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In keiner Darstellung Wilhelms des Zweiten und seiner Zeit, die man drolliger Weise ›die Wilhelminische‹ nennt, fehlt die klagende Frage: Warum hat sich niemals Widerstand erhoben gegen die Taten und die Worte des Kaisers? Man weist dabei überwiegend, fast ausschließlich auf die Kanzler, auf die nach Bismarck, auf die Minister, auf alle höchste Beamte, auch auf die Bundesfürsten hin, nennt wohl gelegentlich, nebenbei, den Reichstag als Mitschuldigen, dringt aber nicht bis in den untersten Grund der verblüffenden Tatsache, daß Wilhelm 2. bis zu einem bestimmten Tage, der geschichtlich feststeht, in der Tat niemals ernsten Widerspruch erfahren hat von Denen, die vor allen Andern verfassungsmäßig dazu berechtigt, berufen, verpflichtet waren. Es gab eine Macht, die so groß war wie die des Kaisers, die er nicht brechen konnte, die ihn hätte zerbrechen können, und diese Macht versagte, Jahrzehnte lang. Bis dann der 10. November 1908 kam, wo der Reichstag einmal, ein einzigmal, zum ersten und zum letzten Mal sich bewußt ward, daß er die Macht war, einmal, zum ersten und zum letzten Mal Widerspruch erhob und sich dann sogleich wieder zum gehorsamen Schlummer niederlegte.
Von Lessing rührt der scharfe, überlieferungswidrige Ausspruch her: ›Nur der verdient den Namen eines Geschichtschreibers, der die Geschichte seiner eigenen Zeit geschrieben hat.‹ Berge von Urkunden, Gewölbe mit aufgespeicherten Zeitungen, ganze Büchereien voll Geschichtswerken genügen nicht, das Wichtigste wahrheitsgetreu, oder wenigstens mit der lautern Wahrheit eines einzelnen Beobachters, zu berichten: den Geist der Zeit, der alles Geschehen durchweht. Dieser Geist kann treu nur von einem Zeitgenossen, einem Miterleber, Mitatmer des Geistes erfaßt und wiedergegeben werden. Selbst dem gewissenhaftesten, ernstesten, fleißigsten, einzig auf Wahrheit ausgehenden bloßen Geschichteforscher entgeht er.
Die wahrhaftige Geschichte des Zeitalters Wilhelms 2. ist noch von keinem einzigen Darsteller richtig, d. h. bis auf den Grund gehend, und überzeugend geschrieben worden, und doch sind wir, seit 1914, schon 15 Jahre von ihm entfernt. Die alten Geschichtschreiber, die jene Zeit, 1890 bis 1914, durchlebt haben, bindet eine seltsame Scheu; sie schreiben nicht die reine Wahrheit, vielleicht weil sie selber in jenen Jahren nicht die reine Wahrheit gesagt und geschrieben haben; vielleicht weil sie sich nicht ganz unschuldig fühlen am Geiste jenes Zeitalters: dem des schweigenden oder vertuschenden oder gar rühmenden Geschehenlassens. Namen brauchen nicht genannt zu werden: der Kenner des Geschichtsfaches weiß, wie die beamteten Kaisergeburtstagsredner an allen Hochschulen geheißen haben, von den Bewundrern der entzückenden ›Impulsivität‹ bis zu den Bejublern der › deliciae generis humani‹.
Die Jüngeren schreiben auch, aber sie wissen nur, was sie aus bedrucktem Papier erfahren haben. Sie schreiben ab, sie schreiben nach und sagen ihre Meinung über das Ab- und Nachgeschriebene. Diese Meinung aber ist eine papierne, keine aus den Wurzeln des Miterlebens gewachsene. Der denkende Miterleber liest das alles unter stetem Kopfschütteln, Emil Ludwig, das beste Beispiel, saß in dem entscheidenden Jahrzehnt von 1890 bis 1900 auf der Schulbank.
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Warum die höchsten Beamten des Reiches, die sich nur als Beamte des Kaisers fühlten, allesamt geschwiegen haben, das hat man immer gewußt und das ist sehr leicht zu beantworten. Sie klebten am Amt, das ihnen Macht, Glanz, Wohlleben verlieh. Dies galt selbst für einen Kanzler wie den Fürsten Hohenlohe. Auch er, der sonst gar stolze Reichsfürst, der geldlich unabhängige Mann, der mit allen verleihbaren Würden und Orden der ganzen Welt überreich bedachte, äußerlich gar vornehme Herr, er hat es selbst auf scharfes Drängen von Freunden, auf liebevollen Rat des eignen Sohnes – dieser berichtet es (vgl. S. 285) – nicht über sich vermocht, ein einzigmal gegen eine ihn erniedrigende Kränkung als selbstbewußter, stolzer Herr aufzutreten, sondern hat es vorgezogen, in der Lakaienschaft, in der Gesindestube des Hofes zu verharren. Wer das Erinnerungsbuch seines Sohnes gelesen, der weiß, daß ich im Ausdruck nicht übertreibe.
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Wie aber stand es mit dem Reichstag nach Bismarcks Entlassung? Um dessen Verhalten richtig zu beurteilen, genügen nicht die nackten geschichtlichen Tatsachen, nicht die urkundlich beglaubigten Liebedienereien, die Nachgiebigkeiten der eignen Überzeugung zuwider. Das alles zeigt uns nur die Tatsachen, deckt nicht den Seelengrund auf, dem sie entsprungen sind. Diesen Seelengrund, den der Hunderte von Menschen, hat nur gekannt, wer jene Menschen gesehen, gehört, geatmet, erlebt hat, und wo sind die, die ihn so gekannt haben? Wie viele Reichstagsabgeordnete aus der Zeit von 1890 bis 1908 leben noch? Wie viele von diesen Wenigen sind sich selbst bewußt gewesen und geblieben, was sie einst getan und was sie nicht getan, und warum sie es getan und nicht getan haben? Sie staken ja bis zum Halse, bis überm Kopf mitteninne im Getriebe jener Zeit. Ruere in servitium: sie stürzten sich in die Knechtschaft; aber sie wissen nicht mehr, aus welchen tiefsten Beweggründen sie vor 40, vor 30 Jahren gehandelt, besonders aber nicht gehandelt haben. Und die paar, die es schon damals wußten und es heute noch wissen, werden sich hüten, es auch nur sich selbst, geschweige uns zu gestehen: Weil wir verbrecherische Feiglinge waren, weil wir Angst hatten, weil uns die Kniee schlotterten beim bloßen Gedanken an einen entschlossenen eisernen Widerstand auf Biegen oder Brechen, ja nur an ein weit über das Land hallendes Wort der Wahrheit und des Zornes.
Von jener Zeit habe ich mehr als die Hälfte inmitten des Reichstags durchlebt, als Nichtbeteiligter, als aufmerksamer Beobachter, buchstäblich mittendrin: mein Amtsplatz unter der Rednerbühne lag nicht weit vom mathematischen Mittelpunkt des Reichstagssaales und grenzte dicht an die Seelenachse des Hohen Hauses. Was ich hier aussprechen werde, habe ich schon damals wer weiß wie oft zu vertrauten Freunden und zu Nächsten ausgesprochen. Noch leben Zeugen dessen, was ich damals gesagt, und sie beweisen mir, daß ich nicht treppenklug geworden bin, sondern schon damals richtig gesehen und gehört habe. Auch mit wohlbekannten, mir befreundeten Abgeordneten habe ich mich schon damals sehr oft, immer wieder, über das Gebaren des Reichstags freimütig unterhalten und habe ihre Worte im Gedächtnis bewahrt. Hierauf gestützt, erkläre ich: Der Reichstag hat von der Thronbesteigung Wilhelms 2. bis 1908, volle 20 Jahre, gehandelt und unterlassen aus Furcht, aus körperlicher Furcht und Feigheit. Dies war die Gemütsstimmung des Reichstags, aller Parteien, bis in die Reihen der Sozialdemokraten hinein. Man fürchtete den Kaiser. Man hielt ihn für einen zu allem fähigen selbstherrlichen Gewaltherrscher und zitterte, ihn durch einen Antrag, einen Beschluß, ja schon durch ein, noch so berechtigtes, scharfes Wort zu reizen. Man traute ihm das Äußerste zu: Bruch der Verfassung, Aufhebung der Verfassung, gewaltsame Abschaffung des Reichstagswahlrechts; ja bis zum gewaltsamen Auseinanderjagen des Reichstags, bis zum Herausgreifen einzelner Abgeordneten und zur Vergewaltigung ihrer Freiheit, vielleicht gar ihres Lebens. Man verstehe mich nicht falsch! –: dies trauten Reichstagsabgeordnete ihm zu, nicht ich; aber dies habe ich aus dem Munde von Abgeordneten gehört, die keine Blechschwätzer waren. Das war Seelenstimmung, die kam nicht in die Urkunden, davon stand nichts in den Zeitungen, die späteren Geschichtschreiber wissen nichts von ihr.
Man hielt den Kaiser für fähig, einen Staatsstreich zu wagen, wenn er sich der Zustimmung der Bundesfürsten, wenigstens einiger, versichert hätte und einen willfährigen Kanzler fände, und man sagte sich: den findet er bestimmt, wenn er ihn nicht schon hat. Das Wort: ›Wer mir Widerstand leistet, den zerschmettre ich!‹ hielt man keineswegs für eine leichtfertige leere Leutnantsdrohung, sondern für ernste Bereitschaft. Man hörte und las, grade in seinen ersten Regierungsjahren, immerfort Reden, Briefe, Dratungen, in denen der Geist, oft der Buchstabe der Verfassungen, der preußischen oder der Deutschen, verletzt wurde; doch keiner wagte auf der Rednerbühne des Reichstags auszusprechen, was jeder empfand, keiner. Das einzige, was hin und wieder gewagt wurde, aber nur auf der äußersten Linken, war eine witzelnde Anspielung an das letzte herausfordernde Wort des Kaisers. Wurde die Anspielung zu deutlich, so ertönte die Glocke des Präsidenten, und man vernahm den festgeformten Satz: ›Die Person des Monarchen darf nicht in die Debatte gezogen werden.‹ Warum denn nicht? Alle Präsidenten von Levetzow an haben, unter offenbarer Verletzung der Reichsverfassung und der Geschäftsordnung des Reichstags, erst geklingelt und dann so gesprochen. Und, was entscheidend war, niemals hat irgendeine Partei, auch nicht die der Sozialdemokraten, den Präsidenten gefragt: Warum denn nicht? Niemals ist Einspruch erhoben worden gegen solchen schreienden Bruch der Verfassung und der Geschäftsordnung. Kein Wort stand in der alten Reichsverfassung, kein Wort in der Geschäftsordnung, wonach über ›die Person des Kaisers‹, d. h. über den Kaiser, seine Taten und Worte und Schriften, nicht gesprochen werden dürfe. Im Gegenteil, die Verfassung verbürgte ausdrücklich die straflose Redefreiheit und enthielt nicht die geringste Einschränkung. Alles hätte gesagt werden dürfen, auch das Äußerste, z. B. nach der ›Krüger-Depesche‹: ›Der Kaiser gefährdet den Frieden und die Sicherheit des Reiches, und der Reichstag muß Maßregeln treffen, solche Kundgebungen des Kaisers zu verhindern.‹
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Nicht alles, aber einiges ist gesagt worden in den zwei berühmten Sitzungen des Reichstags am 10. und 11. November 1908, und siehe da – auf einmal durfte ›die Person des Kaisers in die Debatte gezogen werden‹. Kein Präsident wagte das zu verbieten, zwei Tage lang hat der Kaiser auf der Anklagebank des Reichstags gesessen, wenngleich nicht ›in Person‹. Jene vom Reichstag zwei Jahrzehnte hindurch geduldete eigenmächtige, rechtswidrige Liebedienerei aller Präsidenten wurde auf einmal als das erkannt und behandelt, was sie war: als die unheilvolle Ausgeburt knechtischer Gesinnung der Präsidenten und des Reichstags.
Warum hatten alle Präsidenten des Reichstags so verfassungswidrig und so knechtisch gehandelt? Warum hatte jeder jedes ernste Wort über den Kaiser ›abgedrosselt‹? Weil jeder den Kaiser fürchtete. Was für ein Übel hätte der erzürnte Kaiser einem Reichstagspräsidenten zufügen können? Ihn einsperren oder erschießen lassen? Das hat keiner gefürchtet, wohl aber etwas ebenso Entsetzliches: er würde beim Kaiser in die bodenlose Ungnade fallen, wenn er ein freies Wort im Reichstag über den Kaiser zuließe. Unausdenkbarer Gedanke: die Ungnade des Kaisers! Kein Präsident wollte eine so furchtbare Strafe auf sich nehmen. Man denke: die Ungnade des Kaisers, der Orden und Titel zu verleihen hatte, der zu Hoffesten einlud, der jeden Verstoß gegen seine Göttlichkeit noch an den Söhnen und Enkeln rächen konnte und rächen würde; man hatte Beispiele. So plapperte denn ein Präsident dem andern nach: ›Die Person des Kaisers darf nicht in die Debatte gezogen werden‹, ohne ein Wort der Begründung für notwendig zu halten. Die Präsidenten taten so, als läge ein altersgraues geheiligtes Gewohnheitsrecht vor. In England hätte man davon sprechen dürfen, wo Jahrhunderte alte Rechtsübungen bestehen. Aber in Deutschland? 17 Jahre nach der Gründung des Reichs? Und selbst wenn unter Wilhelm I. sich ein junges Gewohnheitsrecht gebildet hätte, weil der alte Kaiser dem Reichstag niemals Grund zur Erörterung seiner Worte und Handlungen gegeben, – hatte nicht mit Wilhelm 2. ein völlig andres Zeitalter des Staatslebens begonnen?
Es gab in der Zeit von 1890 bis 1908 nichts, was sich der Reichstag vom Kaiser nicht widerspruchslos gefallen ließ. Selbst die schwer beleidigende Dratung Wilhelms 2. an Bismarck nach der Ablehnung eines Glückwunsches des Reichstags zu dessen 80. Geburtstag vermochte nicht, den Reichstag aus der Knechtschaft seiner Furcht vor dem Kaiser herauszupeitschen.
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Die Furcht des Reichstags, sagen wir deutlicher: der Parteien und jedes einzelnen Mitgliedes vor der Ungnade, vor dem Zorn des Kaisers muß auf ihre Gründe, ihre Triebfedern geprüft werden. Was konnte er dem einzelnen Abgeordneten im schlimmsten Fall antun? Mit den Jahren hatte man langsam begriffen, daß der Kaiser keineswegs der eisern entschlossene, vor nichts zurückscheuende Gewaltmensch war, für den man ihn gehalten hatte. Man wußte in weiten Kreisen, erst recht unter den Abgeordneten, daß der Kaiser so ziemlich das Gegenteil dessen war, was er scheinen wollte; daß er nicht wagen würde, die Verfassung für aufgehoben zu erklären oder sonst eine Gewalttat zu begehen. Man fürchtete ihn trotzdem, jede Partei; jetzt aber fürchtete man nur, auf die Gnadenspenden verzichten zu müssen, wenn der Kaiser, durch eine tapfere Rede im Reichstag oder gar durch einen mannhaften Antrag gereizt, die Partei des Redners oder der Antragsteller in den großen Bann täte, was ja die unzweifelhafte Folge sein würde. Nur die Sozialisten wurden durch diesen Grund nicht bestimmt; mutiger jedoch als die andern Parteien waren auch sie nicht. Das haben sie an den zwei Tagen bewiesen, als gesprochen werden durfte und gesprochen wurde. Man lese die Rede des Sozialistenführers Singer vom November 1908! Sie unterscheidet sich durch nichts von den Reden der Freisinnigen, ja kaum von denen der Nationalliberalen. Die stärkste Stelle der Rede Singers lautete, wie auf S. 235 zu lesen steht.
Das Wort: ›Der Kaiser muß zur Abdankung bewogen werden‹ ist von Singer nicht gesprochen worden; auch kein Redner der andern Parteien hat das Wort gesprochen. Es ist aber damals gesprochen worden, – im Bundesrat, doch ganz geheim und ohne Folge; im ›Protokoll‹ steht es nicht. Die Zahmheit der stärksten Stelle Singers ist der schlagende Beweis, wie sehr der Reichstag den Kaiser noch in dem Augenblick fürchtete, wo er gar nicht mehr furchtbar war, wo er selber sich fürchtete, gebrochen war und abdanken wollte.
Alle Parteien, außer den Sozialisten, fürchteten, es mit dem Kaiser, dem Gnadenausteiler, zu verderben. Selbst die Freisinnigen! Auch ihre spärlichen Mitglieder, deren Brust ein Adlerorden vierter Klasse schmückte – höher hinauf flog dieser wählerische Vogel nicht –, waren beglückt, und die noch nicht Geschmückten wollten von dieser allerhöchsten Gnade nicht für ewig ihre vor Königsthronen männerstolze Partei ausschließen. Über die Beweggründe der andern Parteien braucht überhaupt nicht gesprochen zu werden, – jeder kennt sie.
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So ist es gewesen, so habe ich es gesehen, an tausenden von Tagen. So erklärt sich's, warum an der einzigen Stelle, wo ohne Gefahr gesprochen werden durfte und mußte, wo die Pflicht gebot, die immer bedrohte und oft verletzte Verfassung zu schützen, warum dort nicht gesprochen, sondern nur, zuweilen, gewitzelt und gestichelt wurde, in all den Jahren zwischen dem Juni 1888 und dem 10. November 1908.
Aber gibt es denn keine Verantwortung für die Reichstage jener 20 Jahre? Gewiß, es gibt eine wunderschöne Verantwortung – auf dem Papier. Verantwortung ist das hohlste Wort im Deutschen Staatsleben. Nie ist ein Schwerschuldiger, ein Staatsverbrecher zur Verantwortung gezogen worden. Alle Verantwortliche in Deutschland wissen, daß man sie niemals zur Verantwortung ziehen wird. Am wenigsten den Reichstag. Weichensteller und Blockwärter werden zur Verantwortung gezogen, – ein Minister, z. B. ein nachlässiger Eisenbahnminister, niemals. Die mathematische Formel hierfür lautet: Je höher das Gehalt, desto geringer die Verantwortung, und umgekehrt.
Aber wie könnte man denn den Staatsverbrecher Reichstag zur Verantwortung ziehen, selbst wenn man wollte, selbst wenn es einen wirklichen Staatsgerichtshof gäbe? Die Redefreiheit ist ja verfassungsmäßig geschützt, und kann man das Nichtreden, das Schweigen vor Gericht stellen? Wie viele von den Schuldigen jener 20 Jahre leben noch? Und wie groß ist die Verantwortung und Schuld jedes Einzelnen? Die Schuldigsten, die Präsidenten, sind sämtlich tot.
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Wie aber erklärt sich's, daß der Reichstag sich im November 1908 zu jenem Strafgericht über den Kaiser aufraffte; daß der Präsident – ein Graf Stolberg war's – nicht abermals die Stirn hatte, die Redefreiheit zu vernichten mit dem alten blöden Satz: ›Die Person des Kaisers darf nicht in die Debatte gezogen werden‹? Hatte etwa ›der Mut in der Brust seine Spannkraft geübt‹? Was war denn geschehen? Durchaus keine der ›impulsiven‹ Plötzlichkeiten, wie man sie bis dahin fast in jeder Woche einmal erlebt hatte; sondern: man erfuhr aus einer Londoner Zeitung, dem Daily Telegraph, Enthüllungen wie die, daß Wilhelm 2. vor vielen Jahren der Königin Victoria von England einen Kriegsplan zum sichern Siege gegen die Buren übersandt habe. In Wahrheit hatte es solchen Kriegsplan gar nicht gegeben; aber der Kaiser hatte einem Engländer davon gesprochen, um ihn und das englische Volk zu überzeugen, was für ein Freund Englands er stets gewesen, und wie großes Unrecht man ihm in England tue, ihn für einen Feind zu halten und von seinen feindlichen Absichten zu sprechen.
Die englische Presse war entrüstet: solche Aufdringlichkeit, solche beleidigende Begönnerung Englands, dem großen Feldherrn Lord Roberts mit einem dilettantischen kaiserlichen Kriegsplan zu Hilfe kommen zu wollen, und überhaupt diese ewigen Herausforderungen! – Die großmütterlich nachsichtige Königin Victoria war lange tot, der schon oft von dem Neffen gekränkte und gereizte Oheim Eduard war König von England, – man bekam es in Deutschland ernsthaft mit der Angst vor einem Weltkriege, denn daß Frankreich und Rußland auf der Lauer lagen, wußte jedes Kind. Auf einmal erschien die unbeherrschbare Redewut Wilhelms 2. den Deutschen in einem andern Licht als dem des Oberbeschwichtigungsrats mit seinem Gestammel von der ›Impulsivität‹: man begriff, der immer redende Kaiser könne uns plötzlich in einen Krieg hineinreden, und man wollte keinen Krieg. Angst und Zorn flammten vereint von heut auf morgen in der ganzen Deutschen Presse empor; Aufsätze erschienen, die zu andern Zeiten jeden Staatsanwalt zu Mannestaten gezwungen hätten. Diesmal rührte sich kein Staatsanwalt; es herrschte für Tage, fast zwei Wochen unbeschränkte Preßfreiheit. Harden durfte in der Zukunft einen Aufsatz drucken mit der Überschrift ›Will der Kaiser abdanken?‹ Der Kaiser saß auf der Anklagebank seines Volkes und des Reichstags.
Alle Parteien rührten sich; die Abgeordneten bekamen plötzlich den Mut ihrer Angst, sie fühlten sich geschützt durch das hinter ihnen stehende Deutsche Volk. Selbst die Konservativen begriffen, daß der Sturm nicht aufzuhalten war, und der Präsident sah ein, daß die Person des Kaisers in die Debatte gezogen werden müsse, wenn der Reichstag über die Enthüllung im Daily Telegraph verhandeln dürfe, und dies zu verhindern gab es keine Macht.
Hinzu kam etwas, das nicht übersehen werden darf. Was geschehen wäre, wenn sich der Kaiser in Berlin befunden hätte, ist schwer zu sagen; vielleicht wäre der Aufruhr mit allen Mitteln amtlicher Mache sänftiglich gedämpft worden, etwa durch ein Gespräch des Kaisers mit den Parteiführern der Mehrheit. So aber? – der Kaiser war nicht in Berlin, sondern bei seinem vergnügten Freunde dem Fürsten von Fürstenberg und belustigte sich dort, wie man durch ausführliche Dratberichte erfuhr, in einer Weise, wodurch Öl ins Feuer gegossen wurde. So pocht das Schicksal an die Pforte! War die Halsbandgeschichte wenige Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution ärger gewesen?
Der Kaiser war fern von Berlin, konnte also auf keinen Fall an der Spitze einer Kompagnie von Scharfschützen und zweier Batterien von Feldgeschützen den Reichstag umzingeln und die schuldigen Abgeordneten herausgreifen, wie das einst König Karl I. von England getan hatte. Und da alle Parteien gleich schuldig waren und das Volk in allen seinen Schichten hinter dem Reichstage stand, so tobte sich der Mut in der Männerbrust aus, zum ersten Mal in 20 Jahren, und man wagte zu reden. Man redete zwei Tage lang, zusammen 10 Stunden; man sagte einige beinah scharfe Worte, doch immer in altgewohnter geziemender Ehrfurcht. Der Geschichtschreiber, der jenen denkwürdigen Vorgang wissenschaftlich, also wahrheitsgetreu, behandeln will, verlasse sich nicht auf die dunkle Überlieferung, der Reichstag habe damals rücksichtslos über Wilhelm 2. zu Gericht gesessen; sondern er lese die stenografischen Berichte über die Sitzungen vom 10. und 11. November 1908: er wird staunen. Der Kaiser hat schon die in jenen beiden Tagen gehaltenen Reden, darunter die von einigen Edelsten der Nation, für so entsetzlich gehalten, daß er sich krank ins Bett legte und abdanken wollte. Prüft man aber die Reden, auch die von der Linken, genau, so wird man verblüfft entdecken, daß selbst in jener Entscheidungsstunde des Reichstags und des Reiches keine Partei, kein Redner, nicht einer, den Mut aufbrachte, in aller Ruhe und mit dem der Größe der Stunde gebührenden Ernst die von Allen empfundene schlichte Wahrheit auszusprechen: So wie bisher darf es nicht weitergehen; dies darf sich nie wiederholen, denn es streitet gegen das Ansehen Deutschlands, gegen die Würde des kaiserlichen Amtes, es gefährdet die Sicherheit des Reichs und den Frieden der Welt. Und da sich kein Mensch völlig ändert, kein 50 Jahre alter Fürst sich ändern kann, so gibt es nur eins: dem Kaiser muß nahegelegt werden, abzudanken.
Die Deutschen Fürsten hatten hieran gedacht, der Bundesrat hatte es erwogen; nur im Reichstag wagte niemand auszusprechen, was alle dachten und – was das Vaterland hätte retten können, noch sechs Jahre vor dem Ausbruch des Weltkrieges.
In keinem Geschichtswerk über das sogenannte ›Wilhelminische Zeitalter‹, in keinem Buch über Wilhelm 2. habe ich etwas Eingehendes über die Reichstagssitzungen vom 10. und 11. November gefunden. Darum gebe ich hier die allerstärksten Sätze aus den Reden jener Tage wieder, wiewohl ich gar kein Geschichtschreiber bin –:
Bassermann (nationalliberal): … Es ist nahezu ein einmütiger Protest gegen das Eingreifen Seiner Majestät des Kaisers [Bassermann sagt fast nie anders] in die offizielle Politik Deutschlands, gegen das, was man im Lande das persönliche Regiment nennt. Ich will nicht sprechen von der Konjunktur für Witzblätter, für Majestätsbeleidigungen … Nie zuvor ist in allen Kreisen das Gefühl erweckt, daß so die Dinge (!) nicht weitergehen können …
Heute sehen wir die Betätigung dieser persönlichen Politik in das hellste Licht gestellt und erkennen sie in ihrer vollen Schädlichkeit …
Weite Kreise in Deutschland, die republikanischen Anschauungen anhängen, finden in solchen Vorgängen den ihnen willkommenen Agitationsstoff gegen die Monarchie …
Je höher ein Mensch steht, desto größere Vorsicht ist nötig in dem, was er, zumal vor Ausländern, spricht …
Unser Kaiser steht uns so hoch, daß es uns [den Nationalliberalen] bitter weh tut, ihn in diesen Strudel, in diese Kritik hineingezogen zu sehen …
Wir haben keine Ursache, bezüglich unserer auswärtigen Lage Schwarzseherei zu treiben (?). Im Bewußtsein unserer Stärke fühlen wir uns jeder (!) Gefahr gewachsen …
Dr. Wiemer (freisinnig): … Meine politischen Freunde können sich mit dieser Regierungshandlung [dem Feldzugsplan gegen die Buren] in keiner Weise einverstanden erklären … Im Deutschen Volke ist tiefe Beschämung empfunden worden darüber, daß in Deutschland solche Vorkommnisse (!) sich ereignen können.
Singer (Sozialdemokrat, der also die furchtbarsten Sätze und Forderungen ausgesprochen haben wird): … daß neben dem Erstaunen und Bedauern ein sehr berechtigter Zorn und eine berechtigte Entrüstung und tiefe Beschämung im Deutschen Volke empfunden worden ist.
… Die Urteile und Ansichten über die sozialdemokratischen Arbeiter aus kaiserlichem Munde sind nicht geeignet, den Kaiser als den Vertrauensmann und Vertreter der Mehrheit des Deutschen Volkes und der Deutschen Arbeiter anzusehen.
… Ich halte es für notwendig, auch von unserer Seite aus den energischsten Protest (!) gegen diese kaiserliche Äußerung (über die Feindschaft im Deutschen Volk gegen England) einzulegen.
… Die Preisgabe von Staatsgeheimnissen dürfte (!) doch am allerwenigsten von so hervorragender Stelle exekutiert werden (! – Singer wagt nicht, ›begangen‹ zu sagen!)
(Nun aber ein Satz, der die Stockblindheit dieses Redners beweist): Was da aufgetaucht ist in der Presse von der Abdankung des Kaisers (er meint Hardens Aufsatz, vgl. S. 233), … ach, meine Herren, abgesehen davon, daß es dadurch nicht besser würde – die Schäden liegen doch nur zum Teil in den Personen, sie liegen im System … (Als ob nicht eine Abdankung unter solchen Umständen, herbeigeführt durch den Reichstag, dem ›System‹ ein Ende gemacht haben würde, nämlich dem der persönlichen Alleinherrschaft. Deutschland wäre nach der Abdankung ein verfassungsmäßiger Kaiserstaat geworden; der Nachfolger hätte nicht gewagt, in die Spuren des Vorgängers zu treten.)
… Wir brauchen ein Minister-, ein Reichskanzlerverantwortlichkeitsgesetz. (Ein Stück Papier.)
… Es ist hohe Zeit, daß dem persönlichen Regiment ein Ende gemacht und daß Wandel geschaffen wird.
(Dies sind die stärksten, die allerstärksten Sätze des Redners der alleräußersten Linken!)
Dr. von Heydebrand und der Lase (konservativ): Man muß es ganz offen aussprechen, daß es sich hier um eine Summe von Sorgen, von Bedenken und, man kann wohl auch sagen, von Unmut handelt, der sich seit Jahren angesammelt hat. (Dies ist der Gipfel der Rede des Mannes, der lange an der Spitze der einflußreichsten Partei gestanden. Beim Zusammenbruch am 10. November 1918, genau nach 20 Jahren, brach er unter Tränen – der Reue? – zusammen und zog sich aus dem öffentlichen Leben ganz zurück.)
Fürst von Hatzfeldt (freikonservativ): … Wir fragen daher den Herrn Reichskanzler: ist derselbe (!) gewillt, in Zukunft ähnliche Vorkommnisse zu verhindern? (Ganz sinnlos, denn es gab kein Mittel, sie zu verhindern, es sei denn, dem Kaiser das Reden zu verbieten; daran aber hat Fürst Hatzfeldt nicht gedacht, sondern er hat in den Tag hineingeredet.)
Reichskanzler Fürst von Bülow (sagt unbedeutende, zum Verschleiern bestimmte und dem Reichstag gegenüber geeignete Worte, die in der Hoffnung gipfeln, daß der Kaiser fernerhin auch in Privatgesprächen jene Zurückhaltung beobachten wird, die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der Krone unentbehrlich ist). Wäre dem nicht so, so könnte weder ich noch einer meiner Nachfolger die Verantwortung tragen. (Worte! Der Kaiser hat nach wie vor ohne Zurückhaltung Privatgespräche geführt, unter, oder über, Bülow, Bethmann usw., und alle haben ›die Verantwortung getragen‹, denn wo gab es für sie eine Verantwortung? Zeitalter der bewegten Luft!).
Dr. Freiherr von Hertling (Zentrum; der Reichskanzler vom Herbst 1917): … Heute muß auch der Träger der höchsten Macht es sich gefallen lassen, der Kritik der Volksvertretung unterzogen zu werden, wenn er durch seine Handlungen dazu Anlaß gegeben hat … (Hertling verlas zum Schluß eine Erklärung des Zentrums, deren letzter Satz lautet): Das Deutsche Volk muß verlangen, daß der Reichskanzler den Willen und die Kraft besitzt, dem Kaiser gegenüber denjenigen Einfluß zur Geltung zu bringen, ohne welchen seine staatsrechtliche Verantwortung jede Bedeutung verliert. (Großartig! Wie aber, wenn ein Reichskanzler den Willen und die Kraft nicht besitzt? Was dann? – Oder wenn er sie besitzt, und der Kaiser solch unangenehmes ›Luder wegjagt‹? Was dann?).
Liebermann von Sonnenberg (Wirtschaftliche Vereinigung): … Mich, als treuen Anhänger der Monarchie, schmerzt nicht nur seelisch, nein buchstäblich körperlich jedes Wort, was ich hier heute gegen die Allerhöchste Person aussprechen muß: das Vertrauen im Volke ist auf den Nullpunkt gesunken … Wir glauben nicht, daß der Herr Reichskanzler die Verantwortung übernehmen kann, daß die gerügten Vorkommnisse für die Folge unterbleiben werden; bis zum nächsten Male vielleicht. (Sehr starke Worte, aber eben Worte, nicht der kleinste Ansatz zu einer Tat) … Und wenn man dann in den Zeitungen liest, daß ein besonders pikantes Berliner Cabaret vom Fürsten von Fürstenberg zur Unterhaltung seines hohen Gastes nach Donaueschingen beordert ist, da versagt die Kritik, da weiß man nicht mehr Worte. (Mit Liebermanns Rede schloß die erste Sitzung, die vom 10. November.)
(In der zweiten Sitzung, am 11. November, kamen die Nachzügler und die Redner der kleinen Parteien, zum Wort.)
Freiherr von Gamp (Reichspartei): … Es liegt etwas Tragisches darin, daß ein solcher Herrscher so oft in Widerspruch tritt mit den Anschauungen der gesamten Bevölkerung, daß er aus allen Vorkommnissen der Vergangenheit keine Lehre für die Zukunft gezogen hat.
Schrader (freisinnig): … Niemand soll sich mehr vor freier Aussprache hüten als hochgestellte Personen … Ich meine, der Nachfolger (Wilhelm 2.), der seinen großen Vorgänger so hoch ehrt, könnte (!) auch hier (im Schweigen) seinem Beispiele folgen.
Zimmermann (Reformpartei, d. h. Antisemit): … In der Zeit, wo das ganze Volk von der allerstärksten Erregung ergriffen ist, wo der Reichstag hier wartet, ehe er endlich Bescheid erhält, zu der Zeit fragen wir: wo ist der, den es angeht? Bei höfischen Festen!
Haußmann (Volkspartei): … Gestern konnte man sagen: ›Die Szene wird zum Tribunal!‹ … ›Schwarzseher dulde ich nicht‹, – der Mund, der dieses Wort gesprochen hat, hat Schwarzseher zu Millionen geschaffen.
Heine (Sozialdemokrat): … Heute steht im Daily Telegraph, daß das Manuskript (des Engländers, zu dem der Kaiser gesprochen hatte) vollständig genau so abgedruckt wäre, wie es dem kaiserlichen Hoflager (d. h. dem Kaiser) vorgelegen hätte, und daß es dort genehmigt, ja daß die Publikation von dort aus gewünscht worden wäre … Die Hauptsache ist, ob der Kaiser sich den Zwang auferlegen kann, den der Kanzler verheißen hat. Und da sage ich, rein aus psychologischen Gründen: das wird er nicht, das kann er nicht; er kann eben nicht anders handeln, als er ist … Das Reich ist dem Kaiser ein Mittel zu dem höheren Flor der Familie; die Kunst dient, seine Ahnen zu feiern; die Religion hat die Aufgabe, ›den Geist der Ehrfurcht gegen mich zu stärken‹, wie er dem Bischof von Metz gesagt hat … Dank dem Kaiser ist endlich einmal eine nationale Einheit herbeigeführt worden, leider nur in einer großen nationalen Negation. Ich wünschte, die Nation könnte sich einen zu einer großen befreienden Tat!‹
(Zu welcher denn? So nenne sie doch beim Namen! Aber selbst dieser gewandte, scharfe, beredte Sozialdemokrat kommt über dunkle Redensarten nicht hinaus.)
Vor solchen furchtbaren Reden ohne greifbares Ziel brauchte ein Fürst wie Wilhelm 2. wahrhaftig nicht zurückzuweichen. Er stand vom Krankenbett auf, vergaß bald die kleine Unannehmlichkeit jener Tage, regierte und unterhielt sich weiter über auswärtige Politik mit jedem Ausländer, der ihn anzubeten kam. Es waren herrliche Tage für höfische Spione beiderlei Geschlechts.
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Wer die an jenen zwei Gerichtstagen gehaltenen Reden mitangehört hat oder wer sie heute liest, kann nur sagen: eine Theatervorstellung ohne Ernst, ohne Würde, ohne Wert. Jeder Redner, jeder, wenngleich mit kleinen Abstufungen, kennt nur ein Ziel: nicht das einer politischen Tat, sondern das des redenden Abgeordneten, des nach Berühmtheit strebenden ›Parlamentariers‹, nämlich: recht häufiges Bravo!, wär's auch nur von der eignen Partei; gelegentliches ›Sehr richtig!‹, vor allem aber: Heiterkeit, große Heiterkeit – durch Witzchen, Anspielungen, – Heiterkeit in der ernstesten Sache, Heiterkeit bei der bedrohten Sicherheit des Vaterlandes. Nicht der politische Erfolg, – der rednerische ist das Hochziel; daher kein Gedanke an eine klar ausgesprochene Forderung, an ein sogleich in die Tat umzusetzendes Wort. Das war im Reichstag nicht immer so gewesen, erst seit 1890 war es so geworden; der 10. und 11. November 1908 zeigen die Pegelhöhe Deutschen Parlamentsgeschwätzes ohne Ziel.
Zweifellos lag der Grund, warum der Kaiser im Juli 1909 ›das Luder wegjagte‹, in Bülows Verhalten bei der tollen Geschichte des Gesprächs mit dem Engländer Sir Stuart Wortley im Daily Telegraph. Nicht in seinem Verhalten dem Reichstag gegenüber, denn da hatte sich Bülow als Meister in der Kunst erwiesen, sänftigendes Öl auf die Sturmwogen zu träufeln. Nein, der Kaiser war zu der Überzeugung gekommen, daß Bülow es gewesen, der ihm jene entsetzliche Bloßstellung absichtlich eingebrockt hatte. Der Engländer, ein höflicher und ehrenhafter Mann, hatte seine Aufzeichnung über das Gespräch mit dem Kaiser an diesen gesandt und angefragt, ob gegen den Abdruck im Daily Telegraph Bedenken beständen. Der Kaiser hatte ohne weiteres dem Druck zugestimmt, in der sichern Erwartung, daß man in England entzückt, in Deutschland berauscht, in der übrigen Welt starr sein werde über die politische Klugheit des Mannes, um den sich ja ohnehin die ganze Weltpolitik drehte. Bülow erhielt das Schriftstück vom Kaiser als eine Angelegenheit des Kaisers, obendrüber stand die Inhaltsangabe: ›Interview eines Engländers mit dem Kaiser‹, – doch nicht über das Klima an der englischen Südküste; und dieses Schriftstück will er › ungelesen‹ an eine Stelle des Auswärtigen Amtes ›zur Prüfung‹ weitergegeben haben. Zur Prüfung wessen? Doch nur der Richtigkeit der Übersetzung, denn für jede nachgeordnete Stelle des Auswärtigen Amtes stand ja fest, der Kaiser wünsche die Veröffentlichung. Wie konnte der Geheimrat, an den die Sache schließlich kam, irgendetwas andres tun, als den Wortlaut der Übersetzung prüfen? Vom Abdruck abraten? Eines Gesprächs, dessen Abdruck der Kaiser gewünscht, d. h. befohlen hatte? – Kein Redner im Reichstag hat diesen sonnenklaren Sachverhalt erkannt, nur Heine ihn berührt, aber ohne daraus die zwingenden Schlüsse zu ziehen. Der Kaiser, der den Sachverhalt kannte, hat die Schlüsse gezogen, schon bald; aber früher als im Sommer des folgenden Jahres konnte er nicht wagen, das schuldige Haupt wegzujagen. Bei genauer Prüfung erscheint Bülows Gewebe nicht einmal feingesponnen; im Auswärtigen Amt hat man schon im November 1908 gewußt, wer den Abdruck jenes Gesprächs des Kaisers zugelassen hatte.
(In einem Buche ›Kaiser und Kanzler im Sturmjahr 1908. Die Wahrheit nach den Urkunden‹ (Leipzig, Hesse und Becker, 1929) wird der Tatbestand auf Grund der Akten des Auswärtigen Amtes unwiderleglich dargestellt.)
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