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Zum Verständnis der Weisheit, die vor dem Ausbruch des Weltkriegs im Deutschen Auswärtigen Amt geherrscht hat, setze ich hier einige Erlebnisse her, die bisher unbekannt waren und ohne diese Aufzeichnung mit mir begraben werden würden.
Ich erfuhr im September 1914 urkundlich, daß im Juni 1914 eines Tages belgische Offiziere zu dem Leiter der Deutschen Schule in Antwerpen gekommen waren, um sämtliche Räume auf ihre Fassungsfläche zur Unterbringung von Offizieren und Mannschaften, natürlich des belgischen Heeres, zu vermessen. Auf die Frage des mit Recht erstaunten Leiters der Schule, was das zu bedeuten habe, wurde ihm erwidert: Das ist etwas ganz Harmloses, es handelt sich um die großen Manöver, und da wolle das belgische Kriegsministerium wissen, welche Räume im Notfall zum Unterbringen von belgischen Heeresangehörigen verfügbar seien. Alles ganz harmlos, nur eine Formsache, mehr Statistik.
Als ich dies erfuhr, wandte ich mich an den mir wohlbekannten Leiter der ehemaligen Antwerpner Deutschen Schule, der sich inzwischen nach Deutschland geflüchtet hatte, frug ihn, ob sich das so verhielte, und ob er jenes Vorkommnis nicht sofort dem Deutschen Auswärtigen Amt mitgeteilt hätte? Umgehend bekam ich die Antwort: Es verhält sich so, und selbstverständlich habe ich es sofort dem Auswärtigen Amt mitgeteilt.
Hieraus ergibt sich: das Deutsche Auswärtige Amt hat vor dem Ausbruch des Krieges gewußt, daß in Belgien etwas sehr Bedenkliches vorgehe; es hat aber in unfaßbarer Blindheit jener Mitteilung eines glaubwürdigen Deutschen Mannes keinen Wert beigelegt, und keiner im Auswärtigen Amt hat sich in den ersten Tagen des August 1914 erinnert, daß Belgien viele Wochen vor dem Ausbruch des Krieges Maßregeln getroffen, die sich nur gegen Deutschland richten konnten. Bethmann hat wahrscheinlich nichts von jener Kriegsvorbereitung erfahren. Doch selbst wenn, – solche Kleinigkeit hätte ihn schwerlich gehindert, am 4. August 1914 sein wahnsinniges Wort vom Unrecht Deutschlands gegen Belgien auszusprechen.
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Im August 1914 unterhielt ich mich mit einem hohen Mitgliede unsers Auswärtigen Amts, der Bethmanns Auffassungen genau kannte und treu wiedergab, über die Neutralitätserklärung Italiens, die unzweideutig zeigte, daß die italienische Regierung nur auf den Augenblick wartete, wo Italien uns mit Erfolg in den Rücken fallen könnte. Der hohe Beamte des Auswärtigen Amts war über Italiens Verhalten amtlich und sittlich entrüstet. Ich sagte: die Feinde werden Italien mehr versprochen haben als wir. – Versprochen? Wir haben doch den Vertrag mit Italien. – Ich erwiderte ihm, daß ein Vertrag ein Stück Papier sei; daß schon Bismarck einst gesagt habe, kein Land dürfe um eines Vertrages willen gegen seine Lebensvorteile handeln. Man müsse zu den Verträgen greifbare Dinge fügen; – was wohl die Deutsche Regierung in den entscheidenden letzten Julitagen 1914 den Italienern versprochen habe?
Entgeistert sah mich der hochmögende Herr an: Was brauchten wir ihnen zu versprechen? Wir haben doch den Vertrag. Italien ist doch unser Verbündeter.
Ich sagte ihm: Ich bin kein Diplomat, ich weiß nur ein wenig Geschichte und ich kenne die Italiener –: einem so treuen Verbündeten wie Italien muß man etwas versprechen; dem muß man viel mehr versprechen, als die Feinde ihm je haben versprechen können.
Aber was sollten wir ihm denn versprechen?
Alles! Alles, was Italien sich nur irgend wünschen kann; alles, was unsre Feinde schwächen würde. Alles, was den Ehrgeiz, die Großmachtsucht, die Raubgelüste Italiens aufstacheln könnte.
Was zum Beispiel?
Ich war verblüfft über solchen Mangel an billiger Phantasie; dann sagte ich: Korsika, Nizza, Savoyen, Tunis, Algier, Madagaskar, die Hälfte aller französischer Kolonien.
Der hohe Herr hielt mich für einen blutigen Laien, der obendrein verrückt geworden war, und sagte kühl abweisend: Man kann doch nicht versprechen, was man garnicht hat.
Ich darauf: Man kann nichts so leicht und mit so gutem Gewissen versprechen, wie das, was man nicht hat, was man aber zu kriegen hofft. Und solch Versprechen gilt doch nur für den Fall des gemeinschaftlichen Sieges. Glauben Sie etwa, daß die Feinde Italien nichts versprochen haben, und von dem Versprochenen haben sie auch noch nichts, hoffen es aber zu kriegen. Wir konnten Italien das Zehnfache dessen versprechen, was ihm die Feinde versprochen haben.
Wir trennten uns; er ging davon mit dem Bewußtsein seiner turmhohen fachlichen Überlegenheit, ich mit der Überzeugung, daß wir bald schmerzlich bereuen würden, Italien nichts versprochen zu haben. – Wir als tugendhafte Leute hatten Italien nichts versprochen, was wir nicht hatten; die Feinde versprachen ihm im Laufe der nächsten Monate allerlei, was sie auch nicht hatten. Es war wenig – heute weiß Mussolini, wie wenig –; aber damals genügte es, Italien auf die Seite Derer zu ziehen, die überhaupt etwas versprachen.
Mann mit zugeknöpften Taschen,
Dir tut niemand was zulieb':
Hand wird nur von Hand gewaschen,
Wenn du nehmen willst, so gib!
Sagt Goethe. – Wir waren und blieben selbst in der äußersten Sorge um Italiens Treue der Mann mit zugeknöpften Taschen; die Feinde hatten ihre Taschen voll Versprechungen auf unsre Kosten, sie gaben sie Italien sogar schriftlich, und so wurde es ihr treuer Verbündeter, nachdem es lange genug, 33 Jahre, der unsrige gewesen war.
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Ich weiß noch ein drittes Stück, von dem ich nie habe sprechen hören. Im Vorfrühling des Jahres 1918 war ich amtlich in Bukarest zur Zeit des ersten Friedensvertrages mit Rumänien. Während jenes Aufenthalts habe ich in freundlichem, ich darf sagen freundschaftlichem Verkehr gestanden mit einem der angesehensten rumänischen Gelehrten, der in Berlin studiert hatte, ein Freund Deutschlands war, geläufig Deutsch sprach. Er hatte als Knabe mit den Söhnen der mir nahe befreundeten Dichterin Mite Kremnitz gespielt, die von 1876 bis 1899 in Bukarest gelebt hatte.
Eines Abends, nach dem in seinem Hause eingenommenen Ostermahl, kamen wir auf die obenauf liegende Frage: Warum hat sich Rumänien auf die Seite unsrer Feinde geschlagen, statt auf die Deutschlands, mit dem es doch einen Bündnisvertrag hatte?
Er zuckte die Schultern und sagte gelassen: Unsre Regierung hat vom rein geschäftlichen Standpunkt gehandelt.
Er konnte das wissen: er war aufs genaueste mit allen führenden Männern Rumäniens, auch mit Bratianu, bekannt, hatte nach der Niederwerfung Rumäniens eine Zeitlang selbst zu den leitenden Behörden des besiegten Staates gehört, weil die Deutsche Regierung mit gutem Grunde Vertrauen in seine ehrenhafte Gesinnung setzte. Sein Urteil war nicht die Vermutung eines Laien, es floß aus der vollkommnen Kenntnis aller Triebfedern und aller Entschlüsse.
Ich richtete an ihn die Frage, zu der mich unser freundschaftlich gewordenes Verhältnis berechtigte: Können, dürfen, wollen Sie mir sagen: Hat Deutschland beim Ausbruch des Krieges Rumänien etwas versprochen oder etwas gedroht?
Er begriff sofort den Sinn meiner Frage und antwortete ohne Besinnen, überlegen lächelnd: Ni l'un, ni l'autre und Übersetzte sogleich selbst: Keins von beiden.
Das tugendhafte Deutsche Auswärtige Amt hatte also, ebenso wie gegenüber Italien, gedacht: Wir haben ja einen papiernen Bündnisvertrag mit Rumänien, also muß es mit uns in den Krieg ziehen. Daß man einer Regierung wie der rumänischen in der Bündnistreue ein bißchen nachhelfen müsse, war unserm Auswärtigen Amt nicht in den Sinn gekommen. ›Rumänien muß ja!‹ Hätten wir Rumänien einen Siegespreis genannt: Bessarabien und darüber hinaus so viel von Rußland, wie es glaube verschlucken und verdauen zu können, so wäre Rumänien mit uns statt gegen uns in den Krieg gezogen. – Aber man kann doch nicht versprechen, was man nicht hat? – Unsre Feinde haben Rumänien sehr viel versprochen, lauter Dinge die sie nicht hatten.
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Während ich dies niederschreibe, sind die Lebenserinnerungen des ehemaligen italienischen Ministers Salandra erschienen, worin meine Annahme bestätigt wird, daß die italienische Regierung sich unsern Feinden darum angeschlossen hat, weil diese ihr etwas boten, was sie keineswegs besaßen. Am 30. 9. 1914 hatte Salandra den italienischen Botschafter in London angewiesen, mit dem Dreiverband (der Entente) Verhandlungen zu beginnen über ›Kompensationen‹, d. h. über den Siegespreis. ›Diese sollten sich auf unsre ›nationalen Aspirationen‹ auf das Trentino und auf Istrien erstrecken.‹ Die Erfüllung dieser ›nationalen Aspirationen‹ konnten unsre Feinde an Italien mit Vergnügen als Siegespreis versprechen, denn sie besaßen weder das Trentino noch Istrien, und sie versprachen es an Italien, eben weil sie es nicht besaßen. Von den nationalen Aspirationen Italiens auf Nizza und Savoyen und Korsika versprachen sie nichts, weil Frankreich diese ›aspirierten‹ Gebiete besaß und nicht im Traum dran dachte, sie herauszugeben. So zogen denn die Italiener vor, die Brust geschwellt vom sehr berechtigten Sacro egoismo, auf der Seite zu kämpfen, von wo einige Versprechungen ergangen waren, wenn es sich auch nur um Brosamen handelte, die der Macht Italiens nichts hinzufügten, und sich gegen die Seite zu wenden, von der aus ihnen garnichts versprochen worden war. Italien war zu haben, es war käuflich, aber es wartete auf das höchste Preisangebot. Dies soll keine Sittenbetrachtung sein, zumal da es für Staaten eine andre Sittlichkeit gibt als für Schriftsteller und Schriftsetzer. Das höhere Preisangebot haben unsre Feinde gemacht, – wir hatten gar keins gemacht. Die Italiener haben über 8 Monate auf unser Angebot gewartet, erstaunlich lange, und sich erst dann entschlossen, das Blut ihrer Söhne für etwas Greifbares aufs Spiel zu setzen.
Die Italiener schämen sich heute noch, offen auszusprechen, was ihre Staatsmänner empfanden und empfinden: Die Entente hat uns für unsern Abfall vom Dreibunde etwas geboten; Deutschland und Österreich haben uns nichts andres geboten als das erhebende Bewußtsein, einen Vertrag mit tugendhafter Treue erfüllt zu haben.
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