Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Quelle: E. d'Espérance: »Im Reich der Schatten, Licht aus dem Jenseits«. Verlag der Hofbuchhandlung von Karl Siegismund, Berlin, 1901. Z.
Da, wie schon im vorigen Abschnitt erwähnt, die Zahl der eingehenden Berichte über schlafwandlerische Phänomene gering ist, möge hier noch einer Platz finden, der ein besonders eigenartiges Wunder darstellt. Von vornherein muß jedoch betont werden, daß der Bericht als wissenschaftliches Dokument bedeutungslos ist, da er niemals einer Nachprüfung unterzogen wurde. Er stellt die subjektive Mitteilung eines Menschen dar, der sehr stark unter halluzinatorischen Vorstellungen litt und daher in der Rolle eines Zeugen für tatsächliche Hergänge nicht gerade als besonders beweiskräftig angesehen werden kann.
Frau E. d'Espérance war eines der beachtenswertesten Medien, die jemals gelebt haben. Es wurde öfter beobachtet, daß sie schlafwandelnd durch die Zimmer ging. Über ihr selbstbiographisches Buch »Im Reich der Schatten« werden wir bei der Schilderung mediumistischer Phänomene noch ausführlicher zu sprechen haben (Abschnitt 119). Sie berichtet darin, daß sie als Schulmädchen einst zu einem bestimmten Termin einen Aufsatz über das Thema: »Was ist Natur?« fertig zu stellen hatte. Es wollte ihr aber trotz lebhaftester Bemühung durchaus nicht gelingen. An einem der letzten Abende vor dem Ablaufen des Termins ging sie in dem gemeinschaftlichen Schlafsaal der Schulmädchen zu Bett, versorgte sich mit Papier und Bleistiften und versuchte, aufrecht im Bett sitzend, noch einmal, etwas fertig zu bringen. Es war ihr wiederum nicht möglich, und sie schlief weinend ein. Über die nun folgenden Ereignisse schreibt sie:
„Am nächsten Morgen erwachte ich nicht eher, als bis jemand einen nassen Schwamm nach mir warf, und dadurch wurde ich zu dem schrecklichen Bewußtsein wachgerufen, unfähig zu sein, meine Vorsätze auszuführen.
Mein erster Blick war auf die Bogen Papier und auf die Bleistifte, die unbenutzt neben meinem Bett lagen, gerichtet. Sie waren in Unordnung umhergestreut und manche lagen auf der Erde. Indem ich mich mit schwerem Herzen und schwerem Kopf bückte, sie aufzuheben, sah ich, daß die meisten der Bogen mit Schriftzeichen bedeckt waren. Mein erster Gedanke war natürlich 152 der, daß ich aus Versehen beschriebenes Papier anstatt unbeschriebenen die Nacht vorher in mein Zimmer gebracht hatte, aber ein zweiter Blick zeigte mir, daß die Schrift meine eigene war. Bestürzt und verwirrt saß ich in meinem Nachtgewand auf der Bettseite, nicht achtend auf den Spott meiner Gefährtinnen, die sich anzogen und über meine Trägheit oder »Studienstimmung«, wie sie es abwechselnd nannten, lustig machten. Ich aber war in das Schreiben vertieft und nahm keine Notiz von ihnen. Seite auf Seite las ich fertig, erstaunt und beglückt.
Ich wußte nicht, wie die Schrift dahingekommen war, und zunächst dachte ich garnicht darüber nach, sondern nur an die Freude, die ich empfand, indem ich die schönen Gedanken las, die in wohlgeformten, poetischen Sätzen ausgedrückt waren. »Seht her, Mädchen!« sagte ich, »Hört auf dies!« Und ich begann laut zu lesen: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde brachte hervor Gras und Kräuter, die Frucht brachten nach ihrer Art, und der Baum trug Früchte, und ihr Same war ein jeglicher nach seiner Art, und Gott sahe, daß es gut war.«
»O hör auf, hör auf!« riefen sie. Aber ich fuhr fort, Seite auf Seite zu lesen, in denen wie auf einem Gemälde das Bild der neuen Welt aufgerollt wurde, wie sie ihre erste strahlende Schönheit unter der neuen Sonne, dem neuen Mond, den neuen Sternen entfaltet; jede kommende Entwicklung reicher an Schönheit und an Wundern als die vorhergehende, von den kreisenden Sternen, die ihre vorgeschriebene Bahn wandeln, bis zu dem kleinsten Grashalm, der seine reichen Farben empfängt von den Strahlen des Sonnenlichts. So eifrig las ich, daß ich nicht bemerkte, daß meine Zuhörer weit entfernt waren, dasselbe begeisterte Entzücken, das ich empfand, selbst zu fühlen. Erst als ich das Ende erreicht hatte, war ich mir der spöttischen Bemerkungen und höhnenden Urteile über meine vorgeschützte Unfähigkeit, einen Aufsatz zu schreiben, bewußt geworden.
Mit sonderbarem Gefühl betrat ich an diesem Morgen das Schulzimmer. Ich bemerkte kaum die Kühle und schlechte Laune meiner Klassenschwestern, denn mein Kopf war von Bildern erfüllt, die das geheimnisvolle Schreiben hervorgerufen hatte. Ich fühlte mich unruhig, aufgeregt und ungeduldig, bis die halbe Freistunde mir eine Gelegenheit gab, es wieder zu lesen. Erst jetzt fiel mir die Seltsamkeit der ganzen Sache auf. Wie war es gekommen, wer hatte es geschrieben? Wann war es geschrieben worden? Dann machte mich der Gedanke, daß mir jemand einen Streich gespielt habe, halb ängstlich. Aber nein, es war meine eigene Handschrift, das war unzweifelhaft. Niemand konnte diese Tatsache ableugnen, ich mußte es geschrieben haben. Aber wann? In meinem 153 Schlaf? Ich hatte von solchen Dingen gehört, aber die Gedanken waren nicht die meinigen. Ich hatte das niederdrückende Gefühl, daß ich vollständig unfähig sei, ein halbes Dutzend Sätze zusammenzustellen, ganz abgesehen von diesen wunderschön abgerundeten Perioden – so poetisch und doch so kräftig, daß man beim Lesen auf Flügeln der Phantasie getragen wurde zu dem Schauplatz der Geburtsstätte der Natur.”
Sie gab dann den Aufsatz ab, nachdem sie der Schulvorsteherin die Entstehungsgeschichte erzählt hatte. Sie erhielt, da es sich zweifellos um eine selbst geschriebene Arbeit handelte, eine Prämie.
Wir sehen hier etwas in Erfüllung gehen, was wohl schon jedes Schulkind sich einmal lebhaft gewünscht hat: die »Heinzelmännchen« haben in der Nacht den Aufsatz fertig gemacht. Die anscheinende Wahrhaftigkeit in dem Bericht ist sehr bemerkenswert, doch wissen wir leider von objektiven Zeugen nichts darüber, wie es wirklich bei dem Begebnis zugegangen ist.