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Quelle: Professor Dr. Otto N. Witt: »Narthekion«. Verlag von Rudolf Mückenberger, 1901. Z.
In Bremen gibt es außer dem berühmten Ratskeller noch einen andern unterirdischen Raum, der in hohem Grad des Besuchens wert scheint. Es ist der Bleikeller unter dem alten, zum Teil aus dem elften Jahrhundert stammenden Dom. Vor Jahrhunderten sollen darin die Bleitafeln gegossen worden sein, mit denen das Dach des Doms gedeckt wurde. Dieser Keller hat die eigenartige Fähigkeit, hineingelegte Leichen vor der Verwesung zu bewahren. Es liegt hier in offenen Särgen eine Anzahl Toter, meistens fremde und unbekannte, die vor Jahrhunderten in Bremen gestorben sind; noch jetzt sind ihre Züge unversehrt, die Körper wohl erhalten, wenn auch gänzlich ausgetrocknet. Der Keller bewährt seine antiseptische Kraft noch heute, denn neuerdings hineingelegte Tierleichen, wie tote Hühner, Spatzen, Hunde, Papageien, Ratten bleiben in ähnlicher Weise erhalten.
Die oft angegebene Erklärung, die seltsame Wirkung des Kellers sei dadurch entstanden, daß die Wände von jenem mittelalterlichen Bleigießen her mit arsenikalischen Dämpfen gesättigt seien, ist nicht stichhaltig. Denn es gibt andere Keller von gleicher Kraft, in denen niemals Blei gegossen worden ist. Garnicht weit von Bremen in dem Dorf Achim soll sich ein zweiter solcher Mumienkeller befinden, und in der Nähe von Bonn, auf dem Venusberg, liegt ein altes Kloster, das ebenfalls seine Toten unversehrt in einem Keller aufbewahrt. Im Kirchenkeller der alten esthländischen Seestadt Hapsal liegt seit 200 Jahren 236 wohlerhalten die Leiche eines französischen Chevaliers, dem einst seine vielen Gläubiger ein ehrliches Begräbnis versagten. Und in Kiew gar findet man die berühmten Katakomben, in denen die mumifizierten Toten reihenweis aufwärts an den Wänden stehen – die Heiligen von Kiew, zu denen fromme Pilger beten.
Die Ursache der Fäulnisverhinderung in diesen Räumen ist wissenschaftlich nicht ergründet. Und das ist recht bedauerlich, denn sonst könnte man statt der teuren Kühlräume und Eiskeller, die noch dazu die Fäulnis nur verzögern, aber nicht aufheben, solche antiseptischen Keller zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln verwenden. „Wäre uns das Geheimnis der antiseptischen Keller bekannt, so würde sich, wie Otto N. Witt bemerkt, wohl der Versuch lohnen, Patienten mit ansteckenden Krankheiten auf einige Zeit in solchen Räumen unterzubringen. Wer kann sagen, ob sich ihre Heilkraft nicht vielleicht ebenso groß erwiese wie die der bakterienfreien Luft von Davos, Heluan oder Lappland?”