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Quellen: Dr. Alfred Lehmann: »Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart«, deutsche autorisierte Übersetzung von Dr. med. Petersen I, Düsseldorf, zweite Auflage. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart, 1908. Z. – Professor Carl Binz: »Über den Traum«. Bei Adolph Marcus. Bonn, 1878. Z.
»Eine große Zerrüttung in der Natur, zu gleicher Zeit die Wohltat des Schlafes zu genießen und die Geschäfte des Wachens zu verrichten«, klagt der Arzt, als Lady Macbeth schlafend umgeht und versucht, sich die Hände zu waschen. Diese Szene macht auf der Bühne stets einen besonders tiefen Eindruck. Aber auch im Leben dürfte es kaum einen erschütternderen Anblick geben, als den eines schlafwandelnden Menschen. Es kann darum nicht Wunder nehmen, daß die Phantasie den Menschen, die solche Zustände haben, allerhand mystische Kräfte und Fähigkeiten angedichtet hat. Sie sollen auf steilen Dachfirsten und Dachrinnen mit unbegreiflicher Sicherheit wandeln können, geistige Arbeiten verrichten, die sie im wachenden Zustand nicht zu bewältigen vermögen, Bücher in fremden Sprachen lesen, die sie nie gelernt haben.
Alle solche Berichte stammen aber von Menschen, auf deren Beobachtungsgabe und Urteilskraft man sich nicht verlassen kann. Der Zustand hat auch trotz der weitverbreiteten gegenteiligen Ansicht nichts mit irgend einer geheimnisvollen Wirkung des Monds zu tun. Der »Mondsüchtige« wandelt, ob das Gestirn scheint oder nicht scheint, ob es ab- oder zunimmt. Aber auch sonst begibt sich hier nichts Übersinnliches.
„Alles, was der Nachtwandler tut, versteht man, so schreibt Dr. Lehmann, von der Voraussetzung aus, daß er die Handlungen ausführt, von denen er träumt. Gewöhnlich beschränkt er sich darauf, an bekannten Stellen ein wenig umherzuwandeln, sich eine kurze Zeit mit seiner täglichen Arbeit zu beschäftigen und sich dann wieder ruhig ins Bett zu legen. Während seiner Wanderung ist er ganz beherrscht von seinen Traumbildern; er begreift nur das, was mit dem Traum in Verbindung steht. Es ist öfters beobachtet worden, daß der Nachtwandler wohl auf eine Anrede hört und antwortet, sofern sie mit seinen Traumvorstellungen in Verbindung steht; was aber darüber hinausgeht, faßt er garnicht auf.
Von dem Pharmazeuten Castelli, dessen häufige Anfälle von Nachtwandeln vom Arzt Soave genau beobachtet wurden, wird folgendes erzählt. Man traf ihn eines Nachts dabei, Italienisch ins Französische zu übersetzen. Er schlug Vokabeln in einem Lexikon auf und schien bei einem nahestehenden Licht zu sehen. Man löschte dieses Licht aus; er suchte nach ihm und zündete es wieder an; aber während er sich im Dunkeln zu befinden glaubte, war er in Wirklichkeit in einem hell erleuchteten Zimmer, da unterdessen andere Lichter angezündet worden waren. Er konnte jedoch bei diesen nicht sehen, weil er nicht wußte, daß sie brannten.
149 Es kann natürlich vorkommen, daß sich der Nachtwandler unter dem Einfluß seiner Traumbilder auf gefährlichen Plätzen, z. B. Dächern, bewegt, und zwar mit einer Sicherheit, die dem Menschen im Wachzustande abgeht. Es ist dies jedoch ganz begreiflich, wenn man bedenkt, daß der Nachtwandler nicht weiß, wo er sich befindet. Ein jeder Mensch kann selbstverständlich mit vollkommener Sicherheit in einer Dachrinne gehen, wenn sie auf dem Erdboden liegt. Befindet sie sich dagegen am Dach eines hohen Hauses, so stört ihn das Bewußtsein, daß er zwischen Himmel und Erde schwebt. Wenn der Nachtwandler nicht weiß, wo er ist, muß er ebenso sicher oben am Dach wie unten auf der Erde gehen können. Übrigens passiert es doch auch, daß ein Nachtwandler auf seiner nächtlichen Tour hinabstürzt, was nicht gerade für eine absolute Sicherheit spricht.”
Selten sind die Handlungen Schlafwandelnder zuverlässig beschrieben worden. Binz teilt einen verläßlichen Bericht aus der Feder eines Breslauer Arztes, des Medizinalrats Ebers, mit. Er betrifft dessen Pflegesohn, „einen muntern, aufgeweckten Knaben, der zur Zeit der Beobachtung elf Jahre alt war. Lautes Sprechen im Schlaf, Aufstehen zur Zeit des Vollmonds, zweckloses Umhergehen, automatisches Anfassen dieses oder jenes Gegenstands, ruhiges Ausweichen vor absichtlich hingestellten Hindernissen, Öffnen des Fensters und Hinausschauen, Unempfindlichkeit gegen vorgehaltenes Licht bei halbgeschlossenen Augen, ebenso gegen Anrufen, endlich freiwillige Rückkehr in das Bett und Mangel an Erinnerung des Traumwandelns, alles das ist klar und einfach beschrieben, aber es fehlt dem ganzen Verlauf jede Spur von Mystik.
Der Nachtwandler verstand keine fremde Sprache, nahm aber aus dem Repositorium unter anderm den Rousseau heraus, setzte sich hin und tat, als läse er darin. Welch prächtige Gelegenheit, das Erwachen höherer Geisteskraft im Traumwandeln zu konstatieren, das plötzliche Verständnis einer fremden Zunge! Ebers aber macht dazu die Bemerkung, der Wandler habe beim Blättern in diesem Buch ebenso automatisch ausgesehen, wie bei jedem andern; er könne nicht glauben, daß er auch in einem deutschen Buch irgend etwas gelesen habe. Als Ebers ihm einmal, nachdem er ihn eine halbe Stunde hatte wandeln lassen, mit der Reitpeitsche kräftig auf das Gesäß hieb, lief er schreiend in sein Bett; später scheint dann das Geräusch der Peitsche allein ausgereicht zu haben, das Aufstehen zu verhindern. Es wurden ferner wurmtreibende Mittel gegeben, worauf einige Würmer abgingen. Nach dieser Zeit kam kein Nachtwandeln mehr vor.”
Aus seiner eigenen Beobachtung kann Binz dann noch das folgende berichten.
„K., ein stets gesunder Mann aus gesunder Familie, in der Regel mit 150 vorzüglichem Schlaf begabt, litt während seiner Jünglings- und frühen Mannesjahre an Schlafwandeln. In jener Zeit bewohnte ich jahrelang das nämliche Haus mit ihm, später war ich sein Arzt. K. war von lebhaftem Temperament. Seine gewöhnlichen Träume äußerten sich im Sprechen unzusammenhängender Worte und Aufsitzen im Bett. Dabei blieb es aber meistens.
Eines Nachts, er mochte damals 17 Jahre zählen, stand er auf, machte Licht, kleidete sich an, raffte die Unterrichtsbücher des Gymnasiums, das er und ich besuchten, zusammen und stieg die Treppe hinab bis in den Hausflur. Hier vor einer großen Uhr mit kräftigem Schlagwerk angekommen, blieb er stehen und leuchtete, wie regelmäßig im Winter des Morgens früh, nach dem Zifferblatt. Der Zufall wollte, daß die Uhr in diesem Augenblick zwölf schlug. Bei den letzten Schlägen war er so wach geworden, daß er das Unsinnige seiner Lage erkannte, und erschreckt über sich und die Geisterstunde eilte er zu mir, weckte mich und erzählte mir den Vorfall. So stand er, die Bücher unter dem linken Arm, die Studierlampe in der Hand, vor mir. Ich beruhigte ihn, und er ging ruhig wieder zu Bett. Ob die Bücher die für den folgenden Tag richtigen waren, wurde nicht untersucht. K. hatte geträumt, es sei morgens gegen sieben Uhr, und er müsse zur Schule gehen. Automatisch tat er, was er fast täglich seit Sexta zu tun hatte, und erst die vollen Töne der Uhr weckten ihn auf.
Drastischer und mehr an die Kletterberichte über Nachtwandelnde erinnernd war folgender Vorfall, der sich ereignete, als K. 32 Jahren alt und verheiratet war.
K. wurde des Nachts gegen zwei Uhr wach, weil ihn die Knie schmerzten. Das Zimmer war vom Mond genügend beleuchtet, um ihn seine absonderliche Lage erkennen zu lassen. Er kniete nämlich im Hemd auf dem sechs Fuß hohen Porzellanofen des Schlafzimmers und hielt sich mit beiden Händen krampfhaft an dessen Seitenrändern, die profilartig vorsprangen, fest. Durch Zuruf weckte er seine Frau, diese hielt den vor dem Ofen stehenden Stuhl und auf seine Lehne tretend stieg K. herab. K. war als guter Turner denselben Weg hinaufgestiegen. Den weißen Ofen hatte er offenbar für ein Objekt seines Traums gehalten, von dem übrigens keine Erinnerung übrig blieb, und erst der Schmerz der nackten Knie rief die fest schlafenden Gehirnzellen zum Wachsein.”
Durch die Ofenexpedition trat die Notwendigkeit hervor, K. von seinem krankhaften Zustand zu heilen. Es wurde beobachtet, daß er im Traum viel sprach, rief und sich bewegte, wenn er am späten Abend viel geistig gearbeitet oder schwere Speisen genossen hatte. Vor jener Nacht, in der er auf den Ofen stieg, war beides geschehen. Eine darauf angeordnete und genau befolgte Geistes- und Körperdiät machte allem Nachtwandeln und allen aufgeregten Träumen ein Ende. 151
Man kann daraus erkennen, wie sehr die Erscheinung von allem Mystischen entfernt ist; einfache Änderungen des körperlichen Zustands bringen sie zum Verschwinden. Seitdem man das weiß, kann man Schlafwandelnden besser helfen als jener Arzt in Macbeths Schloß Dunsinan, der sagen mußte: »Diese Krankheit geht über meine Heilkunst.«