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Quelle: Professor Dr. Marckwald, Aufsatz: »Strahlung radioaktiver Stoffe«. 64. Bändchen der Sammlung »Aus Natur und Geisteswelt« »Sichtbare und unsichtbare Strahlen«. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig, 1910. Z.
Seit Kirchhoff und Bunsen die Bedeutung der Spektrallinien feststellten, ist keine wissenschaftliche Entdeckung von so ungeheurer Bedeutung gewesen wie die Auffindung des Radiums. Er wurden hierdurch Eigenschaften der Materie offenbar, die niemand vorher geahnt hatte. Die Wissenschaft, der doch schon 222 die geheimnisvollen Kathoden- und Röntgenstrahlen bekannt waren, sah sich hier vor Tatsachen gestellt, deren Eigentümlichkeit über alle Grenzen hinausgeht.
Einen Augenblick stand gewissermaßen das ganze physikalische Räderwerk still. Ein schwerer Bremsklotz drückte gegen die Hauptspindel: das erlauchte Gesetz von der Erhaltung der Kraft schien widerlegt. Denn hier hatte man einen Stoff, der Energie scheinbar aus Nichts erzeugte und Energie in solchen Mengen, daß alle anderen Kraftquellen dagegen zu Winzigkeiten einschrumpften. Daß es dann doch sehr bald gelang, die neue strahlende Erscheinung in die bestehende Rangordnung als ein regelmäßiges Glied einzufügen, ist ein außerordentlicher Triumph der physikalischen Wissenschaft gewesen. Unter allen Wundern, die mit der Auffindung des Radiums neu erstanden, ist dies vielleicht das größte.
Nun läuft das Räderwerk wieder, die Bremse ist gelöst, ja die Geschwindigkeit der Räder hat sich seitdem um ein Beträchtliches gesteigert, sodaß der Zeiger, welcher der Erkenntnisstunde zustrebt, sich jetzt schneller dreht als vorher.
Wie die Wissenschaft so manche andere wichtige Bekanntschaft auf einem Nebenpfad machte, der von der Hauptrichtung des verfolgten Gedankenwegs abwich – es sei nur an die Elektrizität und die Röntgenstrahlen erinnert – wurde auch das Radium gefunden, während man etwas ganz anderes suchte.
Die Röntgenstrahlen entstehen, wie wir aus dem Abschnitt 161 dieses Buchs wissen, an jener Stelle einer luftverdünnten und stromdurchflossenen Röhre, an der die Kathodenstrahlen die Glaswand treffen und die Erscheinung der Phosphoreszenz hervorrufen. Man begann daher bald nach des Würzburger Professors Tat nachzuforschen, ob das Aussenden von Röntgenstrahlen nicht vielleicht eine Eigentümlichkeit aller phosphoreszierender Körper sei, das heißt solcher, die bei Beleuchtung und auch noch eine Zeit lang nach deren Aufhören eigenes Licht aussenden. Der französische Physiker Henri Becquerel untersuchte in diesem Zusammenhang besonders gründlich die Uransalze, welche sämtlich die Eigenschaft der Phosphoreszenz besitzen. (Uran ist ein sehr seltenes Metall.) Er legte die Salze auf photographische Platten, die in schwarzes Papier eingehüllt waren, und fand in der Tat nach einigen Tagen die Platten an den Auflagestellen deutlich geschwärzt. Es schien also wirklich, daß die phosphoreszierenden Uransalze Röntgenstrahlen aussenden.
Aber in dieser Schlußfolgerung waren, wie sich sehr bald zeigte, zwei Irrtümer enthalten. Die Strahlung hatte mit der Phosphoreszenz nichts zu tun, und es waren gar keine Röntgenstrahlen vorhanden. Es ist das große Verdienst Becquerels, das klar erkannt zu haben. Als man nämlich andere Körper untersuchte, die viel stärker phosphoreszieren, fand man gar keine Schwärzung der 223 photographischen Platten, aber das Uranoxyd und das Uranmetall selbst, die keine Spur von Phosphoreszenz aufweisen, griffen die Platten sehr viel stärker an. Damit war klar erwiesen, daß das Uran und seine Verbindungen eine besondere Art von Strahlen auszusenden vermögen, die man Becquerel-Strahlen nannte.
Selbstverständlich wandte man nunmehr dem Uran eine ganz besondere Aufmerksamkeit zu. Das im Laboratorium Becquerels tätige Ehepaar Philipp und Sklodowska Curie untersuchte alle Mineralien, die zur Herstellung des Urans dienen. Zur nicht geringen Überraschung der Forscher fand man, daß manche dieser Mineralien weit stärker radioaktiv sind als das Uran selbst. Die lebhafteste Radioaktivität zeigte die Joachimsthaler Pechblende, die zu Joachimsthal in Böhmen bergmännisch gewonnen und aus Uranverbindungen verarbeitet wird. Das Ehepaar Curie schloß daraus, daß in den Mineralien irgend ein unbekannter Stoff enthalten sein müsse, der weit stärker radioaktiv ist als das Uran. Und nach zahlreichen schwierigen chemisch-analytischen Prozessen offenbarte sich ihnen eines Tags dieser Stoff wirklich; sie nannten ihn die strahlende Substanz: Radium. Seine Strahlkraft ist Millionen mal stärker als die des Urans.
In dem Radium besitzen wir also einen Körper und zwar ein Element, von dem ständig Strahlen ausgehen. Strahlung aber ist Aussendung von Energie. Man hat die Energie des Radiums durch seine Wärmewirkung messen können und dabei gefunden, daß ein Gramm Radiumsalz in der Stunde etwa 100 Kalorien entwickelt, das heißt in dieser Zeit imstande wäre, 100 Gramm Wasser um 1 Grad zu erwärmen. Daraus läßt sich errechnen, daß 6 Kilogramm Radium eine Pferdestärke leisten könnten. Würde Radium also in größeren Mengen zur Verfügung stehen, so könnte man damit Kessel heizen und Maschinen antreiben. Das wäre der idealste Betrieb; denn man könnte tausend Jahre und mehr mit einer einzigen Kesselbeschickung auskommen.
Woher aber schöpft das Radium die ihm innewohnende Energie? Erzeugt es sie ohne Zufuhr aus sich selbst? Ist es also nun doch eine Art Perpetuum mobile, dessen Unmöglichkeit die physikalische Lehre des Vielfachen nachgewiesen hat?
Die Beantwortungen dieser Fragen enthüllten ein tiefstes Wunder.
Auch das Radium ist, nach Weltzeiten gemessen, keine immer sprudelnde Energiequelle. Es macht Energie in Form von Strahlung nur aus dem Grund frei, weil es in seinen kleinsten Teilen ständig zerfällt. Atomzerfall, das ist die große Offenbarung, die das Radium gebracht hat! Ihre Erkenntnis verdanken wir den Forschungen Rutherfords. Ein Stoff geht in den andern über, und bei der Umwandlung solcher Stoffe, die bei diesem Vorgang Strahlen aussenden, 224 entsteht ein anderer Stoff, dessen kleinste Teile einen geringeren Energiegehalt besitzen als die Ursprungssubstanz. Darum kann bei der Umwandlung Strahlungsenergie frei werden.
Unter den ineinander übergehenden Stoffen befinden sich aber auch solche, die unzweifelhaft Elemente sind. Deren Unwandelbarkeit, ein unantastbares Dogma der Physik fast noch bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, kann darum heute nicht mehr behauptet werden. Daß es einst gelingen kann, den alten Traum der mittelalterlichen Alchimisten zu verwirklichen, Blei in Gold zu verwandeln, scheint darum heute garnicht mehr unmöglich. Der durch das Radium uns bekannt gewordene Atomzerfall ist der wahre Stein der Weisen. Freilich dürfte die bei der Umwandlung zu gewinnende Energie sehr viel wertvoller sein als das Gold selbst.
Als die Ursprungssubstanz des Radiums, das selbst schon ein Zerfallsprodukt ist, hat man das Uran erkannt. Dieses zerfällt erst in mehreren Milliarden Jahren zur Hälfte – man rechnet in der Radiolehre immer nach solchen Halbzeiten – aber nicht direkt in Radium, sondern in einen Zwischenstoff, das Uran X, welches schon in 22 Tagen zur Hälfte verschwunden ist. Dabei bildet sich das Ionium, dessen Halbzeit wieder 20 000 Jahre währt. Unmittelbares Zerfallsprodukt des Ioniums ist das Radium, dessen Hälfte in 2000 Jahren vergeht. Und die wunderbare Kette der Generationen geht dann weiter. Als erstes Zerfallsprodukt des Radiums erscheint die Emanation, ein Gas, das in vier Tagen zur Hälfte abklingt. Die Emanation läßt bei ihrem Zerfall seltsamerweise ein anderes Element austreten, das Helium, diesen berühmten Stoff, der einstmals zuerst mit Hilfe des Spektroskops in der Sonnenatmosphäre entdeckt und dann später von Ramsay auch in dem Luftmeer der Erde nachgewiesen wurde. (Siehe Abschnitt 167.) Ferner aber liefert die Emanation auch noch sechs weitere bisher mit Sicherheit festgestellte Zerfallsprodukte nacheinander: Radium A, B, C, D, E und F. Jeder dieser Stoffe hat seine eigene ganz bestimmte Halbzeitzahl.
Es entsteht die Frage, welches Glied das letzte in dieser zauberhaften Kette ist. Da der Hergang des Zerfalls seit dem Entstehen der festen Erdrinde wahrscheinlich ununterbrochen angedauert hat, so muß der als letzter entstehende Stoff sich in beträchtlichen Mengen abgelagert haben. Nun findet man in allen Uranerzen Blei und umsomehr davon, je höher das geologische Alter der Ablagerung ist. Man hat daraus geschlossen, daß Blei das letzte Umwandlungsprodukt des Urans ist. Es ist hier also ein Element aus dem anderen über eine Kette von Elementen hinweg entstanden.
Reines Radiummetall hat noch niemand in der Hand gehabt. Es gibt wohl Möglichkeiten, es zu gewinnen, aber man muß befürchten, daß es durch den 225 Sauerstoff der Luft sehr rasch angegriffen werden, also nicht luftbeständig sein würde. Und diese Gefahr der Zerstörung kann man bei der beispiellosen Kostbarkeit des Stoffs nicht auf sich nehmen. Sein hoher Preis entsteht dadurch, daß die Gewinnung des Radiums aus der Joachimsthaler Pechblende überaus schwer ist. Der Gehalt dieses Minerals an Radium beträgt nur den zehnmillionsten Teil seines Gewichts. Um ein zehntel Gramm Radium zu gewinnen, muß man also 1000 Kilogramm Pechblende verarbeiten. Viele hundert Kristallisationsprozesse sind notwendig, ehe man das Radiumsalz erhält. Da nun noch dazu die Pechblende selbst sehr selten ist, so wird es begreiflich sein, daß ein tausendstel Gramm Radiumsalz 200 Mark kostet. Die Gewinnung größerer Mengen ist überhaupt unmöglich.
Aber auch in allerkleinster Masse äußert sich die strahlende Substanz sehr deutlich. Sie sendet drei verschiedene Strahlenarten aus, die Alpha-, Beta- und Gammastrahlen, die sich durch ihre verschiedene Fähigkeit, andere Stoffe zu durchdringen, und durch ihr verschiedenes Verhalten im magnetischen Feld voneinander unterscheiden. Alle haben sie die Eigentümlichkeit, die umgebende Luft leitend zu machen, also durch ihre Anwesenheit ein Elektroskop zu entladen, die gespreizten Plättchen in diesem zum Zusammenfallen zu bringen. Diese Einwirkung ist so stark, daß sie den bekanntlich überaus feinen Nachweis eines Stoffs durch das Spektroskop noch um das Millionenfache übertrifft.
„Um von der Empfindlichkeit der elektrometrischen Methode eine Vorstellung zu gewinnen, wollen wir, nach Professor Marckwald, annehmen, daß wir ein tausendstel Gramm Polonium (einer besonders stark radioaktiven Substanz) auf einem Kupferband von der Länge des Äquators elektrolytisch niedergeschlagen hätten. Alsdann würde ein Abschnitt in der Länge von zwei Zentimetern, also der zweitausendmillionste Teil, noch reichlich genügen, um die Radioaktivität am Elektroskop sicher nachzuweisen, und die Zahl der Abschnitte würde ausreichen, um jedem Erdbewohner einen davon zur Anstellung des Versuchs zu überlassen.”
Die Radiumstrahlen üben auch physiologische Wirkungen aus. Ihre bakterientötende Kraft ist heute schon erprobt. Aber auch höhere Lebewesen werden in gleicher Weise beeinflußt. Mäuse, Frösche und Meerschweinchen, die man mehrere Tage lang der Bestrahlung aussetzt, sterben unter Lähmungserscheinungen. Frau Curie hat einmal geäußert, daß sie es niemals wagen würde, ein Zimmer zu betreten, in dem sich ein Kilogramm Radium befände.
Was wir heute über das Radium wissen, ist nur ein schwacher Anfang. Ein großartiger Wunderquell ist mit seiner Entdeckung aufgeschlossen worden. Wenn es jemals gelingt, den Atomzerfall künstlich zu beschleunigen, dürfte die Menschheit damit eine Energiequelle unerhörter Art besitzen. Erst künftige 226 Geschlechter werden das hohe Geschenk ganz zu würdigen vermögen, das die Natur uns in der Wundersubstanz Radium dargereicht hat.