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Ein langes Menschenalter hindurch hat er in Berlin an der Spitze der Kunstrichterschaft gestanden. Oder sollte ich sagen: der Kritik? Was ist würdiger, gehaltreicher, wohlklingender – Kunstrichter oder Kritiker? Über Geschmack ist wirklich nicht zu streiten; aber – es gibt Geschmäcker, die Prügel verdienen, so heißt es einmal bei Cervantes.
Nur die alten Berliner wissen noch von der Bedeutung der ehemaligen Nationalzeitung für das geistige, besonders das künstlerische Leben Deutschlands – wesentlich durch Karl Frenzel, den Leiter ihres schönwissenschaftlichen Unterstrichteils. Darin las man Frenzels Buch- und Theaterbesprechungen mit dem Gefühl: hier spricht ein tiefgebildeter, allseitig belesener, zuverlässiger Schöpfer eines wohlbegründeten Urteils. Ihm war vor allem die Gabe zueigen, ohne die ein Urteil über zeitgenössische Kunst unmöglich ist: Unempfindlichkeit gegen Tageslärm. Papierne Berühmtheit, das heißt Umlärmtheit, machte gar keinen Eindruck auf ihn. Er hat nicht in jedem Falle die ewige Wahrheit verkündet – wer vermöchte das? –; auch er hat, in seltenen Fällen, verkannt oder überschätzt, denn er war ein irrender Mensch; dann aber nur aus der uns allen eignen menschlichen Kurzsicht, nicht unter dem verwirrenden Einfluß einer lauten Tagesmeinung. Es hat eine Zeit gegeben, in den 90ern bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wo Frenzel, gleich mir, dem Jüngern, für eine rückständige, altersverkalkte Beschränktheit des Kunstrichtertums galt, weil er standhaft leugnete, daß Gerhart Hauptmann ein großer Dichter sei. Damals sah man Frenzels Ablehnung als den Beweis an, daß er doch eben engstirnig sei, wohl im Stande, das große Alte, nicht aber das große oder noch größere Neue zu würdigen. Frenzels Berufsgenossen in der Theaterberichterschaft wurden fast alle, manche freilich nur nachsprecherisch, zu Verkündern des Ruhmes dieses ›größten Dichters Deutschlands‹, überschlugen sich in dessen Verherrlichung, betrachteten jeden, der Hauptmann hohl und nichtig, gar außerhalb der großen Literatur fand, als stumpf und blind. Das war die Zeit, wo man das lächerlichste aller Hauptmannscher Stücke: ›Einsame Menschen‹, diese ›Tragödie‹ eines ernstgemeinten geistigen Hanswursts, groß, tief, umwälzend nannte. Die berühmtesten Berliner und auswärtigen ›Germanisten‹ sahen in dem Johannes Vockerath der ›Einsamen Menschen‹ so etwas wie den Faust am Ende des 19. Jahrhunderts. Karl Frenzel verharrte bei seinem Urteil, das Stück sei die lächerliche Darstellung eines ›Fatzke‹ – so sagte er vertraulich, schrieb aber etwas Glimpflicheres – durch einen Nichtdichter.
Einst, wohl vor mehr als 25 Jahren, trafen wir uns in einer Sitzung des Vereins der Berliner Presse. Mehr als ein Jahrzehnt hindurch hatten wir im Briefwechsel gestanden: er hatte in der Nationalzeitung allerlei Aufsätze von mir veröffentlicht, doch gesprochen hatten wir uns nie. Es war vor dem Erscheinen meiner Deutschen Literaturgeschichte, er wußte also nichts von meiner Stellung zu ›Deutschlands größtem Dichter‹. Zufällig kam unser Gespräch auf Hauptmann: Frenzel war erstaunt, gradezu beglückt, einen Urteilsgenossen in mir zu finden, ja einen noch entschiedneren Ablehner. Ich sagte ihm, wie ich in meiner Literaturgeschichte über Hauptmann urteilen würde: Er ist nur die von einigen ›Germanisten‹ verfertigte Zeitgröße; nicht eine Zeile, nicht ein Wort von ihm wird bleiben, denn schon jetzt vermag keiner seiner lautesten Lobpreiser eine Zeile, ein Wort von ihm anzuführen. Nur durch die Literaturgeschichten wird sich sein Name noch lange hinschleppen, weil die auch das Wertlose, wenn es einmal berühmt gewesen, behandeln müssen. Sehen Sie, sagte Frenzel, Sie sind jung – ich näherte mich meinen Fünfzigern –, da wissen Sie nicht, wie einem Alten – er war schon über 70 – zumute ist, wenn er alle Junge rühmen hört, wo er selbst nichts Rühmenswertes zu sehen vermag. Ich bin nicht unfehlbar, – sollte ich mich nicht doch irren? sollten die Jungen nicht Dinge sehen, die ich nur wegen meines Alters nicht sehe? Sollte Hauptmann nicht doch ein Riefe sein, den zu würdigen ich zu alt geworden bin? Da ist es mir eine unbeschreibliche Freude, einen Jüngeren zu sehen, der weiß, was groß und was klein ist, der nicht zum Klüngel gehört und der so urteilt wie ich. Sie haben mir mein Selbstbewußtsein gestärkt, wie seit Jahren nichts und niemand.
Wir schieden als geistige Freunde, haben noch manchen Brief getauscht, einander jedoch nicht wiedergesehen. Heute, wo ich so alt, oder älter, bin wie damals Frenzel, denke ich an jenes Gespräch zurück und sage mir: Ich habe es besser als jener fast Einsame: gestern war ein Junger bei mir, der zu den dichterischen und kunstwissenschaftlichen Hoffnungen Deutschlands zählt, und der sagte mir über die Abschnitte meines Buches ›Was bleibt?‹, die von Hauptmanns Wertlosigkeit handeln: ›Sie hätten sie ungeschrieben lassen können, denn wer hält heute noch Hauptmann für einen wert?‹