Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Er steht in diesem Buche aus einem Grunde, den ich für wissenschaftlich, für geschichtlich wichtig halte. Goethe, der über Art und Wert der Geschichtschreibung viel gedacht, gesprochen, hinterlassen, hat ihn so unübertrefflich scharf bezeichnet, daß ich lieber ihn anführe: ›Die Gedanken [der Vergangenheit] kommen wieder, die Überzeugungen pflanzen sich fort; die Zustände gehen unwiederbringlich vorüber.‹ Mit den Zuständen meinte Goethe alles das, was der Geschichtschreiber selbst erlebt haben muß, um wahrhaft zu urteilen. Es ist derselbe Gedanke, den Lessing ausgesprochen hat: ›Nur der verdient den Namen eines Geschichtsschreibers, der die Geschichte seiner eigenen Zeit geschrieben hat.‹ Noch kürzer hat Goethe seinen tiefgewurzelten Unglauben aller Geschichte gegenüber in den Vers gekleidet:
Die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Alle urkundliche Geschichte ist kaum halbe Geschichte –: die von Goethe geforderten Zustände, das lebendige Leben der Völker und ihrer Führer, das was wirklich war, steht nicht in den Urkunden, das weiß nur der Erleber, und selbstverständlich auch der nur so viel, wie ein Einzelner sehen, hören, äußerlich und innerlich erleben kann.
Über Wilhelm I. ist das allermeiste Urkundliche bekannt, das Bild des Menschen und des Fürsten steht fest. Was bleibt noch über ihn zu sagen? Ich denke, nur das, was die gelehrtesten Geschichteforscher aus den Urkunden nicht schöpfen können und aus der Tiefe des eignen Gemütes nicht schöpfen sollen: Wie hat über Wilhelm I. das Geschlecht wirklich gedacht, das unter dem König und dem Kaiser gelebt hat? Das wissen nur wir jetzt noch lebende Alte, das wißt ihr junge Geschichtschreiber bestimmt nicht.
Daß Wilhelm I. als Prinz von Preußen zur Zeit Friedrich Wilhelms 4. höchst unbeliebt gewesen war, wußten in den 70er und 80er Jahren doch nur die Alten, und selbst die hatten eingesehen, daß sie dem Prinzen Unrecht getan. Das schauderhafte Jahrzehnt von 1849 bis 1858 unter Friedrich Wilhelm 4., der sich dafür rächte, daß er 1848 gezittert, hatte das freigesinnte Bürgertum gelehrt, daß Prinz Wilhelm ein Mann war, der unter der Unmännlichkeit des Bruders schwer gelitten hatte. Des Regenten Wilhelm Erlaß an seine Minister (1858) hatte den besten Eindruck gemacht: ein liberaler Fürst hätte nicht viel anders sprechen können. Selbst in den Jahren des Verfassungsstreites (›Konfliktszeit‹), vor und unter Bismarck, wurde der König von den Liberalen zwar bekämpft, aber ihre Gefühle ihm gegenüber waren von ganz andrer Art als die gegen seinen Vorgänger: man war gegen die Pläne des Königs, deren Ziel man nicht kannte, aber man achtete den Mann und den Fürsten.
Mit dem Siege vor Düppel trat die Wende ein: das preußische Heer hatte die 1849 preisgegebene Deutsche Ehre gerettet, Schleswig-Holstein vom fremden Joche befreit, man witterte Morgenluft. Preußen trieb großdeutsche Politik, – man begriff, daß es auf dem Wege nur weiter schreiten könne gestützt auf ein starkes Heer. Man hatte, dank der klugen Voraussicht Bismarcks, das widerstrebende Österreich in den Krieg um eine Deutsche Ehren- und Besitzfrage hineingezwungen, man ahnte den hieraus entspringenden Zusammenstoß mit der die Deutsche Vormacht spielenden ›Donau-Monarchie‹. Der Streit um die Heeresvermehrung mußte beigelegt werden, denn man erkannte die Notwendigkeit, das preußische Heer auf die Höhe der neuen Großmacht Preußen zu bringen.
Im Düppel-Jahr wurde ich 13 und begann auf die Gespräche von Staatssachen um mich herum zu achten. Ich hörte fast nur liberale, fortschrittliche Männer reden. Nicht meine Lehrer, denn die sprachen nichts zu unsern Ohren; dennoch wußten wir und erfuhren es mit zunehmenden Jahren deutlicher, daß unsre Lehrer mehr oder weniger ›links‹ waren. Sie wählten unter dem preußischen Wahlrecht mit der öffentlichen Stimmabgabe garnicht, aber sie waren ›links‹, und sie wählten nicht, weil sie ›links‹ waren. Zum Norddeutschen Reichstag wählten sie, denn für den bestand das geheime Wahlrecht.
Nach der Schlacht bei Königgrätz war Wilhelm I. der Siegreiche, nach dem 18. Januar 1871 im Saale des Versailler Schlosses der Verehrte. Der ist er bis an seinen Tod geblieben, auch bei den Liberalen. Sie kannten die Grenzen seines Geistes, seines Weltbildes, seines Anteils an den gewaltigen Ereignissen des Zeitalters; wußten, daß nicht er, sondern Bismarck – neben dem Deutschen Volk und dem Deutschen Heer! – der Begründer des Reiches war; aber Wilhelm I. hatte, trotz manchen Widerständen, Reibungen, Alterszähigkeiten, das Größte nicht gehindert, hatte sich mit 74 Jahren in das Neue hineingefunden und sich höchst königlich bewährt.
Mit seinen Jahren stieg sein Ansehen, vertiefte sich die Achtung vor dem Fürsten und dem Menschen, die nicht bloß dem hohen Alter galt. Der alte Kaiser sagte nichts, tat nichts, was Anstoß erregte. Man tauschte keine spitzen Reden über ihn, den Witzblättern bot er keinen Stoff, er war dem Tagesgeschwätz entrückt. Von einer ›Liebe‹ für den alten Kaiser sollte man nicht sprechen, das gibt doch nur ungefühlte Redensarten. Man liebt keinen echten Fürsten; man ehrt, verehrt, bewundert ihn, wenn er es verdient, und aufrichtig verehrt hat man Wilhelm I. Selbst die Sozialdemokraten waren frei von feindseligen Gefühlen gegen den alten Mann. Sie wohnten der Reichstagssitzung, in der Bismarck seinen Nachruf sprach, nicht bei, aber sie begründeten ihr Fernbleiben mit einer Tatsache, die man gelten lassen mußte: noch bestand das sie ächtende Sozialistengesetz, das der Kaiser unterzeichnet hatte.
Das ehrerbietige Gefühl des Deutschen Volkes aller Stände, aller Geisteskreise, aller Parteien gegenüber Wilhelm dem Ersten war echt, – das bezeuge ich nach dem Umfang meines Erlebens. Von den öffentlich zur Schau getragenen Gesinnungen sehe ich hierbei ganz ab, obwohl auch sie echter, wärmer waren als unter seinem Enkel. Ich habe Abgeordnete, Stadtverordnete, Schriftsteller, Künstler, Bürgersleute der verschiedensten Richtungen vertraulich über den alten Kaiser sprechen hören, aber nie ein Wort vernommen, das nicht in einem freiheitlichen Staat, etwa in England, über den Fürsten hätte gedruckt werden können. Wir waren unter Wilhelm I. ein ehrliches, ein wahrhaftiges Volk. Erst nach seinem Hinscheiden begann die Lüge, die Heuchelei, das seelische Anfaulen.
Wilhelm den Großen hat keiner den schlichten alten Mann bei Lebzeiten genannt, keiner ihn so betrachtet. Die geschichtliche Bildung des einfachsten Mannes war groß genug, solche unwahrhaftige Protzerei zu verhüten. Als dann später, ich denke 1897, die Ernennung Wilhelm I. zum ›Großen‹ geschah, lehnte sich das Deutsche Volksbewußtsein so einmütig gegen jenen Eingriff in das Volksrecht auf, daß selbst die höchststehenden Streber nur bei amtlichen Gelegenheiten, die von Wilhelm 2. überwacht wurden, von Wilhelm dem Großen zu sprechen wagten.
Die Deutsche Bildungswelt empfand die Ernennung des toten Kaisers zum ›Großen‹ gradezu als Beleidigung seines Andenkens, als Verzerrung einer ehrwürdigen geschichtlichen Gestalt. Hohenlohe hieß der Kanzler, unter dem das geschah. War die Ernennung eine ›Regierungshandlung‹ des Kaisers? Man sollte es denken, denn was wäre sie sonst gewesen? Regierungshandlungen bedurften zu ihrer Rechtsgültigkeit der Gegenzeichnung des Kanzlers. Wilhelm 2. hatte den Fürsten Hohenlohe nicht befragt, dieser nichts gegen die Nichtbefragung eingewandt, also war alles in Ordnung.
*