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Quelle: Dr. Fr. Bidlingmaier: »Ebbe und Flut« in der Sammlung »Meereskunde«. Verlag Ernst Siegfried Mittler & Sohn, Berlin, 1908. Z.
Es ist ein erhabenes Schauspiel, das an unserem Auge vorüberzieht, wenn wir die Erscheinungen von Ebbe und Flut betrachten. „Das Weltall ist der Schauplatz unserer Ereignisse, Himmelskörper sind die handelnden Personen. Es ist eine Quelle des höchsten Genusses für den Verstand und das Gemüt zugleich, ja eine Tatsache von tiefer philosophischer Bedeutung für die Stellung des Menschen in der Welt, daß der Mensch, das vergängliche Stäubchen, imstande ist, die ewige Ordnung des Kosmos zu erkennen, das Zusammenspiel der Himmelskörper zu verstehen, vorauszusagen und so gleichsam zu beherrschen.
307 Wenn der Mensch draußen auf hoher See mit dem wild stürmenden Meer um sein Leben gekämpft hat, so bleibt ihm ein tiefer Eindruck von der elementaren Gewalt der Meereswellen. Und doch ist diese Art Wellen nur eine flüchtige Erscheinung der Oberfläche, deren Einfluß mit der Tiefe rasch verschwindet. Die Meereswogen dagegen, welche die sogenannten »Gezeitenwellen« ausmachen, rühren seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das ganze Weltmeer bis in seine tiefsten Tiefen auf; mit ungleich viel größerer Geschwindigkeit wandern sie ruhelos um den Erdball und haben eine so große Länge, daß nie ein menschliches Auge zwei aufeinanderfolgende Kämme einer solchen Welle überschauen kann.
Wenn der Kamm der Gezeitenwelle naht, dann steigt das Wasser – wir haben »Flut«, sagt der Küstenbewohner, und hat der Wellenberg unseren Beobachtungsort eben erreicht, so haben wir »Hochwasser«. Darauf »kentert« der Strom, d. h. die Wassermassen, die unaufhaltsam majestätisch herangerollt waren und sich aufgestaut hatten, fließen wieder ab, zuerst langsam, dann schneller und schneller – es ist »Ebbe«, wie man sagt – bis schließlich der Wasserstand sich wieder langsamer seinem Minimum, dem »Niedrigwasser« nähert. Nach dem Niedrigwasser beginnt von neuem das ruhelose Spiel. Überall auf der ganzen wasserbedeckten Erde, auf hoher See und an jedem Küstenort, auch auf den großen Binnenmeeren und -seen, wiederholt sich zweimal am Tag mit wunderbarer Regelmäßigkeit dieses gewaltige Schauspiel. Es ist das Atmen der Erde, deren Pulsschlag rings um den Erdball rollt, und seit den ältesten Zeiten hat dieses geheimnisvolle Atmen den Menschengeist mächtig gepackt, sein Gemüt und seinen Verstand zum Sinnen und Forschen gereizt.”
Die komplizierten Einwirkungen der Anziehungskraft von Sonne und Mond zusammen mit der Drehung der Erde sind es, die ständig zwei Wellenberge und zwei Wellentäler über die Oberfläche der Meere kreisen lassen.
„Vergegenwärtigen wir uns einmal, welche kolossalen Massentransporte nötig sind, um eine Gezeitenwelle zu erzeugen. Ihre Länge ist eine ganz gewaltige: am Äquator sind die beiden aufeinanderfolgenden Wellenberge 20 000 Kilometer voneinander entfernt; gegenüber einer solchen Wellenlänge ist das Weltmeer mit seiner mittleren Tiefe von nicht einmal 4 Kilometern nur eine winzig flache Wasserschale.
Wenn der Wellenberg die Länge von Greenwich hat, so hat das eine Wellental die Länge von Kalkutta, das andere Wellental die Länge von Chicago. Welch ein grandioses Schauspiel! Das ganze Weltmeer ist bis in seine tiefsten Tiefen in Bewegung: von Kalkutta und von Chicago an eilen die Wasser aller Schichten herbei, um in Greenwich-Länge den Wasserberg zu bilden! 308 Und für einen Augenblick nur sind alle Bewegungen für den Wellenberg von Greenwich eingesetzt; denn mit großer Geschwindigkeit eilt dieser über den Erdball dahin und hat nach drei Stunden schon die Länge von Rio de Janeiro erreicht!
Welch wunderbar gewaltige, erhabene Ordnung waltet in den Wassern des Weltmeers: seit Jahrhunderten und Jahrtausenden zieht jedes Teilchen seine Bahn, indem es in sechs Stunden einen horizontalen Weg von schätzungsweise 1200 Metern zurücklegt, um immer im rechten Augenblick an seinem rechten Ort zu sein; denn seit Jahrhunderten und Jahrtausenden rollt die Gezeitenwelle in stets gleicher Weise wie der Pulsschlag über den Erdball dahin! Wahrlich, Kosmos (Ordnung) ist ein schönes, ein passendes Wort für »Welt«!”