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Quelle: Emanuel Lasker: »Das Begreifen der Welt«. Verlag von Hans Joseph G.m.b.H., Berlin, 1913.
Wenn im Gebiet des organischen Lebens eine beständige Aufwärtsentwickelung stattfindet, so muß irgendwann auch ein Höchstmaß der Verstandesleistung eintreten. Das Wesen, in dem sich dieses Höchstmaß verkörpert, ist von Emanuel Lasker in seinem Werk »Das Begreifen der Welt« definiert worden; er nennt es »Macheïde«, vom griechischen Machē, der Kampf.
Es ist ein figürliches Wesen und doch auch wieder eine Persönlichkeit, ein Mensch sozusagen, das letzte Produkt reingeistiger Hinaufpflanzung, in der Linie menschlicher Entwickelung als möglich gedacht. In diesem Machenden, dem Sohn des Kampfs, soll dereinst das Begreifen der Welt restlos aufgehen. Bleibt uns Lebenden das Problem dieses Vollbegreifens auch unbeantwortet, so ist doch ein Wesen von gesteigerten Hirnqualitäten denkbar, das die Aufgabe löst.
Der Macheïde ist ein weitläufiger, zeitlich sehr entfernter Verwandter des »Übermenschen«. Während dieser schon im cäsarischen Altertum, in der Hochkultur der Renaissance (etwa als Cesare Borgia) existiert haben mag, wurzelt der Macheïde in entlegener Zukunft. Er stellt das Grenzglied einer unendlichen Reihe dar, in deren Verlauf dauernd Entwicklungsschädlichkeiten ausgetilgt, dafür Förderlichkeiten gewonnen werden, nach den Grundsätzen der Auslese, Anpassung und Zweckmäßigkeit von Oken, Lamarck, Darwin und Spencer.
Ist der Macheïde möglich?
Diese Frage ist zu bejahen. Denn wenn er auch in der Vollerscheinung der Menschen noch nicht umherwandelt, so gibt es doch Teilorgane, die schon heute als Macheïden bezeichnet werden können: das Herz, das Blut, die Lunge, in körperlichem Betracht sogar das Gehirn. Wunderbar zweckdienlich arbeiten sie, aus unerschöpflichem Gattungsgedächtnis gewinnen sie untrügliche Verhaltungsregeln, sie betätigen sich mit automatischer Sicherheit. Der Teil ist also weiter als das Ganze. Gelingt es dem Ganzen, den Vorsprung des Teils einzuholen, so steht der Mensch-Macheïde vor uns. Einstweilen ist dieser Vorsprung noch ungeheuer. Der homo sapiens auf heutiger Stufe sucht, versucht, zagt am Problem, tastet zwischen Gelingen und Mißlingen. Erst der im Unabsehbaren liegende Grenzwert wird Automat sein; will sagen: dieser Grenzmensch wird die Selbstverständlichkeit im Denken und Handeln erreicht haben.
Der Schachmacheïde wird die ideale Partie spielen, jedem Zug des Gegners nicht nur den relativ, sondern den unbedingt besten entgegensetzen als Spieler von unbegrenzter Stärke. In der Welt des Waffenkampfs wird es Macheïden der Strategie geben, die, unterstützt von Macheïden der Organisation, den Sieg unfehlbar in der Hand halten. Ein Macheïde der Mathematik würde die 71 schwierigsten Probleme seines Fachs mit derselben Leichtigkeit durchschauen wie wir den Satz, daß 2 mal 2 gleich 4 ist.
Der Macheïde der Zukunft wird seinen Zeitgenossen die Zukunft erklären, wie er sie begreift. Die Hilfsmittel der Sprache, wie wir sie kennen und üben, werden hierzu nicht ausreichen. Aber andere, gesteigerte Sprachmöglichkeiten werden ihm zur Verfügung stehen. Fraglich bleibt nur, ob jene fernen Zeitgenossen von dem, was der Macheïde des Weltbegreifens alsdann zu erzählen hätte, irgendetwas verstehen werden.
Einstweilen wirkt es berauschend, sich den Macheïden, wenn auch nur als eine Pfeilerfigur am Bau der Erkenntnis, in Gedanken vorzustellen. 72