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Quelle: R. H. Francé: »Das Leben der Pflanze«, zweiter Band. Verlag Kosmos, Gesellschaft der Naturfreunde, Geschäftsstelle: Frankhsche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1907. Z.
Unter Mimikry versteht man bekanntlich seit Wallace und Bates jene merkwürdige Schutzanpassung niederer Tierarten, bei der sich der Kopist zu einer täuschenden Ähnlichkeit mit Eigenschaften des Modells entwickelt, um dadurch Feinde zu täuschen und ihren Nachstellungen zu entgehen. Erblickt man in der Natur oder aus Abbildungen derartige Mimikry-Fälle, so staunt man wohl über die hohen Ähnlichkeitsgrade und findet in der Erklärung auf Darwinscher Grundlage den einzigen Ausweg aus der Unbegreiflichkeit. Aber einer unserer vorzüglichsten Forscher, R. H. Francé, hat einer anderen Auffassung Raum gegeben, welche die Nützlichkeit des Mimikry-Phänomens aufs äußerste in Frage stellt. Der Genannte sagt in seinem monumentalen achtbändigen Werk »Das Leben der Pflanze« und zwar im ersten Band:
„Die indischen Kallima-Schmetterlinge oder die südamerikanischen Blattheuschrecken sind das Nonplusultra der Nachäffung von Pflanzenteilen. Ja sie sind so vollkommen, daß sie weit über das Ziel hinausschießen, vor lauter Vollkommenheit unzweckmäßig werden und die Mimikry-Theorie zu Fall bringen. Denn auf ihren Flügeln sind nicht nur vergilbende Blätter mit aller Farbenpracht und dem ganzen Netz der Adern und Nerven abgebildet, sondern noch viel mehr: Minengänge von Raupen, die die Blätter benagen, oder sogar Tautropfen, die auf den Blättern liegen und so vollendet nachgeahmt sind, als ob sie der deshalb berühmt gewordene alte niederländische Maler Huysum darauf gepinselt hätte. Auf den Flügeln des großen Schmetterlings Opsiphanes Cassiopeia malte ferner die Natur ein erbsenförmiges Gebilde mit so täuschenden 104 Details, daß es die Naturforscher – die doch hoffentlich weniger leicht zu täuschen sind als die Vögel – beim ersten Blick für eine recht wenig appetitliche Made halten müssen. Auf den Flügeln vieler der bekannten märchenschönen Morpho-Arten sind hingegen wieder wundervoll schattierte und gut ausgeführte blaue oder rote Beeren abgebildet.
Nun stelle man sich einmal vor, wie trefflich diese klassischen Fälle von Mimikry in der Natur schützen. Ein Vogel, der diese für ihn reizenden Madengänge, Maden, Beeren erblickt, wird wohl kaum widerstehen können, einmal versuchsweise hinzupicken – dann aber ist der Schmetterling verloren und hätte alle Ursache, der Mimikry, die auf seinen Flügeln in so fataler Weise mit Apelles rivalisierte, zu fluchen. Hat aber der Vogel keine menschlichen Augen und Vorstellungen, dann nützt die ganze Maskerade noch weniger, denn dann hat er die fette Beute viel früher erspäht, als wir, denen sich diese blattähnlichen Tiere tatsächlich nur zu leicht, aber auch nicht leichter entziehen, als ein im Wald zu Boden gefallener Bleistift, der doch wahrlich keine Mimikry treibt.
Und diese blattnachäffenden Tierchen scheinen sich über den Wert dieser hübschen Malereien auch völlig im klaren zu sein – denn sie kümmern sich ebensowenig darum wie ihre Feinde. Ein Blatt, das bedächtig davonläuft (wandelndes Blatt!), ein Zweig, der am Baum herumkriecht, das sind wohl auffälligere Dinge, als ein noch so grelles Insekt, wenn es ruhig sitzt. Viele dieser maskierten Geschöpfchen aber setzen sich mit Vorliebe auf weiße, blendende Flächen oder halten die Flügel so, daß man ihre täuschend bemalte Oberseite gar nicht zu sehen bekommt; mit einem Wort: ihr Benehmen ist das denkbar unzweckmäßigste und hebt allen »Nutzen« der Mimikry auf.
Der ganzen Argumentation wird jedoch die Krone aufgesetzt dadurch, daß diese wunderbare Zweig- und Blatt-Mimikry auf Erden schon zu Zeiten existierte, als es noch gar keine Zweige und Blätter gab. Aus den Vorträgen des Professors Entz über diesen Gegenstand läßt sich ersehen, daß einer der ältesten bekannten Tierreste die Blattmimikry ist, die der Urschwabenkäfer (Paläoblatta Douvillei) im mittleren Silur mit seinen Flügeln vollbrachte. Damals gab es weder Blattpflanzen, die man nachahmen konnte, noch Vögel, vor denen man sich zu schützen brauchte, und trotzdem gab es pflanzenähnliche Mimikry!”
Nach diesen Ausführungen scheint es allerdings, daß auf diesem Gebiet die Theorie und die Illusion recht nahe beieinander wohnen. 105