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Man hat mich für vielseitig erklärt; man weiß nicht, wie sehr ich es bin. Ich bin sogar Jahre hindurch Hühnerzüchter oder doch -Halter gewesen. Eigentlich meine Frau, die überhaupt alles kann; doch immerhin hatte auch ich etwas mit den Hühnern zu tun, z. B. Futter in der Notzeit heranschaffen. Es gelang mir, aber fragt mich nur nicht, wie. O, auf ehrliche Weise, die Literatur erwies sich dabei als doch zu etwas nütz: es gab Leser meiner Bücher, die mir halfen; doch es war schwer, in den Jahren von 1917 bis 1924 ehrlich zu bleiben.
Ohne die Hühner wäre es uns übel ergangen; woher sollten wir die zum Leben notwendigen Kalorien nehmen? Ohne die Kalorien unsrer Hühner und ihrer Eier hätte ich meine Bücher über die so allgemein unbeliebte Deutsche Sprache nicht schreiben können, – gesegnet seien die Kalorien!
Wir liebten unsre Hühner, die Hühner liebten uns, und dann – kam die Statistik. Sie trat ganz leise auf, sagte: Ich bin nur die Statistik, gehe gleich weiter, komme nicht wieder. Das war gelogen, und ich glaubte ihr nicht, denn: Es gibt drei Arten von Lügen: die eigentliche gemeine Lüge, die Notlüge und die Statistik. Ich glaubte ihr nicht, aber ich wollte nicht lügen, wenn es sich auch nur um den Staat handelte, der mich anlog. Nämlich: als im Frühherbst 1918, noch unter dem Kaisertum, die Statistik im Auftrag des königlichen Landrats bei mir anklopfte und frug: Wie viele Hühner hältst du? und log: ›Die Aufnahme des Geflügelbestandes erfolgt ausschließlich zu statistischen Zwecken‹, da glaubte ich ihr nicht, aber ich sagte mir: Selbst wenn sie lügt, selbst wenn sie meine Antwort an das Steueramt – so hieß es damals, noch nicht vornehm republikanisch: Finanzamt – oder sonst an eine Staatsanstalt weitergibt, was kann man mir daraus für einen Strick drehen, daß wir 34 Hühner haben? Also schrieb ich mit hühnerblinder Ehrlichkeit in die harmlose ausschließlich statistische Geflügelliste die richtige Zahl: 34. Ich sandte keine Berichtigung an den königlichen Landrat, als wir zwei Tage darnach unsre gute braune Ursel, die wir aus Wilmersdorf nach Bornim übersiedelt hatten, die Stammmutter unser Hühnerzwingers, aus bittrer Not um die nötigen Kalorien verspeisten. In der ehrlichen ausschließlichen Statistik lebte sie noch munter fort, und wenn sie nicht gestorben wäre –
Der Zusammenbruch kam über das Vaterland, ein neuer Landrat kam in unsern Kreis, und mit ihm kam das Ereignis: die Eierabgabe. Eines schönen Sommertages, ich denke im Juni 1919, erfloß ein Ukas des neuen Landrats an mich und alle Hühnerhalter des Kreises, auf einem doppelseitig bedruckten Großbogen, endlos zu lesen, mit A, B, C usw., mit a, b, c usw., mit Anführung von Kriegsverordnungszahlen, die einem garnichts sagten, mit einem Schwall von verwaltungssprachlichen, also unverständlichen Redensarten; aber der ungeheure Bafel gipfelte in dem nichtmißverständlichen Befehl: Sie haben jährlich 750 Eier abzuliefern, so viel in den Monaten, so viel in den andern, bei Strafe von … Einsprüche zu richten an die und die Behörde. Einsprüche heben die Eierabgabe und die Strafen nicht auf.
750 Eier! Unsre Kalorienquelle für 180-200 Hauptmahlzeiten, unser Schutz gegen Hunger, unsre einzige Lebensmittelquelle, aus der wir Hilfe für notleidende Verwandte, Freunde schöpfen konnten. Und die sollten wir abgeben! Die Empörung im ganzen Kreise, im ganzen Lande war allgemein. Man sagte sich, man besprach mit den Nachbarn: Abgeben an wen?, für wen? Vor allem: für wen? Das war's: für wen? Die schauderhaften Erfahrungen der letzten vier Jahre mit dem ›Für wen?‹ hatte jedes Vertrauen der ländlichen Bevölkerung in die Verwaltungsbehörden vernichtet. Man hatte das, wohl übertreibende, aber nicht grundlose, Gefühl: bei uns herrschen russische Zustände. Ich war nicht ganz frei von diesem Gefühl. Ich bemerke ausdrücklich: dieses Gefühl: Abgeben heißt Beraubtwerden, hatte lange vor dem Zusammenbruch geherrscht.
Daß jener Ukas unbefolgbar sei, sagte sich jeder. Die Einsprüche regneten über das Landratsamt herein; Menschen, die sich nie im Leben beschwert hatten, beschwerten sich. Der Landrat hatte sich's bequem gemacht: so viele ›Hühner‹, d. h. zweibeinige geflügelte Geschöpfe, so viele Eierleger, jedes statistisch verbuchte ›Huhn‹ legt jährlich unzählige Eier, davon sind 25 Stück abzugeben. Für wen? – die Hauptfrage – war nicht gesagt worden. Die Hühnerhalter beantworteten sich die Frage sehr einfach: Für die statistische Beamtenschaft.
Ich war nicht klüger als die Andern, ich dachte in ähnlichen Gedankenbahnen; aber auf die rettende Tat verfiel ich erst durch den guten Witz unsrer treuen Emma – nicht zu verwechseln mit ›unsrer treuen Emden‹ von 1914 und 1915 –, die den landrätlichen Ukas an das Drahtgitter unsers Zwingers heftete, nachdem sie mit großen Buchstaben darüber geschrieben: ›Zur Nachachtung!‹ – Der Spaß sprach sich herum und wurde in Bornim nachgeahmt. Wir hatten seit Jahren nicht so gelacht, wie an jenem Tage.
Dann aber setzte ich mich hin und schrieb an den Herrn Landrat in Nauen eine Postkarte etwa folgenden Inhalts – für den genauen Wortlaut hafte ich nicht, die Karte ist bei den Akten und wird kommenden Kulturhistoriographen als ›Material‹ dienen:
›Ihren Erlaß habe ich unserm Hühnerhofe vorgelesen. Derselbe – ich bediente mich des Amtsstils – derselbe hat sich seit der statistischen Aufnahme vom … wesentlich verkleinert, die Grundlagen Ihrer Berechnung stimmen nicht mehr. Gleichviel, die 11 erst 3 Monate alten Kücken erklären, sie können noch keine Eier legen, bitten also um Aufschub von 6 Monaten. Die 2 Hähne lehnen Ihre Forderung mit Entrüstung ab: das Eierlegen gehöre nicht zu ihrer Kompetenz. Die 14 Hennen lassen sagen, sie legen bei dem elenden Futter kaum einen Tag um den andern, während der Herr Landrat voraussetze, daß jedes Huhn täglich 2 Eier lege. Im ganzen sei etwa auf 300 Eier im Jahr zu rechnen, und diese seien nur für die gütigen Hühnerhalter bestimmt. Hochachtungsvoll …‹
Ein preußischer Landrat erledigt sonst Einsprüche in etwa vier Wochen; da hier Gefahr im Verzuge war, so bekam ich schon nach einer Woche den Bescheid: Die Zahl der abzugebenden Eier ist auf 150 Stück (statt 750!) ermäßigt worden.
Es wurde kein Ei abgegeben, vielmehr wurde nach wenigen Tagen für ganz Preußen der Ukas über die Eierabgabe aufgehoben.
Warum ich diese scheinbar lächerlich-läppische Begebenheit hier erzähle? Weil sie zwar lächerlich, aber durchaus nicht läppisch, nicht bedeutungslos ist. So seelenlos, so sinnlos, so papieren wurde all die Schreckensjahre hindurch grade auf dem Gebiet unsers Menschenlebens regiert, verordnet, verwaltet, das für das anbefohlene ›Durchhalten‹ das wichtigste war: dem der Ernährung. Unausführbare, gehässige Verordnungen, deren Unausführbarkeit jeder Denkende, aber nicht die Behörde, erkannte. Unfähigkeit, begreifbar, liebreich, brüderlich zu den Volksgenossen zu sprechen; Unfähigkeit, sich in ihre Seele zu versetzen; dünkelfreches Pochen auf die Macht, die jeder Schreiber zufällig in Händen hielt. Macht macht dumm: man hatte Menschenalter lang nur mittels der Macht regiert, nie mit der Freiheit und dem zustimmenden Willen eines längst zur Freiheit reifen Volkes, – jetzt ernteten die Regierenden, was sie mit der bloßen Macht gesät hatten.
Es hieß, die Eier seien für die Krankenhäuser bestimmt; kein Mensch glaubte daran. Hätte unser Dorf Bornim die Aufgabe bekommen, aber nur durch eine Aufforderung des Gemeindevorstehers, ein bestimmtes Potsdamer Krankenhaus mit Eiern zu versorgen, – freudig wären täglich 100 Eier dargebracht worden. Aber an das Landratsamt in der 25 Kilometer entfernten Kreisstadt? Es war zum ingrimmigen Lachen. Herrlich ›organisiert‹ war alles bei uns, unermeßlich hoch der Behördenturm mit seinen vielen Stockwerken, aber vor lauter Organisation bekamen die Kranken keine Eier. Erst als die staatliche Organisation ihre Ohnmacht einsah, ihren Eierukas aufhob, den freien Menschen die Erfüllung ihrer freien Menschenpflicht überließ, bekamen die Potsdamer Krankenhäuser aus Bornim Eier, mäßig bezahlte und umsonstige. Da legten unsre Hennen freudig ihre Eier und bekakelten sie mit Künstlerstolz, die heranwachsenden Kücken lernten von ihnen, und die Hähne wurden jeder zum Chantecler, die den Aufgang der Sonne regelten. Selbst alle Schreiber in den Landratsämtern bekamen Eier – gegen angemessene Bezahlung.
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