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Die rechnenden Pferde (1904)

Fritz Mauthner hatte im Jahr 1915 einen Aufsatz über eine Frage des Seelenlebens veröffentlicht und sich darin nebenbei lustig gemacht über den ›Schwindel mit den rechnenden Pferden‹. Ich schrieb ihm: ›Woher wissen Sie, daß da geschwindelt wird? Ich habe die Pferde rechnen sehen. Sie kennen mich gut, – glauben Sie, daß ich leicht zu beschwindeln sei?‹ – Er antwortete mir, wie immer, sehr freundlich, nannte sich belehrungsdurstig, bat mich um Auskunft. Ich gab sie ihm, und er bewahrte sie in aufmerksamem Gedächtnis, wie ich 1916 bei unserm Wiedersehen, dem letzten, in Meersburg erfuhr. Er sprach wie ein echter Mann der Wissenschaft: Ich glaube Ihnen, d. h. ich glaube, daß Sie mir Ihre Wahrheit gesagt; zum Glauben an die Sache selbst müßte ich selbst sehen. – Das war 1916 leider nicht mehr möglich: der Besitzer und Rechenlehrer der Pferde hatte seine Schüler hingeben müssen, weil er sie im Kriege nicht mehr ernähren konnte.

Spreche ich heute über die rechnenden Pferde des – inzwischen verstorbenen – Karl Krall in Elberfeld, so begegne ich dem ungläubigen Lächeln, auch bei solchen, die Vertrauen in meine Beobachtung und Wahrheitsliebe setzen. Das Urteil ändert sich, sobald ich erzähle, was ich ›mit meinen Augen sah‹, nicht allein, sondern mit meiner sehr hellsichtigen und nicht leicht zu täuschenden Frau. Ich denke, es lohnt aufzuschreiben, was wir gesehen haben, grade jetzt, nachdem die Pferde tot sind, ihr Lehrer hingeschieden ist, nicht viele mehr leben, die gleich uns gesehen haben.

Ich bin fest überzeugt, daß nie ein wahrhaft wissenschaftlicher Versuch der Geisterseherei, der Fernbewegung, der Seelenverstoffung (Spiritismus, Telekinese, Materialisation) vorgenommen worden; bin fest überzeugt, daß das einzig Wissenschaftliche daran die lächerlichen Fremdwörter sind; daß in jedem Falle, in jedem ohne eine einzige Ausnahme, eine Täuschung, Selbsttäuschung, ein Selbstbetrug, ein ganz gemeiner Betrug begangen worden, zu allermeist von den Gauklern, die sich großartig Medien nennen, also den Vermittlern zwischen Erdenwelt und Geisterreich. Die Medien sind je nachdem Zahnarbeiter, Schlosser, Sattler, oder Weibsbilder, die mit ehrlicher Arbeit nicht genug verdienen, am liebsten garnicht arbeiten, sich sorgfältig als Gliederkrümmerinnen, namentlich als Beinkünstlerinnen ausgebildet haben. Das zu jeder Streckung und Verrenkung geschulte Bein eines Schlangenmenschen, männlichen und weiblichen, kann erstaunliche ›Phänomene‹ und ›Manifestationen‹ bewerkstelligen, wenn sie sich innerhalb der Reichweite – ›Aktionsradius‹ – eines Meters abspielen, und so lang ist ein Bein. Bewilligt man obendrein den Gauklern und Gauklerinnen die für ihre Schwindeleien gestellte Bedingung der Dunkelheit – und viele Professoren, Direktoren, Doktoren bewilligen jede gestellte Bedingung –, so gelingen die schönsten Kunststücke: Spieldosen fangen zu klimpern an, Taschentücher schweben ›frei‹ in der Luft bis zur Höhe eines emporgestellten Beins, und was sonst die erhabene Geisterwelt uns an ›okkulten‹ Wundern aus der Welt des geheiligten Jenseits zu offenbaren vermag.

Wie die Pferde, die ich habe rechnen sehen, das Rechnen vollführen, weiß ich nicht. Auch Karl Krall hat es nicht gewußt; keiner der vielen Gelehrten, die Zeugen des Rechners gewesen, hat das Geheimnis zu lichten vermocht. Daß aber die Pferde gerechnet haben, steht fest, und daß niemals die geringste Spur, die entfernteste Möglichkeit einer Täuschung, eines Betruges wahrgenommen wurde, steht ebenso fest. Der Geisterschwindel der Mediumsen und das Rechnen der Elberfelder Pferde haben so wenig mit einander gemein, wie eine ›Blüte‹ – Scherzbanknote – mit einem frisch aus der Presse der Reichsdruckerei hervorgehenden goldechten Wertpapier.

Die Hauptsache, auf die es bei allen solchen zuerst verblüffenden Erscheinungen der Naturwissenschaft ankommt, ist die Frage: Wie steht es mit den Bedingungen des wissenschaftlichen Beweises? In dem Geisterschwindel wird keine dieser Bedingungen erfüllt, bei den rechnenden Pferden jede. Alle Vorführungen geschahen unter freiem Himmel oder in geräumiger gedeckter Halle – immer bei hellem Tageslicht. Wir wohnten einer solchen Vorführung an einem sonnenklaren Frühlingsnachmittag von 2½ bis 4 bei, zusammen mit einem befreundeten Ehepaar. Wir vier Zuschauer waren bestimmt keine Betrüger oder Helfer. Karl Krall, der Besitzer und Vorführer der Pferde, war der angesehene, wohlhabende Besitzer eines großen Schmuckwarenhauses in Elberfeld, der nie den geringsten Vorteil von den Künsten seiner Pferde gehabt, wohl aber große Geldopfer für seine Schüler gebracht und sich gefallen lassen mußte, daß einige Zuschauer, die nicht die Spur einer Täuschung bemerkt, oder nur vermutet hatten, nachher dennoch behaupteten, es müsse eine Täuschung vorliegen. Krall hat weit überwiegend Verunglimpfungen für seine aufopfernde Mühe geerntet, und diese waren lauter als die Anerkennungen berufener Beobachter.

Die Zweifler hatten natürlich während der Vorführungen ihr Augenmerk vornehmlich auf Krall gerichtet; denn wenn eine Täuschung geschah, dann doch nur durch körperliche Zeichengebung an die rechnenden Pferde. Nie hat einer der Zeugen die Spur solcher Zeichen bemerkt. Ja noch mehr, und hiermit erreicht das naturwissenschaftliche Wunder den Gipfel des Rätselhaften, wird es geheimnisvoll am lichten Tage: Krall hat es mehr als einmal einem Zuschauer, selbst einem von fernher gekommenen Zweifler überlassen, eine schwierige, vorher ausgerechnete Aufgabe zu stellen, nachdem er selbst den Raum verlassen, und die gutwilligen Pferde, Muhamet und Mustafa, haben die Aufgaben gelöst.

Und was für Aufgaben! Zweite Wurzeln aus 6–8-stelligen, dritte Wurzeln aus 10-12 stelligen Zahlen. Fabelhaft, unglaubhaft, aber wahrhaft. Und was das Verblüffendste: die Pferde haben sich zuweilen bei ihrem Rechnen, das wohl mehr ein rechnerisches Versuchen und Tasten an den Zahlenreihen war, in der letzten Stelle ihrer errechneten zweiten und dritten Wurzel um 1 oder 2 geirrt, vergriffen, sich dann aber, auf ihren Rechenfehler hingewiesen, abermals versuchend, tastend berichtigt. Mit ihrem Pferdeverstand, vor dem unser Menschenverstand stillsteht.

Als wir von Herrn Krall zu einer Rechenvorstellung zugelassen wurden, lebten die zwei schönen arabischen Hengste, seine Hauptrechenkünstler, noch, aber sie wollten den zwecklosen Unsinn der Rechnerei nicht mehr mitmachen. So erklärte uns Krall ihre Abgeneigtheit, – ›die Sache ist ihnen zu dumm geworden‹. Als sie jung waren, machten sie mit; jetzt sehen sie nicht ein, wozu sie Wurzeln ziehen sollen. – Ich dachte mir: auf unsern höheren Schulen läßt man diesen ebenso überflüssigen Unsinn bis ans Ende der Tage bestehen.

Krall rief Muhamet und Mustafa von der nahen Wiese herbei: sie kamen hurtig angetrabt, wollten aber, als sie uns Zuschauer erblickten, sogleich wieder davon. ›Dumme Mathematik‹ haben die klugen Tiere gedacht. Krall hielt sie nicht etwa fest, sondern sprach freundlich auf sie ein: Du Muhamet, du Mustafa, bleibt doch hier, dies sind ein paar gute Freunde, die von euch gehört haben, – nur eine ganz kleine Aufgabe, nur zum Spaß, na ihr tut mir den Gefallen, – und die beiden edlen Geschöpfe blieben, sahen sich nach uns um, scharrten mit den Hufen. – Nur eine kleine Aufgabe, eine Spielerei, – du Muhamet, sage den Herrschaften – und nun ganz scharf und langsam die Aufgabe: zweimal zweiundvierzig! – Muhamet stand mit etwas gesenktem Kopf eine Sekunde regungslos, dann hob er den rechten Huf und klopfte auf einen niedrigen flachen Holztritt: vier Schläge; dann das rechte Bein festgestellt, den linken Huf gehoben: acht Schläge, – dann aber hielt ihn nichts mehr, und beide trabten, froh wie zwei Schulknaben, zur Halle hinaus und der Weide zu. – Aus reiner Höflichkeit, sagte Krall.

Dann kam Jona an die Reihe. Krall stellte sie vor: anderthalb Jahre altes Ponyfräulein, in der Rechenklasse erst seit drei Wochen, Abc-Schülerin, leidet an jugendlicher Unaufmerksamkeit und Backfischeitelkeit. Das Letzte hatten wir schon selbst bemerkt: sie stand mit dem Hinterteil gegen uns gewandt, drehte sich aber oft neugierig nach uns um. Krall trat etwas seitwärts vor sie hin, jede seiner Bewegungen, seiner Hände war uns, auf kaum 2½ Meter, genau verfolgbar. Jona bekam frische Mohrrüben, um sie williger zur Arbeit zu machen. Krall entschuldigte ihre geringen Kenntnisse: sie beherrschte wohl das kleine Einmaleins, aber mit dem großen hatte sie eben erst begonnen. Also, Jona, und dann scharf, schneidend: zweimal zehn! – Ich hole nach: die Aufgaben wurden vorher an eine große schwarze Schultafel geschrieben: 2x10. – Fräulein Jona besann sich einen Augenblick, dann hob sie den rechten Vorderhuf: 2 Schläge, dann den linken, hielt ihn schwebend über dem Holztritt. – Krall lobte, streichelte sie, gab ihr eine Mohrrübe zur Belohnung, und sie – sah sich nach uns um. Eitelkeit! rief uns Krall zu; so hatte es auch uns geschienen.

Neue Aufgabe: an die Tafel 2x11, dann dasselbe ihr zugerufen. Sie hob und tat mit dem rechten Huf einen Schlag, nur einen. Sie hatte falsch gerechnet, Krall war unglücklich: Aber, Jona, 2x11, zuerst 2x1, na –? Iona schlug, sich verbessernd, zweimal, dann wieder zweimal mit dem linken Huf: 22. Sie schaute sich nach uns um, Beifall erwartend; wir riefen: Bravo! Gut! Fein! – und dann bekam sie ihre Mohrrübe. Es folgten andre leichte Aufgaben: sie löste sie mal richtig, mal mit einem kleinen Fehler, verbesserte sich, – wir hatten ganz das Gefühl: Rechenstunde in einer untersten Klasse. Unsre Stimmung war unbeschreiblich: wir blickten in eine ungeheure dunkle Welt, die uns ihren Vorhang an einer Seite spältchenweit öffnete, uns aber stockdunkel blieb. Und all das im hellsten Licht eines Frühlingstages.

Krall machte eine Pause, sprach mit uns, entschuldigte die Fehler der kleinen Jona. Ich sagte ihm: Mir sind Jonas Rechenfehler noch wichtiger als ihr fehlerloses Rechnen. – Daß wir an keine Täuschung dachten, verstand sich so von selbst, daß darüber kein Wort gesprochen wurde.

Dann kündigte er uns etwas Besonderes an: Berto, ein etwa 5 Jahre altes blindes Pferd; es sollte geschlachtet werden, er hatte es gekauft und Unterrichtsversuche angestellt, sehr mühselige, aber nicht erfolglose.

Berto kam, wohlgenährt, aber müden Schrittes, unsicher. Ein blindes Pferd! Die Gelehrten – Professoren der Psychologie und Andre –, die dessen Rechenleistungen gesehen, waren erschüttert worden von der Gewalt eines unenthüllbaren Weltgeheimnisses. Die vereinzelten Zweifler waren verstummt: hier bot die Natur den vollkommen geschlossenen, lückenlosen Ring des wissenschaftlichen Beweises dar. Auch wir waren bei den nun folgenden Versuchen in einer Stimmung, die ich jetzt kaum noch zurückrufen, geschweige beschreiben kann.

Krall trat an das blinde Pferd, streichelte es, gab ihm Weißbrot, Mohrrüben; dann mit lauter Stimme: zweimal dreizehn, darnach schrieb er – wir folgten seinen großen Zügen – mit dem Finger die Aufgabe 2x13 dem Tier in die Weiche. ›So, Berto, nun los! – 2x13!‹ Das Pferd hielt den Kopf gesenkt, ein, zwei Sekunden, dann hob es das rechte Bein und klopfte auf das Holzbrett: 6 schwere Schläge, – kleine Pause; das linke Bein hob sich: 2 Schläge: 26.

Beklommen, schweigend, tiefbewegt sahen wir einander an. Nach einigen ähnlichen leichten Aufgaben wurden die Vorführungen auf unsern Wunsch geschlossen. Wir traten ins Freie, Herr Krall begleitete uns bis zu unserm Gasthof. Wir besprachen das Erlebte. Krall frug uns, ob wir irgendwelche Bedingung des strengwissenschaftlichen Versuches vermißt hätten. Wir mußten erwidern: keine. Er klagte über die Teilnahmlosigkeit der großen Wissenschafter, die ohne weiteres von Täuschung, Betrug, Unsinn sprächen, anstatt Versuche mit Aufgebot aller nur erdenkbarer Maßregeln gegen Täuschung zu veranstalten; ob das nicht Stumpfsinn, Unwissenschaftlichkeit sei? – Ich konnte ihm nur sagen: Die Jahrzehnte hindurch verübten Betrügereien der ›Medien‹ haben den wahrhaft wissenschaftlichen Männern alle Lust verleidet, sich mit Entdeckungen aus einer völlig neuen, jenseitigen Welt zu beschäftigen.

Zur Sache selbst will ich nur sagen: Daß kluge Tiere rechnen können, ist doch bei weitem nicht so unglaublich, wie daß eine Jahrtausende hindurch nie wahrgenommene, angeblich nur einzelnen Menschen – und zwar aus der Gattung der ›Medien‹ – eigne seelische Fernbewegungskraft eine Spieldose zum Spielen, ein Taschentuch zum Schweben bringen kann. Die erstaunliche Klugheit vieler Tiere, darunter der Pferde, ist seit Jahrtausenden bekannt; sie ist leider niemals planmäßig wissenschaftlich untersucht oder gepflegt worden. Wie viele erstaunliche Leistungen der Tierseele sind uns allen geläufig, ohne daß wir sie erklären können: der Flug der Zugvögel, ihre Heimkehr, das Richtung- und Zielfinden der Brieftauben, die Winkelrichtigkeit der Bienenzellen, das Gewebe des Spinnennetzes, der sechste, siebente Sinn der Hunde und Katzen. Es klingt, es ist kaum glaublich, daß Pferde rechnen können; aber hat nicht der Hund Rolf der Mannheimer Frau Rechtsanwalt Dr. Mockel vor Dutzenden von genau beobachtenden Zeugen gerechnet und durch Klopfzeichen der Pfote geschrieben? Weiß nicht jeder Hundebesitzer von unglaublichen geistigen Leistungen seines Lieblings wahrheitsgetreu zu berichten? So gut wie nichts wissen wir bisher von den Geheimnissen der Tierseele, weil wir sie nie zum dauernden Gegenstande wissenschaftlicher Forschung gemacht haben. Beim Rechnen der Elberfelder Pferde handelt es sich nur um einen Gradunterschied der Leistung. An der Zuverlässigkeit der Versuche sind Zweifel ausgesprochen, aber niemals auf Tatsachen gegründet worden. Bei den Hunderten von Versuchen mit den Pferden in Elberfeld, mit dem Hunde Rolf in Mannheim ist niemals die kleinste Möglichkeit eines Betruges auch nur angedeutet, geschweige aufgedeckt worden. Es ist jammerschade, daß die nichtsnutzige Schwindelei der ›Medien‹ der wahren Wissenschaft die Lust verleidet hat, sich gründlich mit solchen Erscheinungen wie denen in Elberfeld und in Mannheim zu beschäftigen.

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