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Nach Angaben von Dr. Albert Moll.
Im Jahre 1908 traten im Berliner Wintergarten ein Herr und eine Dame auf, die sich die Zancigs nannten und alles übertrafen, was bis dahin an Gedankenübertragung geleistet worden war. Sie führten unter anderem folgendes aus:
Frau Zancig steht auf der Bühne vor einer einfachen Schiefertafel. Herr Zancig bewegt sich unten zwischen den Zuschauern. Man reicht ihm einen Straßenbahnfahrschein. Er sieht darauf, spricht aber kein Wort. Frau Zancig schreibt die oft fünf- bis sechsstellige Nummer des Fahrscheins auf die Schiefertafel. Ein Russe reicht dem Künstler seine Visitenkarte, die in russischen Buchstaben gedruckt ist. Herr Zancig kann (angeblich!) russisch nicht lesen, aber seine Frau malt einen Buchstaben nach dem andern auf die Tafel, ohne zu wissen, was sie bedeuten, und ohne daß ein Wort gesprochen wird.
In einer Privatsitzung befand sich Dr. Albert Moll mit den Zancigs in einem kleinen spiegellosen Raum. Frau Zancig setzte sich, das Gesicht zur Wand gekehrt, in die äußerste Ecke, Herr Zancig und Moll so weit wie möglich davon entfernt. Auf dem Tisch lag ein Roman. Moll öffnete das Buch irgendwo, prägte sich eine Zeile ein, deutete auch Herrn Zancig mit seinem Finger die Zeile an, klappte selbst das Buch zu und überreichte es Frau Zancig – kein Wort wurde gesprochen. Frau Zancig, die (angeblich!) kaum deutsch verstand, fand und las die Zeile.
An einer anderen Sitzung nahm außer Moll auch Professor Dessoir teil. Hinter einer spanischen Wand befand sich Moll mit Frau Zancig, im Zimmer durch die Wand von ihnen um ein Stück getrennt Dessoir und Herr Zancig. Dessoir schreibt eine Zahl auf: 9787. Herr Zancig sieht die Zahl, fixiert sie stark, nach einiger Zeit schreibt Frau Zancig langsam eine Ziffer nach der andern nieder. Dessoir bringt eine argentinische Briefmarke zum Vorschein, die von Frau Zancig nach einigem Zögern als eine ausländische Marke bezeichnet wird. Die Worte, die Frau Zancig damals hintereinander sagte, waren folgende: Stamp, Foreign, Africa, Austrian, Russian, American, Arabic, Argent. Hiermit schloß das Experiment; die Frau hatte sich dergestalt an das richtige Schlußwort »argentinisch« herangetastet.
Wer solche Versuche zum ersten Mal sieht, ist leicht geneigt, die Kritik zu verlieren. Verständlich sind diese Versuche nur dann, wenn man den Schlüssel dazu ermittelt. Mit Gedankenübertragung haben die Sachen garnichts zu tun. Zunächst sei erwähnt, daß die Behauptungen der Vorführenden, sie verstünden kein Deutsch, kein Russisch usw., meistens unwahr sind und lediglich dazu dienen, 139 etwaige Fehler zu entschuldigen, außerdem aber um unvorsichtige Äußerungen Anderer aufzunehmen und mit zu verwerten.
Das Ganze beruht auf einer Verabredung, einem für diese Verabredung ausgebildeten Gedächtnis und langem Zusammenarbeiten der Beteiligten. Um dies zu erklären, wollen wir vom Einfachen ausgehen.
Die meisten derartigen Experimente – und auch die Zancigs haben dies vielfach beim öffentlichen Auftreten so gemacht – werden mit Fragestellungen vorgeführt. Nehmen wir an, Frau Y. soll die Antworten geben, und X. ist ihr Mitarbeiter, dem die Gegenstände von einem Zuschauer gezeigt werden. Die Fragestellung ist hierbei jedesmal eine andere, und in ihr liegt der Schlüssel. Frau Y. soll z. B. eine Visitenkarte mit dem Namen Lang lesen, die dem X. gezeigt wird. X. fragt sie dann: »Lies auch nun geschwind.« Die ersten Buchstaben der einzelnen Wörter sind: l, a, n, g. Diese würden zusammen den Namen Lang ergeben. In Wirklichkeit wird natürlich dieser Schlüssel nicht benutzt, vielmehr werden gewöhnlich schon das erste und zweite Wort vertauscht, damit man nicht zu schnell den Schlüssel errät. Es würde also die Frage lauten: »Auch lies nun geschwind.« Doch wäre auch dies nur ganz primitiv. In Wirklichkeit bedeuten bestimmte Worte des Fragenden schon eine bestimmte Antwort. Ähnlich wie bei der Stenographie häufig vorkommende Silben und Wörter durch bestimmte Zeichen ausgedrückt werden, geschieht dies in unserm Fall durch bestimmte Worte.
Ein großer Fortschritt demgegenüber ist es nun, wenn überhaupt nicht mehr gefragt wird. Auch da besteht aber ein Schlüssel, nur geschieht die Vermittelung durch optische Zeichen, nicht wie im andern Fall durch akustische. Dies war oft bei den Zancigs der Fall, und es wurde noch dadurch erleichtert, daß Herr Zancig in ganz hellem Anzug im Publikum herumging, sodaß die Frau jede seiner Bewegungen genau sehen konnte. Er kann zahllose verschiedene Zeichen durch verschiedene Stellungen seiner Körperteile geben. Eine leichte Beugung des Kopfs nach rechts oder links, nach vorn oder hinten gibt bereits 4 Zeichen; hält er den Gegenstand in der rechten Hand oder in der linken, so bedeutet dies auch etwas verschiedenes, hat er dabei den rechten oder linken Arm erhoben, ebenfalls. Er hat damit durch Kombination schon 16 verschiedene Zeichen zur Verfügung; eine kleine Drehung des Körpers nach rechts oder links, eine Seitwärtsbewegung nach rechts oder links, alles dies mit anderen Bewegungen kombiniert, gibt eine überaus große Zahl von Verständigungsmöglichkeiten.
Jede Kombination der Bewegungen des X. ist aber für Y. ein Symbol, bedeutet entweder einen Buchstaben, eine Zahl, eine Silbe oder ein Wort. Und dies haben die Beiden nicht nur Monate sondern Jahre miteinander eingeübt, 140 sodaß der, welcher nur den Schlußstein sieht, sich garnicht zu denken vermag, daß durch Gedächtnisübung solche Resultate erzielt werden können.
Man denke aber nur an das Erlernen einer neuen Sprache, der Stenographie, einer Chiffreschrift, und man wird ohne weiteres erkennen, wie durch Aufstellung eines sinnreichen Schlüssels und lange Übung eine Fähigkeit erreicht werden kann, die andern abgeht. Noch deutlicher wird der Vergleich, wenn wir an die Taubstummensprache denken und berücksichtigen, daß es sich bei der Verständigung zwischen den beiden Versuchspersonen fast immer um verhältnismäßig einfache Dinge handelt. Ebenso wie Taubstumme sich aber durch Zeichen verständigen, welche die normalen Menschen garnicht verstehen, ebenso geschieht es bei den beiden Zancigs und ihren Spezialkollegen; nur sind hier die Zeichen viel feiner.
Das auffallendste bleibt freilich das oben beschriebene Experiment, wo einerseits die beiden Versuchspersonen, Herr und Frau Zancig, von einander durch eine spanische Wand getrennt sind, und andererseits Fragen nicht gestellt werden.
Die Lösung beruht auf einem gleichartigen rhythmischen Zählen.
Musikalische Leute, deren rhythmisches Gefühl gut ausgebildet ist, sind imstande, entsprechend dem vorgeschriebenen Tempo gleichmäßig innerlich zu zählen, sodaß sie innerhalb eines kleinen Zeitraums, wenn sie gleichzeitig zu zählen anfangen, auch dieselbe Zahl erreichen.
Dies braucht man nur auf das obige Experiment mit den Ziffern zu übertragen. Die vierstellige Zahl wird selbstverständlich in 4 Ziffern und zwar 9, 7, 8, 7, zerlegt. Der draußenstehende Zancig zählt zunächst bis 9. Für den Beginn des Zählens wird ein unscheinbares und von den Zuhörern nicht beachtetes Signal gegeben, z. B. ein leichtes Hüsteln, ein leichtes Auftreten mit dem Fuß oder ähnliches. Für das Ende des Zählens ist ebenfalls ein Signal verabredet. Infolgedessen ist Frau Zancig hinter der Wand imstande, anzugeben, daß die erste Zahl eine 9 ist; mit jeder weiteren Ziffer wird es ebenso gemacht, sodaß 4-, 6- und 7stellige Zahlen, ohne daß ein Wort gesprochen wird, vermittelt werden können.
In ganz ähnlicher Weise geschieht die Vermittelung von Worten. A bedeutet dann 1, G 7, R 18 usw. Es ist ganz klar, daß mit einem solchen rhythmischen Zählen und ganz unscheinbaren Anfangs- und Endsignalen sich die beiden vollständig verständigen können. Das Experiment wird daher nie gelingen, wenn etwa der Versuchsperson die Ohren wirksam verstopft werden. Dies hat auch Frau Zancig bei einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht gestattet, und es wird auch von anderen nicht erlaubt werden. 141