komme ein noch geräumigeres als die zwei früheren Zimmer, worin Kästen und eine lange Tafel stehen; es sei auch eine längliche Kiste darin. An einem der Kästen, der der Eingangstür am nächsten sei, stehe die Türe halb offen. Alle jene Kästen und Kisten gingen jenen Mann nichts an. Dagegen stehe oben auf der Tafel etwas, das sie nicht benennen könne; auf diesem liegen Papiere in drei Haufen. Der Haufe rechts gehe den gedachten Mann nichts an, die zwei andern Haufen gehen ihn an. Im mittleren, etwas unter der Mitte sei das Papier enthalten, dessen Bild jener Verstorbene ihr vorhalte.”

Kerner erkannte in der Beschreibung das Oberamtsgericht, Wohnung und Amtszimmer des Oberamtsrichters H. Dieser bestätigte ihm, daß er an dem betreffenden Nachmittag und Abend bis acht Uhr an der bezeichneten, sonst von ihm nicht benutzten Stelle gearbeitet habe und allein gewesen sei, auch daß er abends einmal in das dritte, das Gerichtssitzungszimmer, gegangen sei und das Halboffenstehen des Bibliothekkastens wahrgenommen habe. Kerner ersuchte nun den Oberamtsrichter, ihm das Durchsuchen des Aktenhaufens zu gestatten, der das gewünschte Papier enthalten sollte. Das Papier wurde hierbei nicht gefunden.

Am Abend dieses Tags klagte Frau Hauffe wieder über die Anwesenheit des Geists, der noch immer traure und in sie dringe, doch für das Auffinden des Papiers zu sorgen. Sie beschrieb noch einmal die Lage des Aktenhaufens und jenes Blatts und gab noch an, daß es unter anderen Papieren in einem Umschlag von starkem grauen Papier liege, eine Angabe, die sie früher nicht gemacht hatte. Kerner sagte ihr, daß er das Blatt vergebens gesucht habe, und daß sie es ihm nicht verübeln könne, wenn er das Ganze für einen ihrer Träume halte. Da versicherte sie aber ganz ruhig, er müsse und werde dieses Blatt noch finden.

Sie quälte sich weiter schwer, weil der Wunsch des Verstorbenen noch immer 136 nicht erfüllt sei, sodaß ihre Leiden weiter zunahmen. Nach fünf Tagen ging Kerner darum noch einmal zum Oberamtsrichter, stellte ihm vor, daß Frau Hauffe mit einer sehr auffallenden Bestimmtheit und einer inneren Wahrheit, die sich nicht wiedererzählen lasse, auf der Wirklichkeit jener Erscheinung und dem Vorhandensein jenes Blatts an der bezeichneten Stelle beharre, und bat ihn, noch einmal mit ihm eine Durchsuchung der Akten vorzunehmen.

Dies geschah. Die beiden Männer fanden jetzt bei genauerem Zusehen in einem Umschlag, der gerade so war, wie ihn die Seherin beschrieben hatte, ein Blatt, das mit Zahlen und Worten von der Hand des K. bedeckt war; die erste Zahl war eine 80, der erste Buchstabe ein J. An der oberen rechten Ecke hatte das Papier tatsächlich eine offensichtlich schon vor langer Zeit gemachte Einbiegung. Kerner schreibt, daß ihn bei diesem Anblick ein rechter Schauer anwandelte. Das Blatt enthielt einen Beweis dafür, und zwar den einzigen, daß K. wirklich ein Geheimbuch geführt hatte.

Der Oberamtsrichter und Kerner kamen nun überein, von dem Auffinden des Blatts gegen jedermann zu schweigen. Der Beamte sollte abends an das Bett der Seherin kommen und das Blatt mitbringen.

Er erschien. Frau Hauffe war in ihren Schlaf verfallen. Bald kam sie wieder auf jenen Verstorbenen zu sprechen und sagte: »Da steht er wieder, aber er sieht beruhigter aus. Wo ist das Blatt? Es muß gefunden sein! Ich muß es suchen!« „Sie verfiel in Erstarrung und tiefes inneres Schauen, wobei sie das Aussehen einer völlig Gestorbenen mit verklärten Zügen hatte und sprach nach einiger Zeit: »Es sind die Papiere nicht alle mehr da; der erste Haufe ist garnicht mehr da, die andern Papiere sind auch nicht mehr in der anderen Lage. Aber das wundert mich! – Da liegt ja das Papier, das der Mann gewöhnlich in der Hand hatte, offen da. Nun, da kann ich mehr lesen: in das Geheimbuch einzutragen – auf das Mittlere dieser ersten Zeilen deutet er immer, er will wohl auf dieses Buch deuten. Was soll man nun mit diesem Blatt machen? Ha! Mich schauderts, denke ich, was jene arme Frau tun könnte, warnt man sie nicht! – Eine Warnung soll an sie durch dieses Blatt ergehen, dann hat er Ruhe, ist vom Irdischen mehr entbunden und kann sich durchs Gebet mehr dem Erlöser nahen.«” Die Warnung sollte die Frau K. vor einem Falscheid über das Geheimbuch bewahren.

Über diese Worte der Seherin war der Oberamtsrichter sehr erstaunt. Er hatte das Blatt nämlich nicht in der Tasche, wie Kerner glaubte, sondern er hatte, um die Seherin auf die Probe zu stellen, die Lage der Akten verändert und das Blatt genau so, wie sie es angab, offen hingelegt.

Frau Hauffe ließ nun weiter keine Ruhe, bis Frau K. von dem Inhalt des 137 aufgefundenen Blatts benachrichtigt worden war. Dann erst zog sich der Geist für immer beruhigt zurück. In der Tat wäre Frau K., wenn nicht gerade in diesen Tagen eine Einigung zwischen ihr und Herrn F. stattgefunden hätte, durch das Auffinden des Blatts davor bewahrt worden, etwas objektiv Unrichtiges zu beschwören.


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