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Im Jahr 1904 entwarf ich von ihm folgendes Bild: – Auf der Rednerbühne des Reichstags steht ein schlanker Mann in den 60, höchstens von Mittelhöhe, mit ergrautem Haar, fein, ja zart ausgearbeiteten Zügen und lebhaftem Gebärdenspiel, das aus starker, echter Leidenschaft entspringt. Er hat schon 1½ Stunden ohne Unterbrechung gesprochen und kündigt den Zuhörern an, daß er nunmehr zu einem neuen Abschnitt seiner Ausführungen übergehen wolle. Er wird also vielleicht abermals eine Stunde zu reden haben; dennoch wird seine Ankündigung ohne unzufriedenes Murmeln aufgenommen; die ihm Stundenlang gezollte Aufmerksamkeit läßt nicht nach. Von den beiden links und rechts vom Präsidententhron sich bis zu den Seitenwänden hinziehenden Bänken des Bundesrats lauscht man dem kleinen Manne gespannt. Auf der Rechten, der dieser Redner nicht angehört, haben sich die Reihen mehr und mehr gefüllt, und viele Abgeordnete, auch solche aus dem hintern Zentrum und von der Rechten umstehen den Tisch des Hauses zu den Füßen der Rednerbühne, um den Redner, der sehr eindringlich und vernehmlich spricht, noch genauer zu hören.
Wer die Zuhörer in diesem Augenblick fragen dürfte: wen haltet ihr für den eindrucksvollsten, den anziehendsten Redner des Reichstags?, der würde unzweifelhaft die nahezu einstimmige Antwort erhalten: August Bebel. Man würde dieselbe Antwort bekommen, dürfte man den Reichstag abstimmen lassen an einem Tage, wo Bebel garnicht gesprochen hätte.
Selbstverständlich war zu Lebzeiten Bismarcks Einer dem größten Redner aus dem Reichstag, Bebeln, doch noch überlegen: Bismarck. Aber dessen Überlegenheit kam nicht von der größern rednerischen Gabe und Wirkung, sondern einfach aus der jedem fühlbaren geschichtlichen Ereignismacht. In Bismarck war ein so gewaltiges Stück vaterländischer Vergangenheit und Gegenwart sichtbar verkörpert, daß gegen ihn selbst Bebel an Bedeutung verlor.
Früher, als noch die Nationalliberalen mehr als die Hälfte aller Sitze im Reichstagssaale füllten, in jenen längst versunkenen Flitterwochen des Deutschen Reichs bis nach der Mitte der 70er Jahre, hat es einen Redner gegeben, neben dem Bebel eine bescheidene Rolle spielte: Rudolf von Bennigsen. Damals galt dieser widerspruchslos für den gewaltigsten Redner. Er war es, obgleich sein ganzes Wesen durchaus nicht auf Rednerei, überhaupt nicht auf äußerliche Wirkungen angelegt war.
August Bebel hatte schon dem Verfassung-gebenden Reichstag des Norddeutschen Bundes von 1867 angehört, mit 27 Jahren. Eine rednerische Entwicklung nach oben hat er nicht durchgemacht; ich erinnere mich noch sehr gut seiner Redeweise aus den ersten 70er Jahren: er sprach schon damals genau so wie heute, nur damals nicht mit dem Selbstbewußtsein wie jetzt: einst standen hinter ihm zwei, drei sozialdemokratische Mitglieder des Reichstags, heute 58 (1904!), und das spielt keine kleine Rolle für die rednerische Wirkung. Im Reichstag ist jeder Redner nicht nur ein Mann, der spricht, nicht nur er selbst, sondern ein Mundstück, ein Stimmführer. Windthorst an sich wäre nichts gewesen ohne den Schallboden, den seine hundert Mannen vom Zentrum bildeten. Jede rednerische Wirkung im öffentlichen Leben fordert solchen Schallboden; es hat nie einen wirksamen Redner gegeben, der alleinstehend, oder nur von einem geringen Häuflein seiner Getreuen gestützt, große Rednerwirkungen hervorgerufen hätte.
Bebels Lebensgeschichte, wie der Reichstagsalmanach sie andeutet, wird von diesen Angaben umzirkt: Besuchte die Volksschule zu Brauweiler bei Köln und zu Wetzlar, erlernte das Drechslerhandwerk und bereiste als Handwerksbursche Süddeutschland, die Schweiz und Österreich. – Und der Mann mit dieser Vorbildung und dieser Ausfüllung seiner Jünglings- und Jungmannsjahre durch Handwerksarbeit und Wanderburschenschaft ist heute unser erster Redner, nicht hinter Eugen Richter zurückstehend, dem studierten Manne mit dem größeren Wissen, nicht hinter dem belesenen und fast allseitig gebildeten Reichskanzler Bülow, der seine Belesenheit so geschickt auf den Markt zu tragen weiß.
Vom Inhalt der Bebelschen Reden brauche ich nicht zu sprechen, er ist bekannt. Jeder weiß, worüber und was er sprechen wird, und dennoch diese gespannte Aufmerksamkeit. Wodurch spannt er die Zuhörer, die an Reden jeder Art gewöhnt sind? Was er vorbringt, hat jeder schon unzählige Male gehört, schon von Bebel selbst. Die Art aber, wie Bebel längst Bekanntes vorbringt, sein unpapierner, gefühlter Satzbau, die scharfe Zuspitzung auf klare Schlußfolgerungen hin, die Schlagfertigkeit seiner Erwiderungen auf Zurufe, die gespannte, auf einen Punkt gezielte Redeform – die sind es, die ihn zum wirksamsten Redner dieser Zeitspanne stempeln. –
Und dürfen wir nicht stolz sein – so füge ich heute, nach 25 Jahren, hinzu – auf diesen lebendigen Beweis, wieweit es ein schlichter Deutscher Mann ›aus dem Volke‹ bringen kann ohne die sogenannte ›akademische Bildung‹? Woher hatte es Bebel? Heute darf ich sagen: Ebendaher, woher Mussolini der Maurergesell ›es hat‹. Bei Anzengruber, auch einem ohne die ›akademische Bildung‹, finde ich diese zwei hübschen Verse:
Ob's oaner hernimmt, wo d'r wöll,
Nur haben, haben muß er's holt.
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