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Theodor Fontane (1819-1898)

Im Anfang der 1880er war er, schon ein Sechziger, sehr bekannt, doch nur in Berlin, als Theaterberichter Th. F. in der Vossischen Zeitung; über Berlin hinaus, gar in Mittel- und Süddeutschland, so gut wie unbekannt. Allenfalls stand in einigen preußischen Schullesebüchern ein Gedicht Fontanes, meist das von ›Joachim Hans von Zieten, Husarengeneral‹. Über Deutschland hinweg nie genannt, also von ›Berühmtheit‹ keine Spur. In den kunstgebildeten Kreisen Berlins wußte man, er habe auch einmal einen Roman geschrieben, ›Vor dem Sturm‹ hieß er, – na ja, aber wer kannte ihn? Ich nicht, meine Freunde beim ›Magazin‹ auch nicht. Wir kannten nur einen Th. F., der in der Vossischen über neue Stücke im königlichen Schauspielhause schrieb, immer nett zu lesen, ohne ein durchgreifendes Wort, so wie man in der damaligen Vossischen und über die damaligen Stücke der königlichen Bühne schrieb. Andre ernsthafte Bühnen gab es in Berlin vor 1883 nicht.

Da brachte mir eines Tages die Post für mein ›Magazin‹ einen dünnen Band von Theodor Fontane: ›L'Adultera‹. Das war 1881. Daß Th. F. ein sehr gescheiter Mann sein müsse, wußte ich aus seinen Theaterberichten; sie hatten mich durch ihren höchst natürlichen plaudersamen Sprechstil gefesselt. Alle Welt las sie gern; er berichtete viel besser, als heute berichtet wird, selbst von dem großen Alfred Kerr und dem vielleicht doch noch größeren Arthur Eloesser. Daß Th. F. geistreich wie nur einer sei, erkannte man, ohne daß er in jedem Satz geistreich scheinen wollte, wie das heute die Regel ist. Und wie wohlwollend war er für die Verfasser der doch meist recht mittelmäßigen Stücke und besonders für die Darsteller!

Also da lag ein, nicht dickes, Buch dieses Th. F. vor mir, von dem ich immer nur halbe oder dreiviertel Spalten gelesen hatte. Ich dachte, das wird sich lesen lassen; auch hatte ich gehört, daß in ›L'Adultera‹ ein jüngst in der Berliner ›Gesellschaft‹ erlebtes Geschehnis behandelt sei: die Entführung der Frau eines sehr angesehenen Mannes durch einen ganz unbedeutenden Menschen. Ich las, wurde gefesselt, namentlich von vielen Feinheiten in der Unterhaltung, vielen sprachlichen Reizen, von der Überlegenheit und Sicherheit der ganzen Darstellung. Mir kam der Gedanke, dann die Überzeugung: Aber dies ist ja vortrefflich, dies ist doch mindestens ebenso gut wie die vielgepriesenen Franzosen, viel feiner als Zola, viel wärmer als Maupassant, auf gleicher Höhe mit Daudet. Ich setzte mich hin und sagte dies und manches dazu in einem längern Aufsatz des ›Magazins‹, dem ersten, der je über den großen Deutschen Erzähler Fontane geschrieben ward. Eigentlich sollte ich jenen literaturgeschichtlich folgenreich gewordenen Aufsatz hier ganz oder halb abdrucken; aber ich muß ja in diesem Buch ohnehin immerfort auch von mir sprechen, wie das alle ›Lebenserinnerungen‹ mit sich bringen.

Das Heft des ›Magazins‹ erschien; ich bekam mancherlei Zuschriften, Zustimmungen, besonders aus Berlin, dann einen freudigen Brief von Paul Heyse, dem aufrichtigen Freunde Fontanes, und dann, einige Tage darauf, meldete mir das Mädchen: Ein alter Herr möchte Sie sprechen, hier ist seine Karte –: Theodor Fontane, dazu seine Wohnung Potsdamer Straße 134c. Er trat ein, noch sehe ich das ganze Bild: in meinem großen hellen Zimmer am Lützow-Ufer – das Haus ist unverändert – da stand Theodor Fontane, der ›alte Herr‹, stattlich, nur leichtergraut, mit dem geschichtlich gewordenen grünen Schal um den Hals; ja da stand er an der Tür, tat keinen Schritt vorwärts ins Zimmer, schüchtern wie ein armer Bittsteller, und – ja dann sah ich Tränen in seinen Augen. Ich streckte ihm die Hand entgegen: Lieber Herr! – da umarmte er mich und lächelte mich durch Tränen an. Und dann saßen wir einander gegenüber vor meinem Schreibtisch, demselben an dem ich dies nach 48 Jahren schreibe, und er begann: ›Ich muß Ihnen danken: Sie sind der Erste und der Einzige, der auszusprechen gewagt hat, daß Theodor Fontane ein Erzähler hohen Ranges sei, so bedeutend wie die großen englischen und französischen Erzähler unsrer Zeit. Das hat noch keiner von mir öffentlich gesagt; Allen bin ich nur der Dichter der preußischen Balladen in den Schullesebüchern und der Theaterberichterstatter für die Vossische. Ich selbst habe immer geglaubt, daß ich noch etwas andres könne, und meine Frau hat es auch geglaubt, aber wer sonst? Vielleicht noch mancher Andre, mancher hat es mir sogar wohlwollend gesagt, unter vier Augen, aber drucken hat es keiner lassen. Nie werde ich Ihnen das vergessen!‹

Fontane hat es mir nie vergessen: seit jenem Tage wob sich zwischen ihm und mir ein schönes Band, wir verkehrten miteinander, einer saß oft an des Andern Tisch, die Frauen lernten sich kennen, – ach ich habe sie alle gekannt, die längst hingeschieden sind: seine prächtige Frau Emilie, seine kluge feine Tochter Meta, seinen frühverstorbenen ungewöhnlich begabten und knabenhaft bescheidenen Sohn, der mit sehr jungen Jahren Lehrer an der Lichterfelder Kadettenanstalt war. Dutzende von Briefen hat Theodor Fontane mir geschrieben, mindestens einen über jeden Aufsatz von mir, den er zu lesen bekam. Er schrieb mit fliegender Feder alles nieder, was ihm dazu und daneben einfiel, und alles war klug, anregend, weithinaus und rundum weisend. Noch sonst über dichterische Tagesereignisse, von denen er wußte, daß sie mich berührten, in Deutschland, Frankreich, England, schrieb er mir auf frischer Tat, meist eingehende Briefe, selten Postkarten; diese reichten ihm nicht aus für die mancherlei Dinge, die er an jedes Ereignis zu knüpfen fand. Ich habe seine Briefe nicht veröffentlichen lassen, weil sie zu viel Liebenswürdigkeiten über mich selbst enthalten.

Fontane war ein außerordentlicher Gesellschaftsmensch – zu Zweien. Ich habe keinen Zweiten gekannt, der von so sprudelnder Fülle und Ursprünglichkeit in der geistvollen Plauderei – zu Zweien – gewesen wäre. Sprunghaft, ganz und gar Augenblicksmensch, zu den verwegensten Behauptungen geneigt, wie man es mit 20 ist, er der Sechziger. Zwischen uns war's wie eine stillschweigende Übereinkunft, daß ich seine tollsten Aussprüche über Menschen und Dinge – und über welche Menschen und welche Dinge! – nur so auffassen dürfe, wie sie gemeint waren: als Einfälle des Augenblicks, die eben nur für diesen Augenblick gelten sollten, auf die man nicht zurückkommen dürfe. Natürlich blieb ich nicht dahinten, machte aus meinem Herzen keine Mördergrube, sagte über Hochberühmtheiten des Tages – o die gab es auch zu unsern Zeiten, meine Herren Heroen von heut – die ungeschminkte Wahrheit, wie sie sich mir auf Zunge und Lippen drängte, und er fing jeden Ball freudig und gewandt auf. Ich sagte z. B. über die berühmte Fanny Lewald – na ich schreib's lieber nicht hin, auch nicht, was Fontane dazu gesagt hat; ›nicht alles ist gut wiederzusagen‹. In jedem seiner noch so kühnen Aussprüche steckte das bewußte Körnchen Wahrheit – für den Augenblick; mehr sollte nicht darin stecken. Himmel! wenn ich mir Fontanes Aussprüche über Homer, Dante, Shakespeare, Goethe, Schiller, Jean Paul, Heine, Bismarck, die Hohenzollern, namentlich Friedrich Wilhelm 4., gleich hinterher aufgeschrieben hätte und sie jetzt drucken ließe: ›Gespräche mit Fontane‹! Es ist gut, daß nicht alles aufgeschrieben, noch besser nicht alles gedruckt wird. Das aber will ich nicht verschweigen: Fontane war in den 90ern fest überzeugt, ›es wird einmal mit Deutschland und mit den Hohenzollern sehr schief gehen‹.

Widersprochen habe ich ihm kaum je, ich der ich sonst sehr zum Widerspruch neige, nicht aus Rechthaberei, sondern weil ich glaube: ohne Widerspruch keine Wahrheit, und ohne Widerspruch wird der Mensch dumm, was dadurch bewiesen wird, daß die Menschen, die durch ihre Stellung dem Widerspruch enthoben sind, meist dumm werden, selbst die kluggebornen. – Dies war eine Abschweifung, aber die Erinnerung an Fontanes Gesprächsweise hat Schuld. Auch er widersprach mir nicht, wenn ich, beflügelt durch seine Sprühlaune, ähnlich kühne Aussprüche über Vergangenes und Gegenwärtiges wagte. Wir ließen einander gelten, ich den weisen Alten, er den kecken Jungen, der übrigens auch von Tag zu Tag älter wurde, – weil wir wußten, alles sei nur viertelernst gemeint, verdiene aber einmal ausgesprochen zu werden. Reiner Unsinn ist zwischen uns nicht her und hin gegangen.

Rührend war des Alternden und des sehr alt gewordenen immerjunge Begeisterung für alles Neue, was irgend versprach oder zu versprechen schien. Dieser Zug seines Geisteswesens steht ja schon in den Literaturgeschichten. Ich bin einer der letzten lebenden Zeugen für diese Seite seiner Stellung zur Kunst der 80er und 90er, wodurch er Wirkungen geübt hat, die zum Teil verhängnisvoll geworden sind. Er witterte leicht eine ›Kunstwende‹: man könne doch nicht wissen, und man dürfe sich, grade als alter Knabe, nicht ablehnend verhalten gegen die Jungen. Mein Einwand: Aber wenn die Jungen – ich selbst war noch in den 30ern – wenn sie weiter nichts sind als jung, sonst nichts; wenn sie nichts leisten? – ›Sie leisten und sie werden noch ganz andres leisten.‹

Fontane litt an der Furcht, es könne ihm und mir und uns allen so ergehen, wie wenn ein neuer Goethe aufgestanden wäre und wir ihn verkennten. Dazu kam die nahe Berührung mit dem Germanisten Paul Schlenther, seinem Nachfolger bei der Vossischen, dem Manne der Schererschule, der den ›größten Dichter Deutschlands‹ entdecken half. Zum wesentlichen Teil daher, noch vor dem Aufgang des Hauptmann-Gestirns, die flammende Begeisterung Fontanes z. B. für die berühmte ›Familie Selicke‹ von Arno Holz und Johannes Schlaf (1889), das bestimmende Vorbild Hauptmanns nach dessen eignem Bekenntnis. Fontane hatte über jene damals hochberühmte, heute tiefversunkene Familie begeistert geschrieben, und er blieb im Gespräch mir gegenüber dabei. Ich erwiderte ihm: mir genüge nicht, daß ›jene Familie weder französisch noch russisch noch norwegisch, sondern ganz Deutsch oder doch berlinisch‹ sei; ich möchte auch Kunst sehen: einen wertvollen Stoff in wertvoller Form; meinethalben einen Stoff aus dem armseligsten Alltagsleben, aber wertvoll; meinethalben höchst natürliche Prosa, aber wertvoll. – Fontane verharrte im Bann und sah große neue Kunst. Ich spielte den Trumpf aus, der mich ein langes Leben hindurch nie im Stich gelassen, und sagte ihm: Große Kunst ist schwer, daher selten; wenn ich ein Kunstwerk von gleicher Art und gleichem Wert jetzt, hier, vom Fleck einem Stenografen in die Feder diktieren kann, sodaß Sie zugestehen müssen: ja dies ist ebenso viel wert wie die ›Familie‹, was sagen Sie dann? Er war betroffen, denn ich hatte in vollem Ernst gesprochen. Ich ging weiter: Da kein Stenograf zur Stelle ist, so werde ich mein Stück in die Luft hineinsprechen, und ich begann! Erster Akt, erster Auftritt: Zwei berlinische Pachulken und ein Weib flüstern auf Echtvogtländsch über eine Leiche, die irgendwo im Hause versteckt liegt, und fürchten jeden Augenblick das Gepolter der ›Blauen‹ zu hören. Es gelang mir, die Geschichte so spannend aus dem Stegreif abrollen zu lassen, einige Minuten lang, daß Fontane ganz entsetzt, baff, war. ›Von wem ist das?‹ – Na von mir, und Sie können das sicher noch besser als ich; aber damit sind wir noch keine Wendedramatiker. – Das Wort ›Epochant‹, dessen Unentbehrlichkeit auf der Hand liegt, war noch nicht ›kreiert‹ worden.

Ich weiß, ich habe ihn damals in seiner schönen Begeisterung für die Familie Selicke und ihresgleichen erschüttert. Aber dann kam Paul Schlenther, dann kam Gerhart Hauptmann, er wurde aufgeführt, wurde berühmt, und so bekam ich Unrecht. Ich war eben ein Unmoderner, einer von der Spielart Derer, die heute unmodern sind, weil sie schon heute die nach 20 bis 40 Jahren sich durchsetzende Mode vorauswittern, in diesem Fall die Mode von 1929, die da lautet: ›Hauptmann? Ach lassen Sie mich mit dem … in Ruh!‹

Ich sah, Fontane schwamm mit dem Strom, ich gegen den Strom, – ich habe nie wieder mit ihm über die ›janze Richtung‹ gesprochen. Ich machte mir klar, warum er bewunderte: Fontane war sein Lebenlang gezwungen gewesen, steifes, ödes, amtliches Zeug gelten zu lassen, feierliche Mittelmäßigkeit und prunkvollen Stumpfsinn achtungsvoll zu besprechen, er der von sich bekannt hat: ›Was mir fehlte? Der Sinn für Feierlichkeit.‹ In der Familie Selicke und bei Hauptmann fand er das Gegenteil aller Feierlichkeit, fand er das, was er für ›natürlich‹ hielt, und sogleich stand bei ihm fest: Hier ist eine neue Kunst. Er untersuchte nicht, ob eine Spur des Bleibenden darin sei; es war neu, es war sehr natürlich, – er war begeistert.

Wer Fontane aus sehr vertrautem Umgang gekannt, hat den Franzosen in ihm gespürt. Die Macht der Rasse, des Blutes ist mir bei keinem andern Deutschen Dichter meines Kennens so überzeugend vor die Augen getreten wie bei Fontane. Franzose, sogar Südfranzose, etwas von Tartarin, von Rournestan, – die auflodernde Begeisterung des Augenblicks; aber nur im Künstlerischen. In allen sittlichen Fragen war Fontane ein Deutscher, und was für einer! Alles Moralische verstand sich bei dem von selbst. Nur war jedes sittliche Urteil Fontanes erfüllt von dem Gefühl: Ach wer alles wüßte, alles begriffe, der würde alles, oder doch das meiste, verzeihen.

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