Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als ich 1879 in Paris war, tagten die Kammern noch in Versailles. Mir dem Reichstagsbeamten wurde es leicht, einer Sitzung der Abgeordnetenkammer beizuwohnen. Die Sitzung selbst lockte mich nicht: Kammern sind überall so ziemlich dieselben, abgesehen von der Sprache sind die Reden überall so ziemlich dieselben; aber ich wollte Gambetta den Vorsitz führen sehen. Ich kann nicht sagen, daß ich etwas ganz Besondres zu sehen bekam. Er war schon damals recht beleibt, führte den Vorsitz formlos, fast und bewegte sich ohne die Würde, die ihm sein Amt gebot. Keinen Deutschen Präsidenten habe ich so nachlässig, räklig dortoben thronen und leiten sehen. Seine gelegentlichen Geschäftsordnungssätze sprach er gradezu loddrig dazwischen; seine Stimme hatte nichts Eindringliches. Er soll ein gewaltiger Redner gewesen sein, wenn der Anlaß dazu dawar; ich habe ihn nur sprechen, nicht reden hören. Manchmal unwillig, grollend, wenn er irgendeine Störung durch zu laute Gespräche zu rügen hatte: dann dachte ich mir, wie der wohl im Notfall donnern könne.
Also dies war der Mann, der Frankreichs bei Sedan zu Boden gesunkene Fahne mutig aufgerafft und den Krieg, der damals hätte zu Ende sein können, noch monatelang weiter geführt hatte. Warum? Hätte sich in Deutschland Einer wie er gefunden, wenn unsre Heere geschlagen, der König geflohen, Bismarcks Regierung gestürzt worden wären? Ein Bürgerlicher, oder wie man das in Deutschland benennt – der Welscher sagt: benennen muß –: ein Zivilist? Ich suchte unter den Männern des öffentlichen Lebens in Deutschland: wer würde bei solchem Zusammenbruch die Deutsche Fahne ergreifen und durch den Sturm tragen? Im November 1918, fast 40 Jahre später, habe ich mich meiner Gedanken vom August 1879 ganz deutlich erinnert.
Im Gespräch mit dem Leiter des Stenografenamts der Kammer zu Versailles erfuhr ich, wie Gambetta als Redner sei und wirke. Stenografen denken über Redner sehr streng, sie werden ja zu strengstem Urteil über Gehalt und Form, besonders über Form, erzogen. Sie, fast sie allein, kennen die wirkliche, unverbesserte, unverschönheitelte Ausdrucksform der berühmten Redner. Mein französischer Berufsfreund sagte mir, Gambettas Sprache, selbst in stürmischer Erregung, sei untadlig. Aber wir haben viele, die musterhaft sprechen. Wie steht es damit bei Ihren Rednern? – Ich sagte: leidlich; ich hätte etwas andres sagen können. Wie hießen unsre untadligen, unsre musterhaften Redner? Ich kannte nur Bennigsen; er ist auch nachmals der Einzige dieser Art geblieben. Wie sollten in dem Volke, das so wenige untadlige, musterhafte Schreiber hervorbringt, die vollendeten Redner erstehen?
Ich machte eine der Bemerkungen, wie ich sie in Deutschland über Gambetta immer wieder gehört hatte: Warum hat Gambetta nicht nach dem Sturze Napoleons dem Blutvergießen ein Ende gemacht? – der weitere Krieg war doch nutzlos. – Der wackere Franzose sagte ernst und schlicht: › Quand même, er hat Frankreichs Ehre gerettet.‹ – Ein paar Jahre darauf hörte ich von Colmar von der Goltz Ähnliches.
Weil Gambetta einst Frankreichs Ehre und damit Frankreichs Zukunft gerettet, haben ihm die Franzosen das stolze Denkmal in Paris aufgerichtet. Warum hat sich in Deutschland im November 1918 kein Gambetta gefunden? Gab es keinen Mann wie er? Und wenn es keinen gab, warum nicht? Und wenn einer lebte, warum trat er nicht hervor? Dadurch, daß keiner hervortrat, wurde bewiesen, daß es keinen gab, denn das bloße Vorhandensein macht's nicht. Von Walter Rathenau verlautete, er habe, als Deutschlands Zusammenbruch drohte, unser Gambetta sein wollen. Ich glaube das, aber er hat nur gewollt, nicht getan.
*