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Eine Universitätsberühmtheit, von der nichts bleibt, gar nichts. Er soll ein ausgezeichneter Lehrer gewesen sein. So sagten seine sehr jungen Schüler. Die scharfblickenden unter ihnen, die reiferen, sagten das Gegenteil: Man lernt von ihm vielleicht den Buchstaben, doch den lernt man auch aus jedem Lehrbuch; man empfängt aber keinen Geist. Frank Thieß, einst Roethes Schüler, hat in seinem weithin bekannten offnen Brief an Roethe (in seinem ›Gesicht des Jahrhunderts‹) diesen gradezu als den Vertreter und Lehrer der ungeistigen, daher unfruchtbaren Wissenschaft bezeichnet und aus der Nähe geschildert. Roethe hätte ein halbes Jahr hindurch über das Hildebrandlied, über die paar Verse bis › fehta ti leop‹, vorgetragen, wäre nicht einmal mit der Worterklärung fertig geworden. Über den dichterischen Gehalt, die Bedeutung des Gedichts für die Geschichte der Deutschen Literatur hatte er nichts zu sagen gewußt. Frank Thiest spricht von und zu Roethe so:
›Was erreichten Sie damit [mit Roethes Vorlesungen über das Hildebrandlied und über Goethe]? Was gaben Sie den jungen Menschen, die Sie um Erkenntnis baten? Sie gaben eine ungeordnete, ziellose und unbrauchbare Fülle von Einzelheiten … Sie verloren sich in Einzelheiten und glaubten, daraus das Ganze und Wesentliche zu erkennen. Das ist Wagners Geist, aber nicht der Faustens. Es ist der Geist, der den schrecklichen falschen Dünkel auf das erzog, was ich weiß und mein Nachbar nicht weiß.‹
Roethes Wissenschaft von althochdeutscher und mittelhochdeutscher Sprache ist mit ihm hingegangen; geschrieben hat er nichts, denn er hatte der Welt nichts zu sagen, schalt aber auf jeden, der etwas zu sagen hatte und dies in einem Buch sagte. Nicht einmal in der Sondergeschichte der ›Germanistik‹ wird sein Name fortleben. Dabei ein Berufshochmut und ein Selbstdünkel! Indessen auch die werden bald vergessen sein.
Er soll fabelhaft viel von den ältesten Formen des Deutschen gewußt haben. Das wird stimmen; wovon er aber unwahrscheinlich wenig gewußt hat, das hat ihm Frank Thiest, gestützt auf die Proben in meinen ›Deutschen Sprachschöpfern‹, ebenfalls zugerufen: ›daß Ihre Spezialisierung Sie gerade zur gröblichen Unwissenheit in der Hauptsache [dem Neuhochdeutschen] führt.‹
In der Tat, was keiner gewagt hatte: gegen den hochberühmten, allgewaltigen Geheimen Regierungsrat, ständigen Sekretar (ar, nicht är) der Akademie, ordentlichen Professor für Deutsche Sprache und Literatur Gustav Roethe da aufzutreten, wo er dazu zwang, das hatte ich ›gewagt‹, wenn in solchem Fall von ›Wagen‹ geredet werden darf, wo es sich doch nur um einen Popanz handelte. Ich hatte unwiderleglich nachgewiesen, daß dieser Erz-, Ur- und Obergermanist mit dem mastlosen Dünkel grade in deutschsprachlichen Dingen, – daß der schülerhaft, unterschülerhaft unwissend war in der Sprache, in der er schrieb, vortrug, redete: im Neuhochdeutschen. Ich spreche hier von einem Ereignis, das für die Geschichte der Deutschen Sprache denkwürdig bleiben wird, – darum mit einiger Ausführlichkeit. Ein nicht gleichgültiges Stück Deutscher Geistgeschichte hängt daran.
Ein preußischer Unterrichtsminister hatte eine Reihe guter Verdeutschungen, die im amtlichen Sprachgebrauch an die Stelle schwammiger Fremdwörter treten sollten, längst getreten waren, der Akademie der Wissenschaften zur Begutachtung übergeben. Dies war verkehrt, denn die preußische Akademie der Wissenschaften ist keine Akademie für Deutsche Sprache; ihre Mitglieder wußten und wissen von Deutscher Sprache so viel oder so wenig wie hunderttausend gebildete Nichtakademiker, durften daher, wenn sie den richtigen wissenschaftlichen Geist und namentlich Takt besessen hätten, solche Aufgabe garnicht übernehmen. Aber saß nicht der große Germanist Roethe in der Akademie? War er nicht so viel wert wie eine ganze Akademie, etwa wie die französische, in der allerdings nur Schriftsteller mit mustergültigem Französisch sitzen? Der wird die Sache schon besorgen, und wir, die wir nichts davon verstehen, stellen uns vertrauensvoll hinter ihn, den Eckart der Deutschen Sprache.
Und so geschah's! Die Akademie der Wissenschaften mit all ihren Mitgliedern voll Unwissenschaft erstattete ›ihr Gutachten‹, d. h. das von Roethe, einzig von ihm, verfertigte, dem sie, selbstverständlich, beigetreten war, und der boshafte Minister übergab es der Öffentlichkeit. Es ertönte nur ein Urteil, in der Sprachwissenschaft, in der führenden Presse, in der Hochbildungswelt: Dieses Gutachten der Akademie der Wissenschaften ist ein Denkmal unerhörter Unwissenheit in den allbekannten Tatsachen der Deutschen Sprache und gereicht der Akademie zu unverzeihlicher, unvergeßlicher Unehre. Der Abfasser, der einzige, jenes Gutachtens, vielmehr Bösachtens, war Gustav Roethe. Es gab keine amtliche Urkunde dafür, aber jeder wußte: diese Akademie heißt Roethe, und alle Angriffe richteten sich einzig gegen Roethe. Er bekam fürchterliche Dinge zu lesen, auch von hervorragenden Universitätslehrern. Das geschah im Sommer 1918. Ich schwieg damals; erst ein Jahr darauf erschienen meine ›Deutschen Sprachschöpfer‹, in deren Einleitung ich Roethes Kenntnis des Neuhochdeutschen untersuchte. Ich wies nach, gestützt auf Zeugnisse des Wissens von Tertianern, daß Roethe dieses Wissen nicht besaß. Er hat in all seiner Hochfahrenheit nie gewagt, auf die zahllosen Züchtigungen, auch die von Hochschullehrern, ein Wort zu erwidern; es gab nichts zu erwidern. In Frankreich hätte ein Professor des Französischen nach solcher Abschlachtung vor aller Welt seinen Abschied nehmen müssen und sich verkrochen. Aber ein Professor des Französischen mit solcher Unwissenheit in seiner Muttersprache, die zugleich sein Lehrfach, ist in Frankreich undenkbar, unmöglich; in Deutschland, dem wahren Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, hat grobe Unfähigkeit in der Muttersprache noch nie einen Menschen geschändet, auch keinen Professor der Muttersprache.
Roethe war der blindwütige Feind des Deutschen Sprachvereins und seiner Bestrebungen für edle und reine Deutsche Sprache. Warum wohl? Aus sachlichen Gründen? Kaum; weit mehr aus Dünkel. So drollig es klingt: jener im Deutschen erbarmungswürdig unwissende Mann hielt sich, kraft seines Amtes als Obergermanist an der Berliner Universität, für berufen, in allen Fragen Deutscher Sprache vor allen Andern gehört zu werden. Der Vorstand eines Deutschen Sprachvereins hatte ihn unbedingt zu bitten, Mitglied zu werden und dann natürlich an die Spitze zu treten. Dies war nicht geschehen, man kannte sein schlechtes Deutsch und hatte ihn links liegen lassen. Dies war die Quelle seines Hasses gegen den Sprachverein, in dessen Vorstande die ausgezeichnetsten Hochschullehrer des Deutschen saßen.
Niemals hatte sich Roethe mit der Wissenschaft von den Fremdwörtern beschäftigt. Er ahnte garnicht, daß es eine gebe; er schüttelte alle seine Urteile darüber aus dem Ärmel. – Nichts wußte er von der vielhundertjährigen Geschichte der Sprachreinigung in Deutschland, von dem Schicksal der Verdeutschungen; aber er sprach und schrieb und hielt Reben darüber, als sei dies sein eigentliches Fach; sprach und schrieb darüber, selbst in seinem Gutachten für den Minister, wie ein bildungsloser Mensch außerhalb aller Wissenschaft. Die Deutsche Endung erei nannte er ›herunterziehend‹, um das ihm verhaßte Wort ›Bücherei‹ zu brandmarken, ohne nur einen Augenblick nachzudenken, wie viele ausgezeichnete Wörter auf erei es gebe: Malerei, Bildnerei, Bildhauerei, Reiterei, Schriftstellerei (Herder), Plauderei, Stickerei, Fischerei, Jägerei, Bäckerei, Brauerei, Gärtnerei, Weberei, Gießerei, Träumerei, Lagerei, Länderei, Sämerei und mindestens noch 50 andre.
Er wußte nicht, daß Bücherei durchaus nicht neu sei, daß es schon im 17. Jahrhundert vorkommt, daß es im 18. Jahrhundert von unsern besten Schriftstellern gebraucht worden war. Er besaß alle Hilfsmittel zur Feststellung dieser Tatsachen; in seinem verblendenden Dünkel schlug er keine nach, sondern schrieb drauflos, wie kein untergeordneter Zeitungsschreiber gewagt haben würde. Daß sogar in Kellers Grünem Heinrich eine Bücherei, sogar eine gräfliche, vorkommt, wußte er nicht, wollte er nicht wissen. Als ihm alle diese Beweise vorgehalten wurden, schwieg er, wie er stets zu der Aufdeckung seiner bloßstellenden Unwissenheit geschwiegen hatte. Niemals hat er die sittliche Pflicht des Wissenschafters erfüllt, einen vor der Öffentlichkeit begangenen Irrtum öffentlich zuzugeben.
Fast noch toller war sein ›Reinfall‹ mit der Verwerfung des Wortes ›völkisch‹. Es war an sich schon drollig genug, daß der sich stets als völkischer Berserker aufspielende Roethe grade das harmlose Wort ›völkisch‹ haßte, das ja auch von den nach seiner Meinung Unvölkischen bekämpft wurde. Nicht mehr drollig, sondern gradezu blöde war seine Begründung der Verwerflichkeit von ›völkisch‹, seine Bevorzugung des ›würdigeren, edleren‹ national. Anstatt zu erklären, wie das manche unwissenschaftliche Menschen getan –: ›ich finde ›völkisch‹ häßlich, übelklingend, seltsam‹, oder was sonst Unstichhaltiges angeführt wird, kam er, ohne einen Augenblick nachgedacht zu haben, ›wissenschaftlich‹: ›Bismarcks sicheres Sprachgefühl hätte ihm nie gestattet, das Schiboleth deutschtümelnder Kreise [dieser Esel, nicht wahr?], die nach Grundwort [?] und Endung [?] verunglückte Bildung ›völkisch‹ in den Mund zu nehmen, die den edelen [!] Begriff nationalen Wesens durch das entstellende [!] Suffixisch herunterzieht [!]‹ Dann folgt die Weisheit jenes Obergermanisten: ›Die Endung isch flößt Neubildungen gern [!] einen bösen Beigeschmack ein … Und solch ein mißratenes Wort soll der Ehrenname nationaler Regung werden?‹
Ein wissenschaftlich denkender Mensch, nun gar ein ordentlicher Professor fürs Deutsche, würde bei der Prüfung von ›völkisch‹, besonders des Bedeutungswertes der Endung isch im Deutschen, sich gefragt haben: Wie steht es denn sonst mit der Endung isch?, in was für Wörtern kommt sie vor? Für Roethe jedoch gab es nur den Dünkel: Solche Untersuchung brauche ich, der Geheime Regierungsrat und Sekretär der Akademie Roethe, nicht anzustellen; was mir in diesem Augenblick, bei oberflächlichstem Denken an das Wort, einfällt, das ist die wissenschaftliche Wahrheit, – wer wagt mir zu widersprechen? – Wer hat das je gewagt? Da einem Professor, der von seinem Pult im Hörsaal vorträgt, nie widersprochen wird, und da die Herren Professoren untereinander stets berufliche Schonung üben – clericus clericum non decimat –, so braucht der große Mann sich nicht mit Nachdenken, Nachschlagen, Nachprüfen anzustrengen, sondern schreibt, ledig aller Pflicht der wissenschaftlichen Verantwortung, seine Kinderei über den Sinn der Endung isch hin. Da jedoch war sein Maß voll: über ihn erging eine Schülerzüchtigung, wie er sie nie für möglich gehalten, und nicht etwa von einem Nichtzünftigen wie mir – die kam erst später –, sondern von seinen Gleichen, von Männern wie Behaghel. Indessen wie gesagt: in Deutschland hat das alles keine Bedeutung.
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Roethe ist tot, und wenn in meiner Gegenwart die Rede auf ihn kommt und ich sage, was ich für nötig halte, so höre ich manchmal: Aber der Mann ist ja tot! Ich erwidre dann: Der Tod ist keine Entschuldigung. Nein, für Roethe gibt es noch heute keine. Was hätte der Mann in seiner Stellung für die mißhandelte Deutsche Sprache wirken können, und wie hat er ihr geschadet! Er war über unendlich vieles gesetzt, und was hat er vollbracht? Alle seine Hörer, zehntausend im Lauf der Jahrzehnte, hat er gelehrt, sich über Reinheit der Muttersprache und über die uneigennützigsten Bestrebungen zur Sprachreinheit lustig zu machen; alle die Zehntausend, die nachmals Lehrer der Deutschen Jugend wurden. Was halfen bei denen die Mahnungen der Behörden, auf Sprachreinheit zu halten? Sie wußten besser, wie lächerlich es sei, sich um reine Deutsche Sprache zu bemühen, – Roethe hatte es ihnen gesagt. Ein Schädling des höchsten Heiligtums des Deutschen Volkes ist er gewesen, ein Schädling der Sprache, durch die allein wir in all der Erniedrigung, Zerrissenheit, Beraubung ein Volk geblieben sind und in alle Zukunft bleiben können. So engstirnig war jener dünkelhafte Mann, daß er die einfache Grundwahrheit zu erkennen unfähig war: Alles, was geeignet ist oder nur darauf hinstrebt, das tödlich bedrohte Deutsche Volkstum zu schützen, zu stärken, zu sichern, alles muß von jedem Deutschgesinnten liebreich gefördert werden. Statt dessen hat er jeden verhöhnt, besonders unter Ausschluß der Öffentlichkeit, vor den jungen Studenten, der sich um reine Deutsche Sprache bemühte. Fast jedes ausgezeichnete Deutsche Wort in dem Verzeichnis des Ministers, wodurch ein Fremdwort ersetzt werden sollte, hat er in seinem berüchtigten Gutachten bekrittelt, immer in der unwissenschaftlichsten Weise; jedes Fremdwort erschien ihm ›würdiger und edeler‹ als das Deutsche. Und mit alledem galt er bis an seinen Tod für eine Leuchte der Deutschen, vielmehr der ›germanistischen‹ Wissenschaft. Fürwahr, Deutschland ist ein sehr seltsames Land.
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