Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Tollste

(Vom sogenannten Unterricht im Deutschen)

Manchmal, bei der Überschau auf die Gegenwart, wie sie einem das Alter aufzwingt, und bei dem Fernblick in die Zukunft, den gleichfalls das Alter schärft, – manchmal frage ich mich: Welche Erscheinung unsers geistigen Lebens wird wohl ein späteres Geschlecht, etwa das nach 50 Jahren, für die unbegreiflichste, die tollste halten? Rückblickend sehen wir mehr als eine Verrücktheit, als deren scheußlichste für allezeit der Hexenglaube mit seinen entsetzlichen Folgen gelten wird. Einst selbstverständlich, heute unfaßbar. Daß man an Hexen und Teufelsbünde glaubte, kann man sich noch erklären; daß man die ›Geständnisse‹ auf der Folter für Beweise hielt, geht über unser Denkvermögen.

Auch das 17. und das 18. Jahrhundert haben ihre geistigen Krankheiten gehabt. Das 19te konnte sich sehen lassen, das 20ste hat manches daraus bewahrt. Was andres als Geisteskrankheit war der Glaube, man könne eine seelische und wirtschaftliche Umwälzung wie die der Arbeiterwelt durch ein polizeiliches Ausnahmegesetz aufhalten oder verhindern?

Aus der Gegenwart, aus unsern Tagen könnte die Dichtung der Dichter, die nicht dichten können, genannt werden. Auch an die Akademie für Dichtkunst ließe sich denken, deren meiste Mitglieder drollige Nichtkönner sind. Indessen diese Späße betreffen einen so winzigen, gleichgültigen Ausschnitt der Bildungswelt, sind so flüchtige Schnurrpfeifereien des Tages, daß sie sehr bald aus dem Gedächtnis der Deutschen Menschheit verwehen werden. Auch der Scheinruhm eines Nichtdichters wie Stefan Georges gehört zu den Strohfeuern, die im Nu mächtig aufflackern, im Nu in sich zusammenfallen.

Die Deutsche Bildungswelt nach 50 Jahren – davon bin ich überzeugt – wird erfahren und schwer begreifen, daß es eine Zeit in der Deutschen Bildungsgeschichte gegeben, wo in Deutschland Unterricht in den fernsten und bildungsleersten Gegenständen erteilt wurde, jedoch keiner in der Muttersprache. Ich glaube, dies wird als das Tollste erscheinen, was die Geschichte irgendeines Volkes aufzuweisen hat.

Die ›Germanistik‹ jener Zukunft – sie wird natürlich nur noch Deutschkunde heißen – wird feststellen, was für ein Deutsch das von Bildungsdünkel strotzende Geschlecht des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geschrieben hat; wird nach den Gründen eines so schmachvollen Sprachzustandes forschen und die Wahrheit schwer oder garnicht aufdecken. Man wird alsdann aus den alten Lehrplänen ermitteln, daß es nur 3 Wochenstunden für den sogenannten Deutschunterricht gegeben hat, neben 14-16 Stunden für fremde Sprachen, 3-4 Stunden für Mathematik, und wird sagen: 3 Stunden für Deutsch waren ja nicht viel, aber etwas hätte man in den 3 Stunden doch lehren und lernen können. Aber auch damit wird man der wirklichen Ursache der Sprachbarbarei unsers Zeitalters nicht auf den Kern kommen, denn aus den Lehrplänen des Jahres 1929 geht nicht hervor, was in den 3 Stunden für den Deutschunterricht getrieben wurde: nicht Unterricht in Deutscher Sprache, Deutschem Satzbau, Deutschem Stil, mündlichem Deutschem Vortrag usw., sondern oberflächliches Herumstochern an einigen Deutschen Dichtungen und oberflächliches Gerede über Geschichte der Deutschen Literatur, ohne Kenntnis der Werke aus allen Jahrhunderten. Ein Sonderforscher wird vielleicht die neusten ›Richtlinien‹ des preußischen Unterrichtsministeriums – Kultusministerium hieß das Ding damals – ausgraben und darin die geschwollenen, innerlich hohlen, unwahren Sätze über den Deutschunterricht in den höheren Schulen lesen, die jedem wahrhaftigen Lehrer ein Ekel sind.

Wenn dann der Sonderforscher um 1980 diesen Abschnitt meines Buches liest – unmöglich ist das nicht – und daraus erfährt, daß jene ›Richtlinien‹ nichts als Redensarten waren; wenn er von mir hört, daß überhaupt kein Unterricht im Deutschen gegeben wurde, daß kein Schüler der höheren Anstalten je planmäßigen Unterricht im Deutschen gehabt hat, so wird er an solche Tollheit nicht glauben. Bis einige Greise aufstehen und ihm bestätigen werden: Was der jetzt längst vergessene Eduard Engel in seinem alten Schmöker ausgesprochen, war die nackte Wahrheit, wir können es bestätigen; wir haben in unsrer Jugend Lateinisch, Griechisch, Französisch, Englisch gründlich gelernt, Deutsch nicht einmal ungründlich, sondern gar nicht. Aber vom ›neuen Menschen‹ wurde in unsrer Jugend viel gesprochen; und daß alles jetzt viel besser werden würde, haben wir oft um uns herum quasseln hören.

Was der Mensch nicht gelernt hat, das kann er nicht, und weil der Deutsche in seinen hohen und höchsten Schulen alles, nur nicht Deutsch, gelernt hat, darum kann er es nicht. Er kann nur das Deutsch, das er um sich herum hat sprechen hören: das Deutsch der Bücher und der Zeitungen, der Minister und der Abgeordneten, und all dieses Deutsch rührt her von Menschen, die ebenfalls nie Deutsch gelernt haben.

Der nachdenkliche und wahrheitliebende Leser dieses Buches wird nach kurzem Besinnen auf seine Schulzeit sagen: Der Mann hat Recht; ich habe niemals planmäßigen Unterricht im Deutschen gehabt, wie ich ihn doch in den andern Sprachen gehabt habe. Eigentlich toll, wird er sich sagen; merkwürdig, daß ich noch nie selbst darauf gekommen bin. Wenn ich trotzdem leidliches Deutsch spreche und schreibe, so verdanke ich das nicht meiner Schule, sondern dem Selbstunterricht an der Hand von Lehrbüchern über gutes und schlechtes Deutsch. Richtiges Französisch hat die Schule mich gelehrt, richtiges Deutsch zu lehren war ihr von dem Herrn Minister nicht aufgetragen. Man kann das dem Herrn Minister nicht verübeln, denn er selbst hatte in seiner Schule ja auch nicht Deutsch gelernt.

Die Männer von der Presse, nun gar die Schriftsteller, müssen, wenn sie auf ihre Schulzeit zurückblicken, dasselbe sagen, und sie sagen es. Oft genug haben sie bei Umfragen über den schlechten Unterricht im Deutschen geklagt. Das Wort ›schlecht‹ ist unzutreffend, – gar keinen Unterricht im Deutschen haben sie genossen, so wenig wie ich und wir alle. Aber, so sagen sie, wir haben uns selbst im Deutschen erzogen durch das Lesen unsrer besten Schriftsteller. Wahr und vortrefflich; doch das genügt nicht, denn da unsre besten Schriftsteller aller Jahrhunderte keinen planmäßigen Unterricht im Deutschen genossen hatten, so können auch sie keine unbedingt mustergültige Vorbilder für unser Deutsch sein. Das ist keine Mückenseiherei, sondern eine jedem Sprachkenner bekannte Tatsache.

Dies ist der Zustand dessen, was in den Lehrplänen großwortig Unterricht im Deutschen heißt, – und nun die Folgen.

Alljährlich erstattet der Vorsitzer des preußischen Oberprüfungsamts für die Rechtsbeflissenen seinen Bericht an den Justizminister über die Ergebnisse der Prüfungen der angehenden Referendare, über ihre fachliche, ihre allgemeine Bildungshöhe, und in jedem Bericht wiederholt sich die zornige Klage über die mangelhafte Sprachbeherrschung der Prüflinge. Sein Bericht über das Jahr 1928 gipfelte in dem Ergebnis: ›zunehmende Sprachverwilderung‹. Erstaunlich ist mir hierbei nur die Unwissenheit des Herrn Oberprüfers über den Grund der Sprachverwilderung. Unterhielte er sich einmal mit den Prüflingen vertraulich und freundschaftlich, und dürften sie ihm freimütig und gründlich die Wahrheit sagen, so würde er von ihnen zu hören bekommen: Möchten Sie, Herr Geheimrat, uns gütigst verraten, woher wir das von Ihnen verlangte gute Deutsch hätten beziehen können? Genau so, wie Sie heute klagen, hat schon Ihr Herr Vorgänger vor 15 Jahren geklagt. Lesen Sie nur seine Klage in Engels »Deutscher Stilkunst« auf Seite 201 nach! Auf dem Gymnasium haben wir keinen Unterricht im Deutschen gehabt; auf der Universität haben wir die Vorlesungen der ein sehr mittelmäßiges oder schlechtes Deutsch sprechenden Professoren gehört; Vorlesungen über Deutsche Sprache, Deutschen Stil gibt es nicht, lassen Sie uns also ungeschoren mit Ihren ungerechten Anklagen wegen unsrer Sprachverwilderung! Dazu gehört kein großer Mut, uns wehrlose Prüflinge anzuprangern; wenn Sie Mut haben, so klagen Sie den Unterrichtsminister an, daß er in den höheren Schulen den schmachvollen Zustand der Unwissenheit in der Muttersprache trotz seinen herrlichen ›Richtlinien‹ fortbestehen läßt.

Die Prüflinge hätten vollkommen Recht; es gibt in der Tat an keiner Deutschen Universität eine Vorlesung über Deutsche Sprache. Kommende Geschlechter werden mir dies nicht glauben; ich verpfände mein Wort dafür, und von den Vorlesungsverzeichnissen unsrer Universitäten werden sich nach fünfzig Jahren in den Kanzleien wohl noch einige auffinden lassen. Einmal, vor 10 Jahren, habe ich vernommen, daß in Greifswald eine Vorlesung über Sprachrichtigkeit im Deutschen gehalten wurde; sie war sehr schwach besucht, – mit Recht, denn Sprachrichtigkeit, überhaupt Sprachform spielt in der Deutschen Wissenschaft keine Rolle. Kein Deutscher Professor hat sich je um Sprachrichtigkeit als um eine unerläßliche Forderung der Wissenschaft oder der Hochbildung gekümmert, denn keiner war von der Schule her, auf der Universität, bei seiner Prüfung und seiner Anstellung darauf hingewiesen worden. Es gibt Deutsche Professoren, die leidlich richtiges, ja gutes Deutsch schreiben; aber das danken sie ausschließlich sich selber, gefordert wird es von ihnen nicht, gedankt wird es ihnen auch nicht. Nimmt sich einer gar heraus, reines Deutsch zu schreiben, so verfällt er dem Urteil seines Standes: der Mann steht außerhalb der Wissenschaft, denn das Deutsche ist keine Sprache der Wissenschaft.

Von den Universitäten werden nach den nötigen Prüfungen die jungen Lehrer – ich glaube sie heißen Studienassessoren – auf die Schüler und Schülerinnen der höheren Lehranstalten losgelassen. Auch sie werden in manchen Fächern geprüft, nur nicht im Deutschen. Sie müssen nachweisen, daß sie Gotisch, Alt- und Mittelhochdeutsch, Deutsche Sprachgeschichte, Deutsche Literaturgeschichte erfolgreich getrieben haben; ob sie aber richtiges und falsches, gutes und schlechtes Deutsch unterscheiden und die Schüler darüber belehren können, darin werden sie nicht geprüft. Sie werden später Aufsätze aufgeben und durchsehen, werden die Hefte mit senkrechten und wagerechten roten Federstrichen schmücken, werden Urteile über schlechten Stil der Schüler abgeben, und alles das, obgleich sie selbst nichts darüber gelernt haben, es sei denn in Ausnahmefällen durch Selbstunterricht. Diese Ausnahmefälle mehren sich, denn die nachdenkenden Lehrer kommen zu der Einsicht, daß man nichts lehren kann, was man nicht selber einmal gründlich gelernt hat. Noch aber sind solche Lehrer in der Minderzahl.

Angenommen, es würde eine Prüfungsordnung für angehende Lehrer in dieser seltsamen Unterrichtssprache Deutsch eingeführt, in der sie selbst nie unterrichtet worden, die sie aber fortan nach dem Willen eines umstürzlerischen Unterrichtsministers an den höheren Schulen lehren sollen, – wer würde sie prüfen? Wo sind die hochbestallten Prüfer an unsern Universitäten für diese niemals gelehrte Sprache? Herr Gustav Röthe ist leider tot; vor drei Jahren wäre er zweifellos der Vorsitzende des staatlichen Prüfungsamtes für die Berechtigung zum Unterricht in Deutscher Sprache geworden. Er hätte dann die Prüflinge unter anderm gefragt, ob es wohl einen edleren Ausdruck für das Wesen eines altdeutschen Helden gäbe, als daß er ›ethisches Pathos‹ habe, und ob man den Gedanken, den der Deutsche Kaffer in seiner gemeinen Sprache etwa ausdrücke: ›Wer nur an das Wohl seines Kirchspiels denkt, der zersplittert sein Volk‹ –, ob man den wohl in noch feineres Deutsch kleiden könne als: ›Die Interessenpolitik des Territoriums atomisiert die Nation‹. Und wenn jene Haupttragsäule der Germanistik den Prüfling fragte, was er sicher getan hätte: Geben Sie mir die Gründe an, aus denen kein Germanist so niedrige Wörter wie ›völkisch‹ statt des allein ›edelen‹ national, und ›Bücherei‹ statt der einzig würdigen Bibliothek schreiben darf?, welche Antwort hätte ihm der Prüfling geben müssen, um bei jenem Prüfer nicht durchzufallen? – Wird mir ein Leser nach 50 Jahren glauben, daß es alle diese Tollheiten in Deutschland einst wirklich gegeben hat?

*


 << zurück weiter >>