Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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75. Das Kuckucksei

Quelle: Dr. Franz Doflein: »Das Tier als Glied des Naturganzen«, zweiter Band des Werks: »Tierbau und Tierleben in ihrem Zusammenhang betrachtet«, von Dr. Richard Hesse und Dr. Franz Doflein. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1914.

Der Kuckuck nimmt wegen seiner merkwürdigen Gewohnheit der Eiablage in fremde Nester eine Sonderstellung unter den Vögeln ein. Zwar ist er nicht der einzige Vogel, der so pflichtvergessen handelt, aber doch ist bei keinem andern der Brutpflege-Instinkt so vollkommen erloschen wie bei ihm. Unterstützt wird er in seiner unschönen Gewohnheit dadurch, daß seine Eier nicht wie die der andern Vögel immer dieselbe Färbung haben, sondern einen hohen Grad von Anpassung zeigen, indem sie abwechselnd so ziemlich allen Arten gleichen, in deren Nester sie gelegt werden.

Die Rotkehlchen, Finken, Bachstelzen, Drosseln, Grasmücken, die mit einem Kuckucksei beglückt werden, haben nicht nur die Pflegearbeit für den untergeschobenen Fremdling zu leisten, sondern ihre eigene Brut wird noch dazu von diesem in ärgster Weise mißhandelt.

Der kaum ausgeschlüpfte Kuckuck folgt sofort einem bösartigen Instinkt. Er benutzt Schnabel und Beine dazu, um sich mühselig an die andern kleinen Nestlinge heranzuschieben, sich unter sie zu ducken und sie einen nach dem andern aus dem Nest hinauszuwerfen, so daß sie elend umkommen müssen. Blind und nackt ist dieser kleine Verbrecher noch, aber er ruht in seinem grausamen Vorhaben nicht, bis er ganz allein im Nest zurückbleibt und nun für seine unersättliche Gefräßigkeit den ganzen Brutpflege-Instinkt der Pflegeeltern zur Verfügung hat, die den Fremdling nicht als solchen erkennen. Er allein nimmt sie nicht weniger in Anspruch als die gesamte Brut von fünf oder sechs Köpfen, denn die Untat, die er gleich in der ersten Stunde seines Lebens vollbrachte, hat ihn keine geringe Anstrengung gekostet, so daß er sich gehörig aufpäppeln lassen muß.

Wenn man das Schicksal der Vogeleltern bedenkt, die mit einem solchen 101 fremden Jungen bedacht werden, so wird man wohl die Volksredensart verstehen, die davor warnt, sich ein Kuckucksei ins Nest legen zu lassen.


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