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Sie war sehr groß, und wir Alte von heute bekamen reichen Anschauungsunterricht darin. Sie war nicht schwer zu erlernen: alle Regierungsbehörden, vom Landrat als dem ruhenden Punkt in der Erscheinungen Flucht nach unten und nach oben ausstrahlend, kannten und übten die Kunst; und sie war, wie gesagt, leicht: sie hieß Verbieten, Unterdrücken, Verfolgen. Nicht jeder gehörte zu den Unterdrückten und Verfolgten, das waren nur Ausnahmemenschen, allerdings bis in die Millionen; zu denen, für die es sinnlose Verbote gab, gehörte jeder, denn alle Deutsche waren vor den Verbotstafeln gleich.
Die geschichtlich bekannteste, folgenschwerste, unvergeßlichste Tat der Regierungsweisheit in guter alter Zeit war das Sozialistengesetz, in Kraft getreten am 21. Oktober 1878, in sich erloschen im März 1890. Darüber brauche ich an dieser Stelle nichts zu sagen. Ich habe die Geburt jenes Gesetzes, des unheilvollsten in der ganzen neudeutschen Geschichte, erlebt und habe die verderbliche Wirkung gleich vielen Andern vorausgesehen. Bismarcks Weisheit für inneres Staatswesen sprach sich dahin aus: durch das Gesetz sollte die Sozialdemokratie unterdrückt, ihr Wachstum verhindert, ihre Gefahr beschworen werden. Beim Erlaß des Bismarckschen Sozialistengesetzes vertrat die zu unterdrückende Partei eine halbe Million Wahlstimmen zum Reichstag; beim Erlöschen waren es anderthalb Millionen.
Nun aber zwei scheinbar winzige Proben der Regierungsweisheit der guten alten Zeit, von denen die Weltgeschichte nichts weiß; aber ich glaube, aus solchen Geschichtchen, wenn sie wahr sind, ist ebenso viel zu lernen wie aus den Haupt- und Staatsaktionen. Für ihre aktenmäßige Wahrheit verbürge ich mich. In der einen Geschichte bin ich der Held, für die andre der gewissenhafte Berichter. Ich erzähle beide ohne Zusätze, sie bedürfen keiner Zusätze.
1. – › Radler, absteigen!‹
Um die Wende vom alten zum neuen Jahrhundert radelte ich, der bald Fünfzigjährige, gern und oft. Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß das Radeln meiner Gedankentätigkeit merkwürdig förderlich war. Den Einen gibt es Gott im Schlaf, mir gab er's beim Radeln. Drum: wollte ich mir etwas Gescheites einfallen lassen, etwa für die Arbeit an meiner Deutschen Literaturgeschichte, so setzte ich mich aufs Rad, fuhr in den Grunewald, der damals noch an einen Wald erinnerte, und manchmal brachte ich den gewünschten Einfall von solcher Fahrt nach Hause. War das nicht ein löbliches Beginnen, und mußte ein weise regierter Staat dergleichen nicht fördern? Ich verlangte aber vom Staat gar keine Förderung; nur hindern sollte er mich nicht, – das aber tat er, nämlich so.
An der jedem lustwandelnden oder radelnden Berliner bekannten Landstraße, die über Halensee nach Hundekehle führt, stand eines Tages kurz hinter dem Wirtshaus Grunewald an einem Pfahl eine neue Verbotstafel mehr zu den hundert andern: ›Radler absteigen!‹ Warum sollte der Radler an dieser Stelle, von wo der etwas ansteigende Weg nach Hundekehle führt, absteigen und das Rad eine Viertelstunde lang bergauf schieben? Zu seinem eignen Schutz? Unsinn! – Zu welcher Andrer Schutz? Es gab keine Andern, nur in langen Zwischenräumen einen Fußgänger; die Radler überwogen bei weitem. Also mußten wir Radler absteigen, denn wir waren gesetzliebende und verbotachtende Menschen. Wir stiegen ab, und die meisten schimpften über den Unsinn, über das völlig grundlose Verbot eines verkehrlosen, gefahrlosen Radkerweges, vielmehr der allgemein freistehenden öffentlichen Landstraße. Jeder durfte auf ihr gehen und reiten und fahren, nur ›Radler absteigen!‹ Die sinnlose Verbietewut, die aufreizende Freiheitsbeschränkung, die einem in der guten alten Zeit überall entgegentrat, war um ein empörendes Beispiel bereichert.
Es hatte sich ein Häuflein von Radlern vor dem Geßler-Pfahl angesammelt; jeder machte staatsfeindliche Bemerkungen, jeder schimpfte ein bißchen. Ich sagte: Man sollte sich beschweren. – Ach, das ist ja doch zwecklos, Beschwerden nützen nichts. – Das war im allgemeinen richtig, Beschwerden nützten in der alten guten Zeit nichts; der Beamte, über den man sich beschwerte, bekam unfehlbar Recht, der Beschwerdeführer wurde kaltschnäuzig mit unzutreffenden Gründen abgewiesen. Es gab Ausnahmen, aber nur für die Halsstarrigen, die den Kampf ums Recht bis zum Äußersten führten. Wie viele aber taten das? Man war ja aus guten Gründen überzeugt: Es nützt doch nichts.
Ich schimpfte nicht, sondern nach Hause zurückgekehrt setzte ich mich hin und schrieb, in 5 Minuten, eine Beschwerde an den Landrat über das völlig grund- und zwecklose Verbot des Amtsvorstehers, denn von diesem rührte es her. Ich sagte in meiner Beschwerde: Man könne vielleicht an Sonn- und Festtagen aus Rücksicht auf die dann zahlreichen Spaziergänger den Radlern zur Pflicht machen, abzusteigen; für die Wochentage aber liege nicht der geringste Grund vor, die Radler zu belästigen, denn an Wochentagen gebe es keine 10 Fußgänger in der Stunde, was ich durch dutzendfache Beobachtung festgestellt hätte.
Schon nach 14 Tagen – in kürzerer Zeit ließ sich eine so verwickelte Sache nicht bewältigen – kam der Bescheid des Landrats: ›Auf Ihr Gesuch vom … gereiche Ihnen zur Antwort, daß demselben nicht stattgegeben werden kann.‹ Punktum, aus! Grund? Man ist eine preußische Regierungsbehörde, braucht also dem Untertan keinen Grund anzugeben. › Sit pro ratione voluntas.‹
Ich wollte aber einen Grund hören, setzte mich abermals hin und schrieb, in 5 Minuten, eine Beschwerde an die Regierung zu Potsdam über den merkwürdigen Landrat, der ohne Angabe eines vernünftigen, ja selbst eines unvernünftigen Grundes eine sehr vernünftige Beschwerde rundweg abgewiesen hatte.
Diesmal dauerte es 3 Wochen, bis die Antwort kam: ›Auf Ihre Beschwerde vom … über den Bescheid des königlichen Landrats vom … gereiche Ihnen zum Bescheide, daß Ihrer Beschwerde keine Folge gegeben werden kann.‹ Für den Regierungspräsidenten: unleserlicher Namenszug. – Grund? Einen Grund anzugeben, sind wir durch kein Gesetz verpflichtet, wir sind eine sehr hohe preußische Behörde.
Abermals setzte ich mich hin und schrieb, diesmal wird es eine Viertelstunde gedauert haben, eine Beschwerde über die Königliche Regierung zu Potsdam an den Königlichen Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg zu Potsdam. Darin sprach ich aus: ein ablehnender Bescheid ohne Grund auf eine wohlbegründete Beschwerde sei eine Beleidigung des Beschwerdeführers; ich hätte das Recht, zu verlangen, daß der Herr Oberpräsident jetzt endlich das anordne, was schon der Landrat und der Regierungspräsident hätten anordnen müssen: den Tatbestand prüfen zu lassen, daß an Wochentagen an jener gesperrten Stelle so gut wie kein Fußgängerverkehr bestehe, daß daher ein Verbot für Radler rechtswidrig sei. Dann aber gab ich dem Herrn Oberpräsidenten zu bedenken: welche Staatsgesinnung müsse bei den Tausenden von radelnden Bürgern durch ein solches sinnloses Verbot erzeugt werden! – ob bei einem solchen Verfahren die Achtung vor den Staatsbehörden nicht schweren Schaden leide? – ob überhaupt in einer so einfachen, klar zutage liegenden Sache es zu dulden sei, daß man drei Staatsbehörden angehen müsse, um ein sinnloses Verbot zu beseitigen? Ich war sehr ehrerbietig geblieben, aber sehr deutlich geworden.
Und da geschah ›das Wunderbare‹: als ich nach etwa einer Woche des selbigen Weges geradelt kam und grade an der Geschnauztafel absteigen wollte, – siehe da prangte das hochaufragende Verbotsbrett in schneeiger Weiße, das Geschnauz war übertüncht, die Straße war also freigegeben, zunächst auch für die Sonntage, es herrschte also Gesetz- und Verbotlosigkeit. Und abermals nach einer Woche stand auf derselben Tafel zu lesen: Radler, an Sonn- und Festtagen absteigen!
Es war erreicht! Ein preußischer Untertan hatte gegen 3 Staatsbehörden, die ihm sein Recht verweigert hatten, von der 4ten Recht bekommen. Aber um dieses hehre Ziel zu erreichen, hatte er hinauf bis zum Oberpräsidenten einer Provinz gehen müssen. – Ein paar Tage später bekam ich aus Potsdam den Bescheid des Oberpräsidenten: ›Auf Ihre Beschwerde vom … über … betreffend … gereiche Ihnen zur Antwort, daß auf Grund einer nochmaligen Prüfung der Sachlage – [sie war vorher niemals geprüft worden] – eine Abänderung der bisher geltenden Bestimmung diesseits angeordnet worden ist.‹
Lächerlich, nicht wahr? Meine Bekannten, denen ich die große Sache erzählte und mit Urkunden belegte, lachten sehr. Ich habe sie nie lächerlich gefunden, sondern verflucht ernst.
2. Versammelung
Ein Mann, der einst hoch stand, hat diese Geschichte aus eignem amtlichem Erleben berichtet, ein paar Leser werden sie kennen, die allermeisten nicht; von hier aus soll sie bekannter werden, denn sie verdient es. Die ›Versammelung‹ muß ein Schlagwort werden, sie muß sich den Büchmann erobern.
Reichstagsneuwahlen sind ausgeschrieben. In einem ländlichen Wahlbezirk in der Mark richtet ein Sozialdemokrat an den nächsten Amtsvorsteher die gesetzlich vorgeschriebene schriftliche Anzeige, er werde an dem und dem Tage eine Wahlversammlung da und da veranstalten. Nach dem Gesetz durfte der Amtsvorsteher nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit die Genehmigung zu der Wahlversammlung verweigern. Solche zwingende Gründe lagen nicht vor, wurden auch nicht geltendgemacht; dennoch verweigerte der Amtsvorsteher die Genehmigung und zwar so: ›Auf Ihre Anzeige … teile ich Ihnen mit, daß ich derselben nicht entsprechen kann, weil dieselbe unverständlich ist.‹
Der Anzeigende, ein Maurer mit einer schweren Hand, hatte das s in ›Wahlversammlung‹ beim Weiterschreiben zum a mit einem Häkchen in der Mitte versehen, also daß man, wenn man ein böswilliger Gesetzverächter war, aber nur dann, Versammelung – nicht lesen, aber so zu lesen frech behaupten konnte, und dies hatte der Amtsvorsteher getan.
An solche kleine Nichtswürdigkeiten von Amtsvorstehern bei Wahlen war man gewöhnt; nicht gewöhnt war man an das, was weiter geschah; darum nicht gewöhnt, weil man sie sich meist hatte gefallen lassen, nichts dagegen unternommen hatte. Der Maurer aber, eingedenk des Turmbaus mit vielen Stockwerken, der preußische Staatsverwaltung heißt, ließ sich die Verweigerung nicht gefallen, sondern ›ging weiter‹, wie man das nennt: er beschwerte sich – wie ich es einst über einen radlerfeindlichen Amtsvorsteher getan – beim Landrat und forderte sein Recht. Er bekam es in der Form: ›Bei dem ablehnenden Bescheide vom … muß es sein Bewenden haben.‹ – Neue Beschwerde an den Regierungspräsidenten über den Landrat; abermals die Antwort: ›Ihrer Beschwerde kann nicht stattgegeben werden.‹ – Wiederum Beschwerde, diesmal an den Oberpräsidenten der Mark Brandenburg – – und nun erzählt der hohe Gewährsmann aus genauer Kenntnis: ›Schon war die Feder eingetaucht, um abermals den Beschwerdeführer abzuweisen, als einer der Räte (vielleicht der Erzähler selbst) auf die Ungeheuerlichkeit eines solchen Beschlusses hinwies.‹
Natürlich hatten die Reichstagswahlen längst stattgefunden, die nunmehr genehmigte Wahlversammelung war zwecklos geworden.
Wahrscheinlich hat etwas später der Amtsvorsteher für seine ›Königstreue‹ das Allgemeine Ehrenzeichen, der Landrat für den Beweis seines geläuterten Staatsgedankens die Schleife zum Roten Adler bekommen; dies aber steht nicht urkundlich fest.
Welche Erziehung des Bürgers, besonders des sozialdemokratischen, zur Staatsgesinnung und Vaterlandsliebe in solcher Regierungsweisheit lag, ist einleuchtend. Wie aber steht es mit der strafrechtlichen Seite der Handlungsweise von Amtsvorsteher, Landrat, Regierungspräsidenten? Nach meinem Laienverstande, der zusammenfällt mit meinem Laienrechtsgefühl, haben jene Beamten Hochverrat begangen: widerrechtlichen gewaltsamen Eingriff in die Zusammensetzung des Reichstags, also Gewalttat gegen die Reichsverfassung, und hatten Zuchthaus verdient. Ich bin sicher, in England würden die Gerichte Zuchthaus verhängen. Aber in England sind solche Verbrechen undenkbar; in Deutschland waren sie in der guten alten Zeit etwas ganz Gewöhnliches. Wer dies bezweifelt, braucht nur einige Berichte der Wahlprüfungsausschüsse des preußischen Abgeordnetenhauses und des Reichstags zu lesen.
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