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Johannes Miquel (1828-1901)

Als ich ihn kennen lernte, 1871, stand er auf der Höhe seines Manneslebens, frisch, beweglich, geistreich, scharf und bestimmt in der Sprache, mit klangvoll zugespitzten Sätzen, starker Leidenschaft fähig, noch sehr liberal, aber schon sehr geneigt, sich Türen offen zu halten. Mittelgroß, feingeschnittenes Gesicht, durchdringender Blick, ›Geierblick‹ sagte man im 18. Jahrhundert, – hell und stählern klingender Vortrag. Man bekam von dem Redner Miquel den Eindruck eines unerschütterlich Überzeugten. Er grub seine Gedankengänge wie mit einem spitzen harten Stichel in eine harte Metallplatte, hob die Übergänge haarscharf heraus, zwang die Zuhörer, ihm zu lauschen, damit sie nichts von der Gliederung seines Beweises verlören.

Sein Ziel war, nicht bloß an der Spitze einer großen Partei zu stehen, sondern durch die Geltung, die ihm seine Partei verlieh, über sie hinauszuwachsen und emporzusteigen. Unter Bismarck, das wußte er, würde er nicht Minister werden: er war zu selbstbewußt, zu scharfgeschnitten für Bismarck. Er würde sich auch als Minister unter Bismarck nach Bedarf und Notwendigkeit umgewandelt haben, sodaß er in des Meisters Pläne hineingepaßt hätte. Bismarck hatte Miquels Männerstolz vor Königsthronen überschätzt. Der Führer der Nationalliberalen – er war das mehr als Bennigsen – wollte an die Macht, denn wozu sonst diente eine große Partei? Ein sehr verständiger Wille, der den andern Parteiführern abging, den z. B. Bennigsen nie besessen hatte. Parteiführer zu sein und bei jeder Gelegenheit eine führende Rede zu halten, galt allen ›Spitzen‹-Abgeordneten zu Bismarcks Zeiten für das Gipfelziel ihres Ehrgeizes; selbst an die Macht zu kommen, war ihnen ein unfaßbarer Gedanke. Auch Eugen Richter kannte keinen höheren Ehrgeiz. Parteigrundsätze hinderten Miquel nicht, oder er war geschickt genug, jedes Abweichen von den Parteigrundsätzen als den eigentlichen Sinn dieser Grundsätze nachzuweisen. Es gab nichts, was Miquel nicht hätte beweisen können.

Er war der Meister des ›logos‹ und des ›heteros logos‹ nach den Herzen der berühmten Sophisten im alten Athen: des Verteidigens des Wortes und des Gegensatzes. Nie hat es einen gewandteren Ballspieler mit politischen Beweisen gegeben als Johannes Miquel. Jede seiner großen Staatsreden war ein spannender, lange unentschiedener, zuletzt überraschender Ringkampf zwischen einem sehr starken, siegessichern Herrn Zwar und einem doch noch stärkeren und nach langem Ringen obsiegenden Herrn Aber. Zuerst erschien der Zwar als unüberwindlich, allein wahr, unbedingt überzeugend. Dann aber trat der Aber auf, anfangs schüchtern, bedenklich, mit der Zeit immer zuversichtlicher, angreifend, vordringend, bis gegen das Ende hin alle sonnenklare Wahrheit des Zwar verschwunden war und strahlend die Sonne des Aber am Himmel stand. Man kannte dieses Spiel Miquels zwar aus vieljähriger Erfahrung, folgte aber jedesmal aufs neue seinen überwältigend geschickt geschleuderten Beweisfangbällen mit gespannter Aufmerksamkeit. Er behielt zuletzt scheinbar immer Recht, überzeugt aber hatte er keinen.

Als der italienische Minister Crispi 1889 nach Berlin kam, veranstaltete der Reichstag für ihn ein Festmahl im Kaiserhof. Miquel übernahm die Aufgabe, ihn mit einer italienischen Ansprache zu begrüßen. Er entwarf geschickt den Deutschen Wortlaut und wurde von dem Präsidenten an mich gewiesen. Ich galt in solchen Fällen, wo es sich um Fremdsprachen handelte, als das Mädchen für alles: ich sollte die Übersetzung ins Italienische besorgen. Miquel war gescheit genug, mir zu glauben, daß mein schönstes Italienisch Herrn Crispi als sehr lächerliches Zeug erscheinen würde. Da ich einen hochgebildeten Italiener in Berlin zum Freunde hatte, so sagte ich zu, etwas Annehmbares zustande zu bringen. Als wir, Miquel und ich, den Trinkspruchentwurf vorher genau prüften, sagte ich ihm unverhohlen, daß viele von ihm für herrlich gehaltene Wendungen überhaupt nicht italienisch wiedergegeben werden könnten; sagte ihm aber nicht, warum: nämlich weil sie verblasene, nebelhafte Redensarten waren; sondern setzte ihm auseinander, daß die beste wörtliche Übersetzung Unverständlichkeiten enthalten müßte, – wörtlich ginge so etwas nicht. Ich verschwieg ihm meine feststehende Erfahrung: aus andern Sprachen läßt sich ins Deutsche alles übersetzen, aus dem Deutschen sehr vieles nicht; man übersetze doch mal Hegel, Lamprecht, Limmel, Gundolf ins Französische!

Miquel ließ mir freie Hand, und als ich ihm die ausgezeichnete – nicht Übersetzung, sondern freie Phantasie über seinen Entwurf aus der Feder eines klugen Italieners brachte, war er entzückt – er wußte etwas Italienisch –, fand mich aber wahrscheinlich sehr wenig klug, als ich ihm sagte, daß mein Anteil an dem Meisterwerk wesentlich darin bestanden habe, meinem Italiener begreiflich zu machen, was der große Deutsche Parteiführer sich ungefähr gedacht haben könne.

Miquel wurde unter Wilhelm 2. Finanzminister und für ein Jahrzehnt ein sehr mächtiger Mann. Man erzählte sich, der Kaiser habe sich für Miquel begeistert, weil dieser Mann des Zwar-Aber so ganz anders sei als die meisten Andern; diese sagten: Ja, – aber; Miquel hingegen: Ja, – also! Miquel hatte zur rechten Zeit erkannt, daß er mit seinem ewigen Zwar-Aber wohl ein großer Redner sein, aber – zumal unter Wilhelm dem ›Impulsiven‹ – nie ein Minister werden könne, und hatte sich für das Ja, – also! entschieden, weil der Kaiser erklärt hatte, er sei für das Ja, – also!

Er war viele Jahre hindurch mächtig, für die preußische Innenverwaltung fast allmächtig, und grade dieser Mann des angeblichen Ja, – also! entwickelte sich zu einem Staatsmann, von dem es hieß, er sei der Vater aller Hindernisse. Er stürzte, plötzlich wie jeder Minister unter Wilhelm 2., aus irgendeinem unbekannten Anlaß, bei dem er sich die kaiserliche Gunst verscherzt hatte, und wurde plötzlich ganz ohnmächtig. Nach einigen Jahren des Vergessenseins starb er. Wie sein Tod auf die Welt wirkte, in der er lange als Mächtiger gelebt hatte, das habe ich aufs deutlichste beobachtet. Es war bei einem der vielen Festmähler an Bord des herrlichen neuen Schnelldampfers des Norddeutschen Lloyds ›Kronprinz Wilhelm‹ der im Herbst 1901 eine Probefahrt von Bremerhaven nach Bergen und Edinburg machte. Da kam die Nachricht: Der ehemalige Minister Johannes von Miquel ist gestorben. Man hatte soeben Reden gehalten, gebechert, gelacht, – da kam die Nachricht: Miquel tot. Einer sagte es dem Andern, im Nu wußten es die 350 Gäste, darunter so ziemlich alle führende Männer Deutschlands, Dutzende von ehemaligen Amtsgenossen und vertrauten Freunden Miquels. Es trat keine Pause ein, keine Stille, der Lärm der Festtafel wurde nicht einen Augenblick gedämpft, unterbrochen. Als ich zehn Jahre später bei den Vorarbeiten zu meiner ›Deutschen Stilkunst‹ auf die Stelle bei Tacitus stieß: Britannicus ist bei einem kaiserlichen Festgelage soeben vergiftet umgesunken, die Leiche hinausgeschafft, – › ita post breve silentium repetita convivii laetitia‹ (so hebt nach kurzem Schweigen die Festfreude wieder an), da fiel mir der Augenblick ein, wo ich erlebt hatte, wie der Tod eines einst Mächtigen auf die Welt seiner Genossen und Freunde wirkte. Als ich am nächsten Morgen zu dem ehemaligen Minister von Bötticher über meine Wahrnehmung sprach, erwiderte er mir: ›Hätten Sie gesehen, welchen Eindruck die Nachricht auf mich gemacht, so würden Sie nicht uneingeschränkt verurteilen. Mich hat der Tod des merkwürdigen Mannes erschüttert, ich habe nicht mitgelärmt und nicht weiter gebechert. Ich hatte den Anhauch des Verwehens alles Irdischen gespürt.‹

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