Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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168. Allvater Teer

Quelle: Professor Dr. Ing. h. c. Launhardt: »Am sausenden Webstuhl der Zeit«, 23. Bändchen der Sammlung »Aus Natur und Geisteswelt«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, 1910. Z.

In der Abteilung dieses Buchs, die über die mystischen Wunder handelt, ist manches verblüffende Zauberkunststück erwähnt. Meistens handelt es sich hier um die sehr geschickte Täuschung einer gläubigen Gemeinde. Es gibt aber auch eine wirkliche Zauberei, es existiert sogar eine ganze, sehr ernste Gelehrtenzunft, die fortwährend die großartigsten Zauberkunststücke vollbringt. Aus schädlichen und widerlichen Stoffen wird hier im Handumdrehen Nützlichstes hergestellt, Unscheinbares verwandelt sich mit einem Schlag in köstlichen Besitz, Stoffe 230 verändern jäh ihre Form, ihre Farbe, ihre Art, werden in überraschender Weise plötzlich etwas ganz anderes, als sie eben gewesen. Und diese Zauberei geht ohne geheimnisvolles Murmeln, ohne Anwendung magischer Formeln und Bücher ganz offen und sichtbar im wissenschaftlichen Laboratorium vor sich.

Die Chemiker sind die wahren modernen Zauberer. Was sie vollbringen, übertrifft alles, was einst im dunkeln Mittelalter als tiefstes Wunder angestaunt wurde. Wir wollen hier aus dem großen Zauberkabinett der Chemie nur ein Beispiel geben: die erstaunliche Gewinnung einer großen Anzahl der verschiedenartigsten Stoffe aus einer unscheinbaren Substanz, dem Teer. Diese schwärzliche Masse ist unter den Händen der modernen Wissenschaft zu einem wahren Wohltäter der Menschheit geworden. Was man alles aus Teer gewinnen kann, hat der Professor an der technischen Hochschule zu Hannover, Dr. Ing. Launhardt, in seinem prächtigen Buch »Am sausenden Webstuhl der Zeit« in sehr übersichtlicher Weise zusammengestellt.

Launhardt führt uns in eine Gewerbeausstellung. »Da ist ein schöngelber Zeugstoff ausgestellt. Er ist mit Pikrinsäure gefärbt. Pikrinsäure, die auch einen wesentlichen Bestandteil des neuen rauchschwachen Schießpulvers bildet, wird aus Steinkohlenteer gewonnen. Daneben befindet sich ein Schrank, der eine Zusammenstellung verschiedenfarbiger Seidenstoffe enthält. Dieses leuchtende Rot, dies brennende Fuchsin, dies zarte Himmelblau, dies saftige Grün, dies tiefe Schwarz, das sind alles Anilinfarben, die nach der Erfindung des Professors Hoffmann aus Steinkohlenteer hergestellt werden. Eine andere Zusammenstellung gleich schöner Stoffe ist mit Alizarinfarben gefärbt, die nach der Erfindung Liebermanns ebenfalls aus Steinkohlenteer dargestellt werden.

Der unangenehme Geruch, der sich in der Nähe dieser Stoffe geltend macht, rührt von Naphtalin her, das man zum Schutz gegen Motten eingestreut hat. Dies wirksame Mottengift gewinnt man aus Steinkohlenteer. Ebenso widerwärtig empfindet man den Geruch nach Karbolsäure, mit der man zur Desinfizierung den Fußboden besprengt hat, und die auch aus Steinkohlenteer erhalten wird. Weniger lästig für den Geruchsinn wäre es wohl gewesen, wenn man zur Desinfizierung Salizylsäure verwendet hätte, die nach der Erfindung des Professors Kolbe ebenfalls aus Steinkohlenteer gewonnen wird. Salizylsäure findet auch in der Heilkunde wirksame Verwendung.

Ein anderes Heilmittel, das Antipyrin, das seinem Erfinder Dr. Knorr große Summen einbrachte, wird gleichfalls aus Steinkohlenteer verfertigt. Ebenso das Phenazetin, das manche für wirksamer gegen Kopfschmerzen halten als das Antipyrin.

In einem anderen Raum der Ausstellung, in dem Seifen, wohlriechende 231 Öle und andere Wohlgeruchsmittel ausgestellt sind, scheint der Besucher einem Übermaß von Blumenduft ausgesetzt zu sein. Doch alle diese Wohlgerüche sind, fast ohne Ausnahme, aus Steinkohlenteer destilliert. Es findet sich auch Gelegenheit, eine Erfrischung einzunehmen, ein Glas Eis und ein Stückchen Kuchen. Der Kuchen ist wahrscheinlich mit Saccharin gesüßt. Es ist der stärkste bekannte Süßstoff, der 300mal süßer als Zucker ist, sodaß man mit ein oder zwei Messerspitzen voll so viel erreicht wie mit einem Pfund Zucker. Saccharin gewinnt man aus Steinkohlenteer.

Hiernach sollte man denken, man könnte alles aus Steinkohlenteer herstellen. Nun, nicht gerade alles, aber doch noch sehr viel mehr, als was hier angeführt wurde. So zum Beispiel noch das Ammoniak, das so manche gewerbliche Verwendung findet. Die Auffindung der meisten dieser aus dem Steinkohlenteer ausgeschiedenen chemischen Stoffe stammt aus den letzten zwei Dritteln des neunzehnten Jahrhunderts. Das ist begreiflich, da der Steinkohlenteer ein Rückstand der Gaserzeugung ist, die allgemeine Verbreitung erst während der letzten zwei Menschenalter gefunden hat.


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