Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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217. Das vertiefte Kino

Wir beginnen mit der Gegenwart, um einer nicht mehr allzufernen Zukunft das Horoskop zu stellen.

302 Im Januar 1916 wurde in Berlin zum ersten Mal ein Schauspiel aufgeführt, das sich »Deutsche Lichtspiel-Oper« nannte. Man gab in ganzer Ausdehnung den gefilmten »Lohengrin«, aufgenommen nach einer wirklichen, mit bedeutenden Kräften besetzten Vorstellung. Und das wesentlich Neue bestand darin, daß der Dirigent, der jene Aufführung geleitet hatte, ebenfalls gefilmt war und auf der nämlichen Fläche in seiner taktierenden Bewegung erschien.

Nicht nur als eine begleitende Figur, sondern als der wirkliche Dirigent der gesamten Kino-Oper!

Denn das Flimmerspiel auf der Leinwand wurde durch ein wirkliches Orchester sowie durch lebende Solisten und Chorsänger ergänzt. Dieses lebendige Aufgebot befand sich vor der Kinofläche in verdecktem Raum, unsichtbar dem Zuschauer, aber mit den eigenen Blicken dem gefilmten Dirigenten zugewandt. Dieser allein gab die Taktmaße und stellte dadurch einen zeitlichen Gleichlauf zwischen den Vorgängen im Kino und den gespielten wie gesungenen Klängen her.

Diese Koinzidenz erstreckte sich bis auf die Übereinstimmung nicht nur der Mimik, sondern sogar der Mundstellungen mit den Gesangstönen und ergab zumal für die Darstellerin der Elsa durch längere Zeitstrecken den Effekt einer vollkommenen Täuschung; während bei anderen Figuren der Isochronismus noch nicht bis zur vollen Deckung erreicht war. Das Lichtspiel an sich stand überhaupt nicht auf der Höhe der schon heute möglichen Technik. Dennoch lag etwas neues vor und etwas sehr aussichtsreiches. Denn im Prinzip wurde gezeigt, daß ein solcher Gleichlauf realisierbar und nur noch der graduellen Vervollkommnung bedarf. In irgend einer Zukunft wird man daher historisch auf den Januar von 1916 zurückzugreifen haben als auf den Beginn und die erste Probe der Kino-Oper. Und damit geraten wir an ein Kunstproblem und an eine Prophezeiung, die sich über den vorliegenden Fall hinweg auf die gesamte Bühnenliteratur erstreckt.

Zwei Faktoren müssen und werden hinzukommen: erstens der Ersatz des Sängers oder Sprechers durch ein ihm gleichwertiges, von allen Schnarrtönen gereinigtes Grammophon; zweitens die Vertiefung des Kinos selbst ins Körperliche. Nichts zwingt uns, die zweidimensionale Anordnung auf weißer Fläche als ein Grundgesetz der Projektion anzuerkennen. Heute noch beruhigt sich das Illusionsbedürfnis bei der scheinbaren Perspektive. Es wird anspruchsvoller werden, die Körperlichkeit verlangen und die Entwicklung der kinematographischen Tiefbühne fordern. Da dies ein Problem der Mechanik ist, so wird es irgendwie gelöst werden. Vielversprechende Versuche sind bereits im Gang, nach optischen Methoden, mit stereometrischen Hilfsmitteln die schnelle und billige 303 Übertragung eines wirklichen Bühnenvorgangs auf eine nicht abtastbare, sonst aber der Wirklichkeit völlig gleichwertige Szenerie zu bewirken.

Wird dieses Ziel einmal erreicht – zehn oder fünfzehn Jahre spielen dabei keine Rolle – dann wird sich das Kino mit all seinen fernen Möglichkeiten, mit vollem Synchronismus des Tons, erhöhtem Relief der Darbietung und optischer Tiefbühne zum gegenwärtigen Theater verhalten wie der Buchdruck zur Literatur.

Was wir heute im Theater als Volkskunst ausrufen, ist doch nur ein Reservat örtlich und wirtschaftlich Begünstigter; zur wirklichen Volkskunst kann es erst durch den ungeheuren Multiplikator der Maschine werden. Die Elektra, der Götz und der Wilhelm Teil haben nicht dadurch gelitten, daß sie maschinell in Millionen von Exemplaren verbreitet wurden, und daß sie für zwei Nickel aus dem Automaten gezogen werden können. Und so wird der Darsteller der Zukunft, als Vermittler zwischen Werk und Welt, gleichzeitig an hundert verschiedenen Bühnen zwischen Nordkap und Neuseeland in hundert wirklichen Vorstellungen auftreten; Alter, Krankheit und Tod werden seine Wirksamkeit nicht mehr begrenzen, und das weithin popularisierte Kunstwerk wird an eine Zukunft gelangen, die dem Mimen Kränze flicht. 304


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