Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In großen Zwischenräumen wird die arme Menschheit – wie von Körperseuchen so von Seelenrasereien überfallen. Die grauenvollste und längstdauernde war der Hexenwahn, die zuletzt erlebte die Lügenpest im Weltkriege gegen Deutschland; das in den 70er Jahren geborene Geschlecht erinnert sich des Wahnsinns um die Buren. Die nach der Jahrhundertwende Aufgewachsenen haben nur eine dumpfe Sagenkunde von jener Geisteskrankheit, für die wir im Weltkriege zu büßen gehabt.
Das Verhalten des Deutschen Volkes während des Krieges Englands gegen den Burenstaat Transvaal ist für Deutschlands Schicksal so verhängnisvoll geworden, daß die kurze Darstellung von einem Zeitgenossen, der sich damals sehr genau unterrichtet hatte, in einem Buche wie diesem, das keine Anekdötchensammlung sein will, unerläßlich ist. Etwas weiß jeder Gebildete von jenem ›Burenrummel‹, wie er heute heißt; Genaues nur der Geschichtskundige. Ja man darf sagen, es herrscht eine Art stillschweigender Verabredung unter den Stimmführern der ›öffentlichen Meinung‹, so wenig wie möglich von jener Volkskrankheit zu sprechen: sie wurde erzeugt von der Deutschen Presse, noch leben manche Hauptverbreiter des Krankheitstoffes, und heute schämt man sich, einst rettungslos in solchen Wahnsinn verfallen zu sein.
Die geschichtlichen Tatsachen liegen heute klar am Tage. Für jeden gesunden Menschen vor 30 Jahren lagen sie schon damals ganz klar; wer aber damals sie auszusprechen wagte, wurde für einen dummen Kerl, einen gemeinen Menschen, einen schlechten Deutschen erklärt und als solcher dreifach verworfen. Die Buren waren die Abkommen von Holländern, die vor Jahrhunderten nach Südafrika ausgewandert waren. Das vom Burenwahn befallene Deutsche Volk, Hoch und Nieder, Fürsten und Tagelöhner, Kluge und Dumme, Professoren und spießerliche Kannegießer, alle sahen in ihnen Deutsche Bauern, etwa Friesen, Ditmarsen, Cherusker, Römerüberwinderbrut. An diesem kindischen Unfug trugen die Alldeutschen die Hauptschuld; er war ihre größte Dummheit und – er wurde nachmals als solche erkannt. Natürlich trug das Wort ›Buren‹ dazu bei, die Begriffsverwirrung zu erzeugen und am Leben zu erhalten, plattdeutsche Bauern saßen dort unten in Südafrika, bieder, fromm und stark; saßen dort in holder Deutscher Bauernunschuld, weideten ihre Herden und sprachen plattdeutsch wie Fritz Reuter oder wie Klaus Groth. In Wahrheit waren die Buren, wenigstens die der regierenden Klasse, Goldfeldschacherer, und alle sprachen ein greulich verludertes Holländisch gemischt mit Kaffrisch und Hottentottisch. ›Ich bin‹ hieß auf Burisch: ik is, und dies war noch lange nicht das Schlimmste.
Die Mehrzahl der Bewohner Transvaals bestand aus den Uitlanders (Ausländern: Engländern, Deutschen, Holländern, Franzosen, Belgiern, Schweizern usw.), die nach der Entdeckung der Goldfelder eingewandert waren. Das Burenvolk war zur Minderzahl geworden, wollte jedoch der Mehrzahl, also den Uitlanders, die sämtliche Steuern tragen mußten, kein Bürgerrecht, vor allem kein Wahlrecht gewähren. Nach langem Hin und Her begannen die Buren den Krieg gegen England, das natürlich für seine entrechteten Bürger einstand. Von dieser wahren Ursache des Krieges wußte man in Deutschland nichts, die Presse sagte ihren Lesern nichts. Mommsen schob die Schuld auf die räuberischen Engländer, die die Diamantenfelder von Kimberley erobern wollten, – obschon sie sie längst besaßen –; kurz die ›Kulturmission der Presse‹ feierte ihre Glanztage.
Als der Krieg ausbrach, war ganz Deutschland burisch; die paar Ausnahmen zählten nicht. Mit Ausnahme der Kölnischen Zeitung tobte die gesamte Deutsche Presse, Groß- und Kleinpresse, gegen England, noch weit mehr gegen England als für die Buren. Von je 100+000 Deutschen Menschen und Zeitungslesern war allenfalls Einer – wenn nicht für England, so doch gegen den Deutschen Wahnsinn; ich war ›auch Einer‹, aber ich galt meinen besten Freunden damals für geistig, nun gar für politisch, unzurechnungsfähig. Noch leben mir Verwandte und einige Freunde, zu denen ich wohl täglich sagte: Lasset doch die Engländer und die Buren einander die Hälse brechen, keiner von beiden ist Deutschlands Freund, – aber benehmt euch anständig, wie es Neutralen ziemt, und denkt an Bismarcks gewichtiges Wort über die zu bezahlenden, von der Presse zerbrochenen Fensterscheiben; hütet euch, die englischen zu zerbrechen, die Rechnung wird euch nicht erspart bleiben.
Das Deutsche Volk ist dazumal nicht bloß aus eigner Verblendung in seinen Burenwahn verfallen. Es liebte England nicht, das war sein Recht; England liebte uns auch nicht, schon lange nicht; eigentlich hatte es uns seit 1870, ja schon seit 1864 nicht geliebt. Vor Düppel hatte es uns, d. h. das machtlose Deutschland, mit seinem Bundestag in der Eschenheimer Gasse zu Frankfurt, ein wenig verachtet; nach Düppel, dann erst recht nach Königgrätz, vollends nach Sedan und Versailles hatte es sich im Dunkel des Volksbewußtseins von Deutschland bedroht gefühlt, nicht gefährlich, aber beachtlich. Seit der ›Krüger-Depesche‹, d. h. der Dratung Wilhelms 2. an den Burenpräsidenten Krüger, loderte der Haß des ganzen englischen Volkes auf, und die Haltung des Deutschen Volkes während des Krieges gegen die Buren bestätigte den Engländern, wie gerechtfertigt ihr Zorn und ihr Haß nach der ›Krüger-Depesche‹ gewesen waren.
Die ›Krüger-Depesche‹ ist in Deutschland zum geflügelten Wort geworden, jeder hat davon gehört, manchmal steht das Wort noch in den Zeitungen, – wie viele der heute lebenden Deutschen wissen genau, was es damit auf sich gehabt? Ich glaube, den Nützlichkeitswert dieses Buches zu erhöhen, indem ich in der denkbar äußersten Kürze den urkundlichen Tatbestand mitteile. Einer der politischen Führer der von den Buren entrechteten Uitlanders, ein angesehener englischer Rechtsanwalt Dr. Jameson, hatte mit einigen hundert Anhängern die Burenregierung zu stürzen geplant. Der Plan wurde verraten, Jameson mit seiner Schar gefangen genommen; an England war es, Stellung zu Jamesons Wagnis zu nehmen. Noch ehe die englische Regierung ihren Beschluß, Jamesons Tat zu mißbilligen, der Welt hatte kundtun können, schritt Wilhelm 2. ein. Jameson hatte sich am 2. Januar ergeben; am unglückseligen 3. Januar 1896 sandte der Kaiser an Krüger folgende Dratung:
[Abgegangen 11.20 Vormittag.]
Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, daß es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren.
Dies ist die sehr berühmte, aber nur noch von Wenigen gekannte ›Krüger-Depesche‹, wie sie in schauderhaftem Deutsch heißt, die unheilvolle Wilhelm-Depesche, die Pfahlwurzel, woraus der Riesengiftbaum des Weltkrieges gewachsen ist. Kein Staatsoberhaupt einer der vielen andern mit Transvaal befreundeten Mächte, nicht einmal Hollands, hatte sich gedrängt gesehen, den Präsidenten Krüger zu beglückwünschen zu seinem Siege über Engländer; einzig Wilhelm 2. tat dies. Daß dadurch England schwer gekränkt, zur Abwehr herausgefordert wurde, lag auf der Hand. Es kann heute kein Zweifel bestehen: ohne das entschiedene Nein der Königin Viktoria wäre nach jener Depesche der Weltkrieg schon 1896 ausgebrochen, aus einem Anlaß, bei dem Deutschland im schreiendsten Unrecht war. Das Deutsche Heer hätte sich schlagen und verbluten müssen für eine Depesche seines Kaisers und für die Buren. Die Königin wollte keinen Krieg gegen Deutschland, dessen Kaiser ihr Enkel, der Sohn ihrer Tochter war.
Der Streit um die Verantwortung für jene Depesche ist müßig, fast lächerlich. Ob Marschall, wie er selbst sich berühmt haben soll, den ersten Anstoß dazu gegeben, was ganz unwahrscheinlich ist; ob der Kaiser, wie verlautet, bei der Beratung mit Marschall und dem Koloniendirektor Dr. Kayser Bedenken geäußert hat, – all das kommt gar nicht in Betracht. Der Kaiser hat darüber eine ›Randbemerkung‹ niedergeschrieben: ›Hollmann (Admiral) ist Zeuge von meinem Widerwillen und von meiner Majorisierung durch Hohenlohe und Marschall.‹
Unfaßbar erscheint uns heute – den Meisten schien es schon damals – das Wort von der jefalls zu leistenden Hilfe Deutschlands. Daß die Entsendung von Deutschen Kriegsschiffen mit Hilfstruppen sogleich von England mit der Kriegserklärung beantwortet worden wäre, daß kein Deutsches Kriegsschiff, kein Deutscher Soldat nach Transvaal gelangt wäre, haben Marschall und Hohenlohe das nicht gewußt? Hohenlohe hat sofort gesagt: ›Das ist der Krieg mit England‹; hierauf hat Wilhelm 2. geantwortet: ›Ja, aber nur zu Lande!‹
*
Schwerlich hätte Krüger im Jahre 1899 den Krieg mit England begonnen, wäre er nicht durch des Deutschen Kaisers Depesche von 1896 in den, sehr berechtigten, Glauben versetzt worden, Deutschland werde ihm in einem Notfall zu Hilfe kommen. Dieses Versprechen stand ja deutlich in jener Depesche zu lesen. Und schwerlich wäre ohne die Erinnerung an des Kaisers Depesche das Deutsche Volk in seine Raserei gegen das verhaßte England und für die heißgeliebten Buren verfallen. Ja, eine Raserei hatte das ganze Deutsche Volk ergriffen, als der Krieg in Transvaal im Gange war. Als ob dort für die heiligsten Güter Deutschlands gekämpft würde, so verfolgten die Deutschen den Krieg. Wer sich des Taumels erinnert, der bei der Nachricht einer englischen Niederlage in allen Straßen, auf allen Plätzen Berlins laut wurde, sobald die ›Extrablätter der Freude‹ ausgeschrien und unentgeltlich verteilt wurden, und wer dann an den Eindruck der Deutschen Siege im Weltkriege vergleichend zurückdenkt, der muß voll brennender Scham bekennen: der Sieg der Buren an diesem oder jenem ›Kopje‹, diesem oder jenem ›Fontein‹ oder ›Laagte‹ wurde von 1899 bis 1902 ebenso begeistert in Berlin gefeiert wie später Tannenberg oder Skagerrak.
Noch sehe ich den Abgeordneten Herbert Bismarck in die Abendsitzung eines Reichstagsausschusses stürzen mit dem jauchzenden Ruf: Metz – nein, ›Ladysmith (ein fester Punkt der Engländer) ist gefallen!‹, und sehe alle Ausschußmitglieder, aller Parteien, freudestrahlend die Sitzung unterbrechen. Am nächsten Morgen wurde die Nachricht widerrufen, aber die Abgeordneten hatten doch ihren Freudetaumel genossen. Der ehemalige Staatssekretär des Äußern Herbert Bismarck hielt es eben auch für höchste Staatsweisheit, uns die dritte Großmacht zum Todfeinde zu machen – zu den zweien im Osten und Westen.
Die führenden Deutschen Geltungen sprechen von ihrer eignen Rolle in jener Zeit des politischen Wahnsinns eines ganzen Volkes nie mehr, huschen in ihren tiefgründigen geschichtlichen Rückblicken auf jene Zeit über die Haltung des Deutschen Volkes scheu hinweg, – keine will Teil daran gehabt haben. Die Presse sagt in solchen Fällen: sie habe nur der Volksstimmung Ausdruck gegeben, geben müssen. Das ist unwahr. Ohne die Deutsche Presse wäre das Deutsche Volk nicht in jene Raserei verfallen. Ein Wink von oben, eine ernste Ermahnung des Reichskanzlers an die Presse, eine von seinem Platz im Reichstag her weithin schallende an das Deutsche Volk – sie hätten Wunder gewirkt. Die Regierung ließ gehen, obwohl sie wußte, wie aufreizend der Deutsche Burentaumel auf England wirkte. Sie ließ gehen, obwohl seit Jahren das Bündnis Rußlands und Frankreichs fest geschlossen war, obwohl die Wage der Deutschen Geschicke von Englands leitendem Minister gehalten wurde. England hatte ja die Hände voll, es verlor Gefechte, unterlag in Schlachten, weil auf 10+000 Kilometer Entfernung hin das Entsenden eines genügend großen Heeres schwierig war. Daß man im Deutschen Volk glaubte, England beschimpfen zu dürfen, war zwar dumm, aber zur Not noch erklärlich; daß die Presse in diesem durchaus unneutralen Feldzug der Beschimpfungen voranging, war unverzeihlich; daß die Deutsche Regierung – Bülow war 1900 Kanzler geworden – jenen Zustand völkischer Raserei gegen ein Land, mit dem wir im Frieden lebten, drei Jahre duldete, war ein Staatsverbrechen, das Strafe verdiente. Die Strafe ist nicht ausgeblieben, – sie hat weit mehr Unschuldige als Schuldige getroffen.
Wir haben im Weltkriege Seelenqualen gelitten, wenn wir lasen, wie man Deutschland verleumdete, selbst im neutralen Ausland. So, genau so hatte die Deutsche Presse während des Burenkrieges jede Verleumdung gegen England an ihre große Glocke gehängt. Namentlich eine Berliner Zeitung, das Leibblatt des Kaisers und der Kaiserin, leistete darin Erstaunliches. Man hatte den Engländern vorgeworfen, sie schämten sich nicht, schwarze Truppen gegen die Buren zu verwenden. Die Engländer hatten dies als Lüge bezeichnet, und es war eine Lüge. Da stand eines Tages in dem kaiserlichen Leibblatt in schreiendem Großfettdruck zu lesen: ›Englische Verlogenheit aufgedeckt! In der letzten englischen Verlustliste steht untern anderm: 3 soldiers of the regiment Black-Watch (3 Soldaten vom Regiment Schwarze Wache). Wird das heuchlerische England fernerhin die Stirn haben, die Verwendung von Schwarzen gegen Weiße frech abzuleugnen?‹ Dies lasen die Vertreter der englischen Presse in Berlin, dies brachten die englischen Zeitungen am nächsten Tage, meist nur mit einem verachtungsvollen Zusatz wie dem der Times: ›Die wegen ihrer Meisterschaft in der Philologie weltberühmten Deutschen sollten zu all ihrem verblüffenden Wissen noch die Kleinigkeit hinzuzulernen geruhen, daß das Regiment Black-Watch aus Schotten besteht, die ebenso weiß sind wie die Engländer, ja sogar wie die Deutschen.‹ – Selbstverständlich widerrief das kaiserliche Leibblatt seine Meldung niemals; die halbe oder ganze Million seiner Leser wurde in dem Glauben gelassen, die Engländer hätten ein Regiment Schwarzer und leugneten dies frech-heuchlerisch ab. Auch hierfür mußten wir bezahlen: die verruchte Verleumdung von den abgehackten Kinderhänden in Belgien war von ähnlicher Machart.
Die Deutsche Regierung unter dem Reichskanzler von Bülow ließ das alles ungestört geschehen. Amtlich war ja alles in Ordnung, die englische Regierung beschwerte sich nicht, aber sie dachte sich ihr reichgemessenes Teil; nun gar das englische Volk! Dies den Deutschen heimzuzahlen! – nie wieder ist dieses Gefühl in England erloschen. Daß der Tag kommen werde, daß er immer näher rücke, daß nur noch einige Kleinigkeiten zuvor erledigt sein müßten, z. B. die Absprengung Italiens vom Dreibund, – wer in den Jahren zwischen 1902 und 1914 in England geweilt und mit englischen Freunden vertraut gesprochen, der erfuhr, wie man drüben dachte. Kein einsichtsvoller Deutscher hat in jenen Jahren an die Möglichkeit geglaubt, daß England in einem Kriege Rußlands und Frankreichs gegen Deutschland neutral bleiben würde. Aber zwei Deutsche Kanzler, Bülow und Bethmann, haben fest daran geglaubt, und einer von ihnen ist vor Verblüffung zusammengebrochen, als England sich im August 1914 an die Seite unsrer zwei Todfeinde stellte. Wir hatten seit 18 Jahren alles getan, es zum Dritten in deren Bunde zu machen.
*
Man mag heute sagen: Dies alles ist Treppenweisheit. Die ist es nicht! Es gab vor 30 Jahren in Deutschland Männer genug, die genau so dachten; es gehörte dazu gar keine Weisheit, sondern nur der einfachste Menschenverstand. Aber solche Männer standen außerhalb des Kraftbetriebes der öffentlichen Meinung und des öffentlichen Handelns, sie waren ohne alle Macht. Ich habe solche Männer gekannt, mit ihnen gesprochen, – sie sahen das Brauen des Unheils; sie wußten, solche ans Verbrechen grenzende Dummheit könne nicht ungestraft bleiben, aber sie waren machtlos. In einem Falle geschah etwas: die vorn Deutschen Großgewerbe unterstützte, ja erhaltene Berliner Nationalzeitung hatte Jahr und Tag in dasselbe Horn des sehr lauten, aber im Grunde ungefühlten Hasses geblasen. Da bekam sie von ihren Geldgebern den Wink: Dieses wüste Geschimpfe gegen England stört unser Geschäft, kann es in Zukunft noch mehr stören, – und sogleich konnte die Nationalzeitung auch anders. Alle große Zeitungen hätten Kehrt gemacht, wenn sie von den Machthabern zu jener Zeit vernünftig belehrt worden wären, daß sie die Politik der Gegenwart erschwerten und die der Zukunft gefährdeten. Diese Belehrung blieb aus.
War aber der Sturm der Begeisterung für die Buren, des Hasses gegen England nicht so unwiderstehlich, daß keine Mahnung von oben gefruchtet hätte, ja daß der Mahner selbst hinweggefegt worden wäre? Durchaus nicht! Die Begeisterung war so hohl, so grundlos, der Haß so erkünstelt, daß eine Regierung mit festem Sinn und sittlichem Ansehen gar wohl erfolgreich gegen den Wahn hätte einschreiten können. Ich zeigte meinen gleichdenkenden Freunden die zwei ausgezeichneten Reden Bismarcks vom 18. 2. und 26. 2. 1863 im preußischen Abgeordnetenhause gegen einen ganz ähnlichen Wahn, und ich erspare den Lesern das beschwerliche Aufsuchen, indem ich die zwei wichtigsten Stellen abschreibe:
›… Ob ein unabhängiges Polen, welches sich an der Stelle von Rußland in Warschau etablieren möchte, preußische Politik treiben würde, ob es ein leidenschaftlicher Bundesgenosse Preußens gegen auswärtige Mächte sein würde, ob es sich bemühen würde, Posen und Danzig in preußischen Händen zu bewahren, das überlasse ich Ihrer eignen Erwägung zu ermessen …‹
›Befremdlich war es, daß die Interpellation der polnischen Fraktion von Deutschen Abgeordneten mitunterzeichnet war. Die Neigung, sich für fremde Nationalbestrebungen zu begeistern, auch dann, wenn sie nur auf Kosten des eignen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung sich auf Deutschland leider beschränkt.‹
Die russischen Polen waren aufgestanden; es drohte die Gefahr, daß die geschlagenen Aufständischen sich auf preußisches Gebiet flüchten würden. Was wäre geschehen, hätte man sie dann nicht sofort entwaffnen können? Was hätte Rußland getan, wie hätte sich der Zar Alexander 2. zu Preußen gestellt, jetzt und in der Zukunft? Hoch gingen in Deutschland, besonders in Preußen, die Spritzwellen der Begeisterung für die lieben Polen, flammend war der Haß gegen das zarische Rußland. Im Abgeordnetenhause hatten – zehn Jahre später erschien das unbegreiflich – die Liberalen die Mehrheit. Bismarck war der allverhaßte Staatsmann, und er hatte noch nicht einmal Düppel herbeigeführt. Was tat Bismarck? Ohne die geringste Rücksicht auf die irregeleitete öffentliche Meinung tat er, was seine staatsmännische Pflicht war: er stellte kriegsmäßige Truppen an der östlichen Grenze auf und redete zu der tobenden Mehrheit im Abgeordnetenhause, wie ein Staatsmann in solchem Fall reden muß.
Der Zar Alexander 2. hat sich 1864,1866,1870 dankbar erwiesen: er hat dem Siegeslaufe Preußens und Deutschlands kein Hindernis in den Weg geworfen.
Freilich, König Wilhelm I. war ein fester Mann und handelte wie ein Mann. Bismarck war ein Staatsmann, der das von ihm für richtig Erkannte gegen jeden künstlich erregten Sturm durchsetzte. Er fühlte in sich die siegreiche Kraft des Mannesmutes zu der dem Vaterland nützlichen Handlungsweise. All seine Klugheit hätte ihn nicht an sein Ziel geführt, wäre er nicht der Ritter gewesen, der Tod und Teufel nicht fürchtete. So klug, um zu wissen, daß das Nichtstun der Deutschen Regierung gegenüber dem Burenwahn des Deutschen Volkes sehr gefährliche Folgen für Deutschlands Sicherheit haben könne, war der Reichskanzler Bülow zweifellos, denn so klug waren sein Pförtner und sein Kutscher. Es hat ihm nur an einer Kleinigkeit gefehlt; man spricht nicht gern von ihr, wenn man von einem Manne spricht. Er war mit 50 Jahren Reichskanzler geworden und wollte es bleiben. Er hätte eine noch schönere Rede gegen den Burenwahn gehalten als Bismarck einst gegen den Polenwahn, denn Bülow war von Beiden der bessere Redner, der Schönredner. Warum wohl hat er die Rede nicht gehalten, obwohl er gewußt hat, daß sie Deutschland zum Heil gereichen würde? Warum? Wir sind nicht die Narren, die vergebens auf Antwort warten, denn wir beantworten uns die Frage selbst und zutreffend.
Will man etwa sagen: der Strom der Deutschen Burenbegeisterung war damals so allmächtig, daß kein Kanzler dagegen ankämpfen durfte? Hören wir, was Bismarck über solche Staatsmänner gesagt hat: ›Ich halte den Minister für einen elenden Feigling, der nicht unter Umständen seinen Kopf und seine Ehre daran setzt, sein Vaterland auch gegen den Willen von Majoritäten zu retten‹ (Rede vom 28.1.1886 im preußischen Abgeordnetenhause). Um den Willen von Majoritäten handelte es sich bei dem Deutschen Burenwahn nicht einmal, sondern um eine durch Zeitungsgekreisch erzeugte und bis zur Tobsucht gesteigerte Kannegießerverrücktheit.
Noch eins darf nicht vergessen werden. In ganz Deutschland wurde drei Jahre hindurch für die Buren Geld gesammelt, in einem neutralen Lande für einen von zwei Kriegführenden, und die Regierung unter Herrn von Bülow ließ das zu. Eine Deutsche Schriftstellerin, die wie fast alle ihresgleichen für die geliebten Buren glühte, wollte auch bei mir ein wenig sammeln und zürnte mir, als ich mich weigerte und ihr sagte: Ich bin neutral. Sie sandte den nicht ganz kleinen Betrag ihrer Sammlung an den Burenführer Botha. Im Weltkriege stellte sich Botha an die Spitze der Buren und kämpfte mit England gegen Deutschland. Jene sammelnde Schriftstellerin setzte sich hin und verfertigte in sittlichem Zorn einen ›flammenden Protest‹ gegen den undankbaren Buren Botha. Als ich das las, habe ich, trotz dem furchtbaren Ernst jener Zeit, laut aufgelacht, laut, aber bitter.
*