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Paul Lindau (1839-1919)

Was die Literaturgeschichtschreiber – bitte mich auszunehmen! – über ihn berichten, fließt aus zwei Hauptquellen: aus der Unwissenheit des Nichtmitlebenden und aus dem Widerspruch, den jede lärmende Berühmtheit ohne große Leistung hervorruft. Paul Lindau war in den 70er Jahren, ja noch tief in die 80er hinein, so lärmberühmt, dabei so einflußreich durch sein in großen Zeitungen gedrucktes Kunsturteil, daß er bei sehr Vielen Neid, ja vornehmlich Neid, dann Abwehr, selbst Haß aus erlittener Kränkung erzeugte.

In zwei Literaturgeschichten, denen von Richard Meyer und von Adolf Bartels, tobte sich die Unwissenheit in den einfachsten beweisbaren Tatsachen aus. Beide Verfasser waren Knäblein gewesen, als Lindau durch die von ihm begründete ›Gegenwart‹ (1872) eine geistige Macht in Berlin, von da aus für Deutschland wurde. Nur wer als denkender Jungmann jene Zeit bis zum Beginn der 80er durchlebt hat, weiß, was die ›Gegenwart‹ war und wie sie wirkte. Weil Meyer und Bartels dies nicht aus eignem Erleben wußten und zu gewissenlos waren, um sich aus den ja zugänglichen Quellen zu belehren, stellten sie Lindau mit seiner ›Gegenwart‹ so dar, als sei der Herausgeber ein sittenloser Volksverderber, sein Blatt eine Fundgrube aller Nichtsnutzigkeiten gewesen. Der Leser, dem eine große alte Bücherei offensteht, sollte sich einmal die zehn ersten Jahrgänge der ›Gegenwart‹ geben lassen: er wird staunen über die bodenlose Leichtfertigkeit – sehr milde gesagt –, mit der ›Geschichte‹ geschrieben wird. Nicht jeder Leser dieses Buches hat meine Deutsche Literaturgeschichte zur Hand, darum setze ich her, was dort über Lindaus ›Gegenwart‹ gesagt wird.

›Gleich in den ersten Nummern, im Jahr der Hochflut der ›Gründerzeit‹ (1872) brachte die ›Gegenwart‹ einen scharfen Aufsatz ›Zur Geschichte des Börsenschwindels‹, und es sollte schwer sein, in den Bänden der ›Gegenwart‹ grade in den verrufensten Jahren (1872 und 1873) irgendetwas zu finden, was für den Gründertaumel jener Zeit verantwortlich gemacht werden könnte. Die ersten Schriftsteller Deutschlands haben in der Zeit, die man (eigentlich nur noch Bartels) jetzt als eine der entsetzlichsten Verderbnis, zum Teil in Folge der ›Gegenwart‹, verlästert, an Lindaus Zeitschrift mitgearbeitet: Fontane, Lindner, Freiligrath, Geibel, Klaus Groth, Lingg, J. G. Fischer, Bluntschli, Gneist, Rosenkranz, Hettner, Uhde und viele Andre. In der ›Gegenwart‹ zuerst wurde auf Anzengruber hingewiesen … Mit ungerechter Übertreibung wurde Paul Lindau später als Sündenbock in die Wüste der Verdammnis geschickt, die ebenso ungerecht über die ganze Literatur der 70er Jahre verhängt wird. Er wurde einst über Verdienst gepriesen und mußte dann nach dem Gesetz von Wirkung und Gegenwirkung den Rückstoß unverdienter Unterschätzung erdulden.‹

Richard Meyer, der ein anständiger Mann und ein Gelehrter mit Ehrgefühl war, wurde durch diese und andre Beweise überzeugt, daß er sich geirrt hatte; Adolf Bartels, der nichts von Paul Lindau wirklich weiß und seine Urteile nicht durch Wissen trüben will, druckt seit Jahrzehnten ab, was er einst über jenen furchtbaren Volksverderber und über Blumenthal frei erfunden hat. Bei Blumenthal habe ich nachgewiesen, daß Bartels keine Ahnung hat von dessen Lebenswerk, sondern, mit Jahrzehnten Fangball spielend, frei erfindet. Genau so steht es mit den Angaben seiner sogenannten Geschichte von der Alleinherrschaft Paul Lindaus über die Deutschen Theater. Wer die amtlichen mathematischen Beweise für die Nichtigkeit alles dessen lesen will, was Bartels über die dramatische ›Korruptionsliteratur‹ der 70er Jahre frei erfunden hat, der findet sie in meiner Deutschen Literaturgeschichte (Band 2, S. 270).

Geblieben ist von Lindau nichts Dichterisches, wohl aber sind seine Bücher über Molière und Musset die lesbarsten über ihre Gegenstände. Wer wissen will, wie dumm, wie lächerlich, wie verlogen das Gewäsch über die Theaterverderbnis im Deutschland der 70er Jahre – in Folge der Lindauschen Dramen! – ist, der lese doch einmal seine Schau- und Lustspiele ›Maria und Magdalena‹ (1872) und ›Ein Erfolg‹ (1874)! Er wird sein blaues Wunder erleben: Harmlosigkeiten wie die gibt es auf unsern Bühnen überhaupt nicht mehr. Paul Lindau gehört zu den sittenreinsten Dramendichtern Deutschlands. Daß er außerdem ein geistreicher Bühnengesprächsführer war, sollte ihm nicht vergessen werden.

Ich habe Lindau gekannt und habe viel von ihm gelesen: er war ein gutmütiger, ein gütiger Mensch, und man konnte sich menschlich auf ihn verlassen. Witzig wie sehr wenige, aber kein Witzling. Er sprudelte nicht zu jeder Stunde und bei jeder Gelegenheit über von Witzen und Witzchen, aber wehe dem, der die Schnellkraft seines Bogens herausforderte und den schärfsten Pfeil verdiente. Noch erinnere ich mich des ganz Berlin durchschütternden Gelächters auf Kosten Julian Schmidts, der zehn Jahre nach Lassalles vernichtender Abfuhr (vgl. S. 121) sich wieder mausig machen zu dürfen geglaubt. Er hatte mit seiner unausrottbaren Selbstgefälligkeit über eine französische Dichterin geschrieben, die er ganz oberflächlich kannte. Dies wies ihm Lindau in der ›Gegenwart‹ mit unbarmherziger Gründlichkeit nach und schloß seinen Aufsatz: ›Und hiermit, Herr Dr. Schmidt, überlasse ich Sie Ihrem Schicksal oder, wenn Sie das vorziehen, überschicke Sie Ihrem Lassalle.‹ Ja es waren schrecklich verderbte Zeiten, jene 70er Jahre, als deren nachmalige Sittenrichter Bartels und Genossen noch kurze Höschen trugen; aber zum Lachen gab es damals mehr als heute, das kann ich euch Zeitgenossen von der ›neuen Sachlichkeit‹ versichern.

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