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Dies ist kein Anekdötchen, kein Scherz, kein Einzelfall, sondern ein Musterbeispiel. In ähnlicher Form ereignet es sich täglich hundertmal auf dem Erdenrund – in jedem öffentlichen und eignen Betriebe, im Eisenbahnverkehr, im Fahrstuhl, auf der Trittleiter am Fenster zum Gehängeanstecken, auf der Bockleiter am niedrigen Pflaumenbaum – nicht wahr, meine liebe arme Ännefrau? –, überall da wo den Menschen eine plötzliche Lebensgefahr umdroht, und wo umdroht sie ihn nicht? ›Man muß nicht gleich ans Schlimmste denken‹ ist die unheilvolle Phrasenquelle, aus der die allermeisten großen und kleinen Unglücksfälle über die Menschen hereinbrechen, die Massenunglücke, die Einzelunfälle, die Vernichtung im Großen und im Kleinen. Doch noch die kleinste bedeutet: ein beschädigtes, ein vernichtetes Menschenleben, ein zerstörtes Menschenglück. Hätte man doch lieber zur rechten Zeit, nur für eine Sekunde an das Schlimmste gedacht, so wäre das Schlimmste für eine Ewigkeit nicht eingetreten. So hat z. B. auf dem ›Titanic‹ der fahrtsichre Schiffsführer nicht ans Schlimmste, z. B. einen Eisberg, gedacht. Oder sollte er flüchtig dran gedacht haben, so hat er in der Freude an der schnellsten Reise der Weltgeschichte übers Weltmeer den Gedanken verscheucht mit dem andern: ›Man muß nicht gleich ans Schlimmste denken.‹
Im Dezember 1881 brannte das Wiener Ringtheater ab, mehre hundert Menschen starben den fürchterlichen Feuertod. Keiner von ihnen hatte beim Eintritt in das Theater ans Schlimmste gedacht, und keiner brauchte dran zu denken. Aber es hatte auch keiner von Denen dran gedacht, die verpflichtet waren, dran zu denken: weder der Theaterleiter noch der Oberpolizeier in Wien. Und doch war der Bau eines neuen Theaters eine Gelegenheit, die zum Denken ans Schlimmste: ans Verbrennen der Zuschauer, immerwährend hätte zwingen müssen. Übrigens, man täusche sich nicht: noch in dieser Stunde gibt es kein Theater auf Erden, das die dazu Verpflichteten zwingt, ans Schlimmste zu denken: nämlich daß urplötzlich ein Feuer ausbricht, worin die Menschen verbrennen. Sie verbrennen aus einem einzigen Grunde: weil sie drinnen statt draußen sind, drinnen bleiben müssen und nicht nach draußen gelangen können, weil sie vorher verbrennen. Aber wer wird denn im Theater gleich an das Schlimmste denken, nämlich an einen Theaterbrand?
Sagt Goethe nichts hierüber? Es wäre merkwürdig, wenn er nichts hierüber sagte; aber natürlich sagt er alles, was zu sagen ist:
›Wie ist denn wohl ein Theaterbau?‹
Ich weiß es wirklich sehr genau:
Man pfercht das Brennlichste zusammen,
Da steht's dann alsobald in Flammen!
Das furchtbare Unglück in Wien entsetzte die ganze Welt, sogar die Polizei. Jetzt erkannte sie, daß jedes Theater jeden Tag ebenso schnell an- und abbrennen könne wie das Wiener Ringtheater, und sie ordnete einige Schutzmaßregeln an, die wichtigste davon: Notauslässe und Nottüren. Das war nicht übel, und man durfte hoffen, daß bei einem neuen Theaterbrande immerhin einige Menschen mehr als ohne Nottüren gerettet werden würden, jedenfalls alle die, denen es gelänge, unerstickt, unzertreten, unverbrannt eine der wenigen Nottüren zu erreichen.
Im Dezember 1881 besuchte ich ein Berliner Theater; ich nenne es nicht, es besteht in seiner alten Gestalt nicht mehr, es kommt auf den Namen nichts an. Ich war sehr früh gekommen, das Haus war noch fast leer, aber der Herr Polizeileutnant vom Dienst und der ihm unterstellte Schutzmann, die über die Feuersicherheit jedes Theaters wachten, waren schon erschienen und saßen behaglich auf ihren Plätzen. Ich sah mich im Hause um, erinnerte mich des Schlimmsten, dachte an die Notauslässe und Nottüren, durch die ein Unglück wie das Wiener unmöglich gemacht werden sollte, und ein seltsames Verlangen ergriff mich, solche schicksalsvollen Einrichtungen einmal in aller Ruhe, ohne Todesgefahr, bewundernd zu betrachten, wohl gar auf ihre Zuverlässigkeit bescheidentlich zu prüfen.
Doch ich überlegte –: sie schon jetzt zu untersuchen, hätte keinen Zweck gehabt, denn noch bestand keine Gefahr. Ich wartete, bis der Saal nahezu voll war, wartete bis kurz vor dem Beginn der Vorstellung und begab mich dann zu den Nottüren rechts und links. Sie waren leicht zu finden: in großer Schrift prangte auf jeder: ›Nottür‹, alles war also in Ordnung. Nur eine Kleinigkeit war nicht in Ordnung: beide Türen waren festverschlossen! Ich war der Einzige, der auf den tollen Gedanken verfallen war, die Nottüren zu prüfen. Dem Polizeileutnant, der, wie man das nennt, die ›Verantwortung‹ für das Nichtverbrennen der Zuschauer hatte, auch der Schutzmann, der ein wenig an der ›Verantwortung‹ mitbeteiligt war, – beide saßen kunstfreudig und erwartungsvoll auf ihren guten Plätzen und harrten des Beginns eines wahrscheinlich sehr lustigen Stückes. Auch ›Hoffmanns Erzählungen‹ im Wiener Ringtheater waren ein ziemlich lustiges Stück. Keinem von beiden war der einzige Gedanke gekommen, um dessentwillen sie hier saßen: der an das Schlimmste; keinem war eingefallen: Ob die polizeiliche Vorschrift über die Nottüren wohl beachtet ist?
Ich rüttelte, nicht ganz sanft, an einer der Nottüren: sie tat ihre Pflicht und blieb verschlossen, da man sie verschlossen hatte. Doch da nahte sich ein Platzanweiser aus dem Saal und frug mich, ziemlich ungnädig, nach meinem Begehr. Ich zeigte ihm die Nottür, ich wies auf die Inschrift ›Nottür‹; ich sagte ihm: Diese Nottür ist verschlossen, – wenn's brennt, kommt niemand durch diese Tür, und die sich zu ihr gedrängt haben, werden bestimmt verbrennen. Da erwiderte mir der Mann die geflügelten, die klassischen, die mir durch bald 50 Jahre nachklingenden Worte: ›Man muß nicht gleich an das Schlimmste denken.‹ Und ging, aber mit gemächlichen Schritten, durch eine andre Tür, rief einen andern Theaterdiener, der suchte an verschiedenen Stellen nach dem Schlüssel und erschloß die Nottür zur Rechten. Als ich zu ihm sagte: Und die Tür links?, erwiderte er: Ist denn die auch zu? – dann ging er verdrießlich nach links, aber der Schlüssel paßte nicht. Er ging weg, kam nach einem Weilchen zurück, – es war vollbracht: auch die linke Nottür wurde aufgeschlossen, die Sicherheit der Theaterbesucher war über jeden Zweifel gewährleistet.
Meine Zeit erlaubte mir nicht, am nächsten Abend in jenes Theater zu gehen, um mich zu überzeugen, ob meine Einmischung in die Befugnisse und Pflichten der Theaterpolizei nachwirke. Wahrscheinlich wäre ich von den mit Recht empörten Theaterdienern unsanft hinausgeleitet worden.
Die Berliner Polizei hat – bis jetzt – beinah so viel Glück wie Verstand gehabt: in den letzten zwei Menschenaltern ist kein Theater während einer Vorstellung abgebrannt. Warum also gleich an das Schlimmste denken?
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