Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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216. Zukunftsmusik

Quelle: Alexander Moszkowski: »Das Pianola«, ein Beitrag zur »Kunstphilosophie«. Schlesinger'sche Musikhandlung, Berlin, 1911. Z.

In einem anderen Sinn nennen wir heut das Wort, als es vor zwei Generationen genannt wurde. Wir verstehen darunter die Musik als ein Allgemeingut, insofern ihr durch eine gesteigerte Mechanik die Möglichkeit gewährt wird, ihre letzten Reservate zu durchbrechen.

Bis zu einem gewissen Grad ist das Problem schon gelöst. Wir überblicken die Wegstrecken von der Spieldose über das alte Drehklavier bis zum Pianola und den nach ähnlichem Prinzip gebauten Instrumenten. In seiner heutigen Gestalt ist das Pianola bereits geeignet, Staunen zu erwecken. Nur daß sich dieses Staunen vorläufig fast durchweg nach der falschen Seite wendet. Man erblickt in dem Pianolisten recht einseitig ein Surrogat, einen Ersatzmann für den Virtuosen. Das ist er nun auch, und vorläufig mag die Definition auf ihn passen. Aber in fünfzig, in hundert oder zweihundert Jahren wird die Sache umgekehrt liegen. Dann wird der lebendige Fingerspieler ein Ersatz für den Pianolisten geworden sein, ein großväterliches Überbleibsel aus einer Zeit, die noch sehr viel Zeit, sehr viel Geduld und sehr wenig Blick für die künstlerischen Möglichkeiten des Mechanischen besaß.

Von einem der bedeutendsten Tonkünstler der Gegenwart rührt der sarkastische Ausspruch her: das Pianola unterscheidet sich vom lebenden Virtuosen nur dadurch, daß es keine Fehler macht. Zieht man die Übertreibung ab, so 301 bleibt ein wahrer Kern zurück. Schon ist der Pianolist – ganz abgesehen von der fabelhaften Technik, die ihm das Instrument zur unbedingten Verfügung stellt – in der Lage, seine Vorträge individuell zu betonen. Garnicht selten sind die Fälle, in denen selbst erfahrene Fachkenner, insofern sie sich nicht auf den Augenschein stützen konnten, getäuscht wurden. Sie glaubten von der Straße her oder in einem anderen Stockwerk einen Meister wie Busoni oder Godowsky zu hören und waren sehr überrascht bei der Entdeckung, daß »nur« ein Pianolist konzertiert hatte. Dann war wohl sehr viel von Technik die Rede und allerdings sehr vorgeschrittener Mechanik; aber das ist garnicht das Wesentliche. Die Hauptsache steckt in einem ganz anderen Moment.

Das Pianola der Zukunft wird eine unendliche, mit unbegreiflicher Verschwendung vertane Gedächtnisarbeit in eine rein geistige Nutzwirkung umwandeln. „Als Hauptfaktor tritt hier ein: die Größe der Literatur. Sie allein wird zureichend sein, um das Pianola der Zukunft allen Instrumenten und allen Spielern überzuordnen, denn sie umfaßt tatsächlich die musikalische Welt. Klein und ärmlich erscheint der Spezialbetrieb jedes Fingerpianisten gegen die Universalität des Zukunftsinstruments, das, sowie es die Werkstatt des Erzeugers verläßt, bereits die ganze auf Tasten darstellbare Weltliteratur, einschließlich der großen symphonischen, eingeübt hat. Bei weiterer Vervollkommnung des Vortrags und folgerechter Ausdehnung des Rollenmaterials (das schon heute ungefähr 70 000 Nummern umfaßt) wird es sich über alles Wertvolle spannen, was von Palestrina bis zu den neuesten Meistern jemals in Tönen gedacht ward. Und dieser Universalschatz wird Jedem zur Verfügung stehen, der den Kunstwillen hat, den technischen Zwischenhandel nicht zu betonen, sondern ihn verschwinden zu lassen.

In jener nicht allzufernen Zeit wird man erkennen, daß ein solches Instrument ein Lebendiges darstellt trotz seiner im Grund maschinellen Anlage, wie eine moderne Armee lebendig ist, ob schon sie sich nicht auf die Individualität vorzeitlicher Ritter beruft. Als ein übergeordnet Lebendiges im Sinn der Fechnerschen Philosophie wird es mit der Summe aller Kompositionen denken, aus denen sich seine Zukunftsleistung aufbaut.”


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