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Das Zeugnis der Reife

Reif sein ist alles. (König Lear 5, 2.)

Einmal im Leben erreicht der Mensch – in Deutschland – einen steilen Gipfel des Glücks: er wird ›reif‹, und die ›Reife‹ wird ihm amtlich bescheinigt. Mit diesem Papier in der Tasche darf er an die Pforte jeglicher Wissenschaft klopfen: sie wird ihm aufgetan. Ein Sesam!, ein Zauber, und nur ein Bogen Papier, der überschrieben ist: Zeugnis der Reife. Was für ein begnadeter Mensch, und nur ein Jüngling, fast noch Knabe, – seht ihn an, befragt ihn, welch ein Born des Wissens in so beneidenswert jungen Jahren!

Sehen wir ihn uns wirklich näher, recht nahe an! Wir verstehen uns mit ihm vortrefflich, denn wir alle, die wir auch einst in den Vorhallen der akademischen, im Allerheiligsten der humanistischen Bildung geweilt und unser eignes jetzt vergilbtes ›Zeugnis der Reife‹ aufbewahrt haben – meins ist bald 60 Jahre alt –, wir erinnern uns gar wohl, wie wir selber über unsre Reife und unser Wissen gedacht haben. Der ›Mulus‹ ist garnicht stolz; er weiß, wenn er ein denkender und gegen sich ehrlicher Junge ist, daß all sein Wissen wüster Gedächtniskram ist, in den letzten Wochen aus bebender Angst mit besonderm Eifer eingepaukte Namen, Büchertitel, Jahreszahlen, Schlachten, Formeln, Sprachregeln. Es fällt ihm nicht ein, dieses eingepaukte Wissen für einen Besitz fruchtbarer, bleibender Bildung zu halten. Im Gegenteil, er nimmt sich fest vor, diesen schauderhaften Wust reinäußerlichen Papageienplapperkrams so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis hinauszuschwemmen, und das gelingt ihm mit beglückender Schnelle, denn es war ja nur für die Gedächtnisfolter, die Abiturientenexamen heißt, ›auswendig‹ gelernt. Ins Inwendige war nichts gedrungen, denn das Allermeiste ging den jungen Menschen überhaupt nichts an, und das Winzigwenige, was des Aufbewahrens wert gewesen wäre, wurde durch die Spreu des Nichtigen erstickt.

Der Jüngling mit dem Zeugnis der Reife ist in Wahrheit ein ungebildeter junger Kaffer. Keiner von euch lieben Kerlen braucht sich beleidigt zu fühlen. Ich denke nicht dran, euch kränken zu wollen; ihr erkennt schon im ersten Halbjahr nach erlangter ›Reife‹, wie es mit eurer Bildung gestanden, zum größten Teil noch steht; aber ihr holt ja in 2-3 Jahren nach, was die Schule an euch versäumt hat.

Um euch ungebildet nennen zu dürfen, muß ich euch sagen, was ich unter Bildung begreife. Daß sie nicht darin besteht, zu wissen, in welchen Sprachformen andre Völker sich ausdrücken, braucht euch niemand zu sagen, das habt ihr euch Jahre hindurch selber gesagt. Daß Mathematik nicht Bildung ist, wißt ihr; was euer Mathematiklehrer darüber denkt, kommt nicht in Betracht –: für ihn, aber nur für ihn, ist Mathematik Bildung, seine Bildung. – Geschichtliche Jahreszahlen? Wir reden garnicht darüber. Tiefere Einsicht in die geschichtlichen Vorgänge? Vielleicht hättet ihr von einem guten Lehrer – es gibt solche – etwas gewinnen können; aber der erdrückende Braß des bloßen Gedächtniswissens ließ dergleichen nicht aufkommen.

Wenn Bildung ist: die fruchtbare Kenntnis der Hochleistungen des menschlichen Geistes und die vollkommne Herrschaft über das Mittel dazu: die Muttersprache, so frage ich euch: was hat euch ›Reifen‹ eure Schule von dieser Bildung gegeben? Daß Bildung das ist, was ich denkbar knapp als solche bezeichnet habe, wird schwerlich bestritten werden; einer zutreffenderen Erklärung bin ich in meinem langen Leben nicht begegnet. Ich stelle um und sage noch kürzer: Muttersprache und Weltliteratur. Wer an diesen beiden Bildungsquellen bis zur Sättigung getrunken hat, der ist gebildet. Schon wer nicht die höchsten Meisterwerke der Dichtung kennt, ist ungebildet; wer nicht einmal die Muttersprache untadlig beherrscht, ist ein Kaffer.

War es denn aber möglich, daß die Schule den jungen Menschen bis zu ihrem 18. oder 19. Geburtstag das vermittelte, was du Bildung nennst: Muttersprache und Weltliteratur – neben den Fächern, die doch auch notwendig sind: Geschichte, Erd- und Naturkunde? Unzweifelhaft! Daß ein Jüngling – oder ein Mädchen – die höhere Schule mit dem Zeugnis der Reife verläßt, ohne die Deutsche Sprache vollkommen zu beherrschen, ist eine Volksschande. In England, Frankreich, Italien, Amerika leistet die Schule in dieser Hinsicht alles, was von ihr verlangt werden kann; in Deutschland sind die Inhaber des Zeugnisses der Reife klägliche Stümper in ihrer Muttersprache. Mit 18 Jahren muß ein junger Mensch sich gewandt, in gutem Stil, in fehlerlosen Formen ausdrücken können; das kann der Deutsche Reifeschüler nicht. Ein Unterrichtswesen, unter dem dieser Zustand herrscht, ist schlecht, ganz schlecht; die Selbstgefälligkeit der obersten Schulbehörde und der Phrasendrusch der ›Richtlinien‹ ändern hieran nichts.

Meine eignen Lebenserinnerungen, meine wohl hundertfachen Erfahrungen mit den jungen Schreibern im Reichstag, die frisch vom Gymnasium gekommen waren, haben mir die unerschütterliche Überzeugung verschafft: das Zeugnis der Reife wird Jünglingen erteilt, die in ihrer Muttersprache wissenschaftlich und ausübend bedauernswerte Stümper sind.

Und was weiß der Besitzer des Zeugnisses der Reife von den Meisterwerken der Weltliteratur? Am meisten immerhin noch der Schüler des Gymnasiums, denn er lernt Homer und vier Dramen von Sophokles kennen. Diese Dichter sind ihm zwar dadurch verekelt, daß sie vorzugsweise als Mittel zum Einprägen der griechischen Sprachlehre mißbraucht wurden, aber ihres Geistes hat er doch einen Hauch verspürt. Die drei andern Dramen von Sophokles und alle sieben von Aeschylos lernt er überhaupt nicht kennen, und von Aristophanes weiß er vielleicht – den Namen.

Ich gehe die Weltliteratur weiter nicht durch; jeder Leser weiß selbst, daß er zur Zeit seiner ›Reife‹ so gut wie nichts von der ganzen Dichtung der christlichen Völker gewußt hat.

Wie es mit der Kenntnis der Deutschen Literatur bei unsern für reif erklärten Schülern steht, das braucht keinem gesagt zu werden. Hier handelt es sich nur um den Zustand selbst, und von ihm ist zu sagen: die Deutsche Bildungswelt geht darüber mit beklagenswerter Gleichgültigkeit hinweg. Sie nimmt an, es muß wohl so sein, – und in der Tat: so lange der jetzige Lehrplan herrscht, ist eine Besserung kaum möglich. Für mich kommt es nur darauf an, ohne Verschleierung auszusprechen, was ist, nämlich: das Zeugnis der Reife wird jungen Menschen ausgestellt, die sich im Zustande tiefer Unbildung befinden, in Deutschland in einem Zustande viel tieferer Unbildung als in andern Ländern. In allen großen Bildungsländern außer in Deutschland besitzen die Abgangsschüler wenigstens die wertvolle Bildung, die in der Beherrschung der Muttersprache und in der ausreichenden Kenntnis der vaterländischen Literatur besteht.

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