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Am Weihnachtstage 1927 hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert Als ich das las, war ich erschüttert: ein Schriftsteller wie Alfred Kerr – dem ich 90 Jahre gesunden Menschenlebens wünsche – darf keinen 60. Geburtstag feiern, der muß, solange er schreibt, jung bleiben; oder er muß nach dem 60. Geburtstag ein andrer Schriftsteller werden, und das kann keiner, kann auch Kerr nicht, der sich, wenn er wollte, leicht eine neue Manier des Schreibens zulegen könnte. Doch dazu ist er zu geschmackvoll: ein Schriftsteller kann sich wohl eine Manier anschminken, mit einer zweiten würde er sich lächerlich machen. Nun ist ja Kerr schon mit seiner einen Manier ein wenig lächerlich, und er weiß das; die zweite, wenn sie ihm nach so langer Gewöhnung an die erste gelänge, würde ihn als einen Hampelmann erscheinen lassen, und der will er denn doch nicht sein.
Also Alfred Kerr ist ein Sechzigjähriger, – damit tritt man auf die Schwelle zum Greisenalter. Er ist unter den Theaterberichten die Lustige Person. Ich will das englische Wort, das sehr oft bei Shakespeare steht, nicht hersetzen, obwohl es an sich nichts Kränkendes hat. Aber das ist sicher: der Lustigmacher muß jung sein oder jung bleiben; wird er trotzdem mit der Zeit alt – auch ich war einmal jung, ganz jung –, so muß er aufhören, ein Lustigmacher zu sein; kann er nichts andres als Lustigmacher sein, so sollte er aufhören zu schreiben. Vielleicht muß Kerr, da er sich schwerlich bereichert hat, weiter schreiben; dann bedaure ich ihn von Herzen. Ja von Herzen, obgleich er das nicht glauben wird; denn ich habe ihn lieb, nicht weil er ein Lustigmacher war, sondern weil er ein Dichter ist. Doch hiervon später!
Ein alter Lustigmacher, wär's auch nur einer des Stils, ist eine grausige Erscheinung. Auf seine sachlichen Urteile über Theaterstücke lege ich keinen Wert: sie sind für den Entwicklungsgang unsers Dramas schon bei ihrem Erscheinen gleichgültig, sind ganz und gar Tagesware, werden mitsamt vielen von ihm getadelten und mit fast allen von ihm gerühmten Stücken, also vornehmlich denen Hauptmanns, spurlos versinken. Die nächste Nachwelt schon könnte feststellen – aber sie wird ganz andre Sorgen haben –, daß Hauptmann trotz Kerrs überschwänglichem Gerühme versunken ist, und sie wird erfahren, daß der Dichter, den Kerr am wüstesten beschimpft, den er ›Kotzebue‹ genannt hat, daß Hermann Sudermann gelesen, manches auch gespielt wird, wann der Name Kerr längst verklungen ist. Er selbst redet sich ein – er muß es sich einreden, das Leben und Schreiben wären sonst ›untragbar‹ –, sein Name könne nie verklingen. Bitte: wer, der nicht zu den gründlichen Literaturforschern gehört, weiß noch, wer der beherrschende Theaterberichter Saphir in Wien war und was er gegen Grillparzer verübt hat? Wer kennt den Namen Rellstab? Und war mehr als du!
Eine einzige ›Dramaturgie‹, also Sammlung von Theaterberichten, ist nicht versunken: Lessings Hamburgische. Dabei handelt sie fast nur von den seit anderthalb Jahrhunderten vergessenen, fast durchweg wertlosen Stücken, ja von Stümpereien. Aber Lessing entwickelt an jenen elenden Stücken die leitenden Grundgedanken über das Drama, und damit die Leser begreifen, was er vorträgt, bietet er ihnen, also uns, die Mittel des Begreifens: er sagt uns, was in den Stücken vorgeht und wer die Menschen sind. Kerrs angeblich fabelhaft ›interessante‹, sprühend geistreiche Berichte – nach seiner Behauptung: Kunstwerke, die allen zeitgenössischen Dramen, mit Ausnahme derer von Hauptmann, hochüberlegen sind – sie lehren keinen Leser von heute das geringste, sind für den Leser nach einem Jahr, nun gar nach Jahren, wertlose Spreu. Man versteht kaum einen seiner Witze mehr, denn man ist nicht ›im Bilde‹. Kerr will kein nützlicher Theaterberichter sein wie Andre, sondern ein Witz- und Stilmeister um die Stücke herum. Uns den Inhalt der von ihm umtänzelten und umwitzelten Stücke zu erzählen oder doch anzudeuten, ist Sache der Zeitungskulis, nicht die eines Stildichters, wie er einer ist, der Erste, der Einzige dieser Kunstgattung. Die vielen Bände seiner ›Dramaturgie‹, auf denen er das Denkmal seines Ruhmes begründet hat, aere perennius, sind heute verblüffend langweiliges Gelese: man versteht von 20 einst wahrscheinlich großartigen Witzen, von 50 einst gewiß sprühenden Geistreichigkeiten kaum einen und eine. Lessings Dramaturgie über wertlose Stücke wird leben, Kerrs Dramaturgie über meist lesbare und eindrucksvolle Stücke ist schon jetzt vermufft, unlesbar und hinterläßt nichts.
Aber die Form – Kerr sagt: die dichterische Form – seiner Berichte! Nennt man seine Form: Manier, so wird Kerr sehr böse und schreibt: ›Manier [er meint: die man mir vorwirft] ist der Defekt im Leser … Jeder Stil, dessen Melodie im Autor klingt, bevor die Übrigen an ihren Gang gewöhnt sind.‹
Kerr irrt sich: der Leser hat Kerrs ›Melodie‹ sogleich weg, er kennt sie auswendig, sie klingt ihm wie der ausgeorgeltste Dorfleierkasten; denn Kerr hat nur eine Walze, die spielt er über jedes Stück herunter. Jeder hat die ›Melodie‹ schon 50, schon 100mal gehört, – es ist eine Armseligkeit sondergleichen. Das kommt daher: der zur Gewohnheit gewordene Witz ist flaue Langeweile, der Ernst hat tausend Formen und wird nie langweilig, wenn der Träger des Ernstes darnach ist. Kerrs eine Walze hat nur wenige Stifte: wir kennen jeden, wir wissen: jetzt kommt der Stift mit der Klammer, dann der mit der Wiederholung desselben Halbsatzes, nun wird er stottern, usw. Nein, diese Manier hat nichts mit Kunst gemein; der Vergleich, der sich aufzwingt, ist der mit dem Veitstanz.
Hätte sich Alfred Kerr diese ebenso lächerliche wie kunstwidrige Manier nicht vor 20 oder 30 Jahren angeklebt, ich bin sicher, er könnte einen ausgezeichneten Stil schreiben, denn er ist ein sehr kenntnisreicher und sehr begabter Mann. Es war ein böses Verhängnis, daß Kerr sich einst diese schauderhafte Manier zurechtmachte, die er für einen Stil, seinen Stil hielt. Kerr hat keinen Stil, denn echter Stil ist Ausdruck eines Menschenwesens, und der Mensch Kerr hat nichts gemein mit seiner Manier; er denkt nicht in seiner Manier, er spricht nicht in ihr, sondern wie ein Mensch von dieser Welt. Nur mit der Feder in der Hand macht er seine Mätzchen, immer wieder dieselben 4-5, immer immer wieder, und die nennt der Unglückselige seinen Stil. Stil ist Natur, Kerrs Schreibweise ist Unnatur, – zwischen den beiden besteht ein gewisser Unterschied. Jeder Mensch hat einen Stil, den seinen, so wie jeder seine Stimme, seinen Schritt, seine Handschrift hat. Kein Mensch hat von Natur eine Manier, aber einige Menschen machen sich eine, und diese Manier hat dann nicht der Mensch, sondern die Manier hat ihn, – daß Gott sich sein erbarme!
Es läßt sich, ohne philologische Forschungen, feststellen, wie Alfred Kerr zu dem kam, was er seinen Stil nennt. Die Natur, die ewig wahre, bringt nichts Unnatürliches hervor, darum heißt sie doch Natur, nicht wahr? Das Unnatürliche überläßt sie dem Menschen, dem einzigen Geschöpf, das dies fertigbringt, und mancher Mensch hat eine staunenswerte Natur fürs Unnatürliche. Alfred Kerr wurde mit einem ebenso natürlichen menschlichen Stil geboren wie wir alle; dafür zeugen seine frühesten Arbeiten, bevor er dem Theater verfiel. Dann aber packte ihn die Krankheit, dieselbe, die den greulichsten Stilgecken des letzten Menschenalters, Harden, einst gepackt hatte; die Krankheit, die so viele überfällt und nie wieder losläßt. In dem fürchterlichen Gedränge der Schreiberwelt unsrer Zeit will sich jeder einen Platz erobern. Die Meisten versuchen es mit der Leistung, und einigen gelingt es, sich dadurch bemerkbar zu machen. Der wirklichen Leistung gelingt das immer, aber es dauert oft lange, daher das Sprichwort: Ehrlich währt's am längsten. Manchen geht es zu langsam, und sie helfen durch Mittelchen nach: sie zappeln wie in Krämpfen, sie schneiden Gesichter, sie wollen verblüffen und sie verblüffen wirklich. Man nennt das Manier, – sie selbst nennen es Stil. Kerr – wie einst Harden – wollte unter allen Umständen bemerkt werden, er wollte verblüffen, und es gelang ihm, wunderbar, fürchterlich.
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Es ist schade um Kerr. Soweit ich ihn menschlich kenne und von Menschen über ihn höre, ist er ein feiner, höflicher, liebenswürdiger Kerl. Sein Literaturwissen ist sehr umfassend, dabei gründlich, aus den Quellen. Er kann hinreißend witzig sein, hat sich manchen Modefakten gegenüber sein selbständiges Urteil bewahrt, so z. B. der erheuchelten Begeisterung für den ›Ödipus‹, den von Max Reinhardt im Zirkus. Aber er ist ein Enkel Wilhelm Scherers, d. h. der Schüler eines Schererschülers, und die Schererschule pflegt nur die ›exakte Literaturwissenschaft‹, verwirft die Wissenschaft des Werturteils. Sie überläßt diese Nebensache der Geschmackslaune des Einzelnen, kennt keine ewigen Maßstäbe, begeistert sich je nachdem auch für das Wertlose. Die außerhalb dieser Schule stehenden Freunde der Dichtkunst wollen sich nur mit dem Wertvollen, dem Bleibenden beschäftigen, streben daher nach einem sichern Werturteil, fragen: Was bleibt? und sind unerbittlich gegen das Wertlose, das Versinkende. So ist aus Kerr mit der Zeit der einzige Theaterberichter geworden, der mit Hauptmann durch Dick und Dünn – meist durch Dünn – geht. Als solcher wird er, hauptsächlich durch mich, in die zukünftige Literaturgeschichte eingehen, etwa so: ›Der unentwegte kritische Schildknappe des längst versunkenen Gerhart Hauptmann war ein gewisser Alfred Kerr, von dem der berüchtigte Satz über einen besonders wertlosen Schmarren jenes Stückeschreibers herrührt: »Das Stück hier ist nicht angefangen … Alles bleibt erst zu schaffen, zu ahnen [von wem?]. Und es ist doch nur ein Dichter ersten Ranges, der so etwas schreiben kann, auch wo er noch gar nicht angefangen hat, es zu schreiben.‹
Dieser Satz Kerrs wird das Einzige sein, was – vielleicht – noch nach 10, ja 20 Jahren von dem ›Dramaturgen‹ zeugt. Man wird ihn darnach für einen ganz urteilslosen Schreiber halten. Das war Kerr nicht, aber sein scharfer Verstand versagte in zwei Fällen: er geriet in Verzückung, sobald der Name Hauptmann über einer Nichtigkeit stand, und er geriet in Wut, so oft er von Sudermann sprach. Dies Letzte allerdings nicht aus sachlichen Gründen: Sudermann hatte ihn einst, 1902, in breiter Öffentlichkeit als einen der ›Verrohten‹ gezüchtigt, die roh über die Berliner Theater berichteten. Kerr ist ein wilder Hasser, aber sein Haß hat sich an ihm selber gerächt: er hat ihn urteilslos gemacht; und er ist ein treuer Liebender, der seines Kaisers neue Kleider bewundert, obwohl dieser Kaiser gar nichts anhat.
Alfred Kerr glaubt wirklich, daß seine vielbändige Dramaturgie unsterblich bleiben, die dramatische Literatur seiner Zeit – mit Ausnahme Hauptmanns – versinken wird. Er hält seine Theaterberichte für Dichtungen und besingt sie mit einer Mischung von Selbsterkenntnis und Überschätzung:
Zum Kugeln, wer ein kritisch Ämtchen
Gottsbitterlich pathetisch nimmt,
Zum Kugeln, wer im Priesterhemdchen
Das Rampenholz pathetisch nimmt.
Das Ding, worum man raunt und schreit,
Ist von beschränkter Wichtigkeit.
Ein Pech scheint mir, dem Wertbemesser,
Noch dieses: – Wenn mein Maßstab mißt,
Wird, was ich spreche, meistens besser
Als das, wovon zu sprechen ist.
Dennoch ist dieser scheinbar Anmaßende von einer seltsamen Bescheidenheit über seine eigentliche höchste Gabe: über seine wahre Dichterschaft. Er selbst spricht von ihr meines Wissens garnicht, und die Meisten wissen davon garnichts. Ich aber weiß darum, und die Gerechtigkeit treibt mich, für den Dichter Alfred Kerr zu zeugen. Ich habe das schon in der letzten Auflage meiner Deutschen Literaturgeschichte getan (Band 2, S.484); da jedoch noch immer nicht jeder Deutsche mein Buch auf dem Schreibtisch neben sich liegen hat, so wiederhole ich hier: es gibt von Kerr ein dünnes Bändchen mit Gedichten, richtigen Gedichten, betitelt »Die Harfe«; darin stehen einige sehr schöne Lieder aus dem Mannesherzen, darunter dieses schönste, ergreifendste:
Du fliegst, wenn die verweinten Kerzen
Im Haus der Welt entzündet sind,
Zu meinem nächtlich schweren Herzen
Mit unsrem Kind.
Umdämmert von der finstren Reise,
Starrst du ins Licht und sagst kein Wort.
Als ob du lebtest, frag' ich leise:
›Wie geht's dir … dort?'‹
Das Aug' scheint zögernd zu erwachen.
Der Mund, der ohnegleiche, spricht
Mit neckendem, umhuschtem Lachen:
›Das sag' ich nicht!'
Und deine kinderselig warme
Geliebte Stimme klingt wie einst.
Dann drängst du scheu in meine Arme;
Und weinst.
Und es steht darin eins der frühesten und zugleich schönsten Kriegslieder, dieses vom 2. August 1914:
Wir wollen in den Tagen
Der steilsten Lebensfahrt
Nicht säumen – und nicht fragen,
Wie alles ward.
Wenn auf des Hauses Pfosten
Die Sonne morgen scheint,
Schaut sie in West und Osten
Den Feind.
Sie spürt ein Wipfelbeben
Und hört ein Flügelwehn.
Deutschland kämpft um sein Leben.
Es wird nicht untergehn.
Dies ist der wahre Dichter Kerr, – halten wir uns an den!
*