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Zwei Bildungswelten

Die zwei sind gemeint, die jeder sich mit Kunstfragen im gesellschaftlichen Bildungsleben Beschäftigende kennt, aber nicht recht unterscheidet. Dabei sind sie deutlich erkennbar geschieden, und sowie man die zwei Welten benennt, erkennt sie jeder. Ich könnte die eine nennen die Literaturwelt, aber selbstverständlich tue ich das nicht, es geht auf Deutsch ebenso gut und besser. Ich meine nämlich die Welt, die über Literatur schreibt: die Poesieprofessoren, die Zeitungsleute unterm Strich, und die Schriftsteller, die ebensowohl Literatur selbst hervorbringen, wie über Literatur schreiben. Diese Welt ist nicht klein, aber sie verschwindet an Zahl gegen die andre, die nur liest: die Bücher und über die Bücher. Nenne ich diese die Leserwelt, so darf ich die andre die Schreiberwelt nennen, was gewiß keine Herabsetzung bedeutet, keine bedeuten soll. Da jedoch Leserwelt gar zu weit gespannt ist, da für unsern Zweck nur der höchstgebildete Teil der Leserwelt in Betracht kommt, so stelle ich gegenüber, wie sie sich im Leben gegenüberstehen: die Schreiberwelt und die Hochbildungswelt. Daß es auch unter den Schreibern Höchstgebildete gibt, brauche ich nicht erst zu beweisen; wohl aber muß nachdrücklich gesagt werden: es gibt Schreiber, die mehr oder minder tief unter dem Pegel der Hochbildungswelt stehen. Sie wissen es nicht; sie leugnen es, wenn man es ihnen zu sagen wagt; es ist aber so, und das ist ein Trost.

Sehr bedenklich sieht es unter den Schreibern aus, die es bis zum Poesieprofessor gebracht haben. Wir wissen aus der Literaturgeschichte, daß einer der Urteilslosesten in allen Fragen der Poesie ein Poesieprofessor war, und was für einer! Ein Herrscher im Reiche der Kunst, des Kunsturteils, des Geschmacks; aber in Wahrheit ein unaussprechlicher Esel. Gelehrt zum Platzen, wohl einer der belesensten Männer seines Zeitalters, aber unwidersprechlich ein Esel. Nämlich wenn man Esel einen Menschen schilt, der mit Gewicht, Selbstbewußtsein, Anmaßung und Geltung über eine Sache schreibt, von der er garnichts versteht. Der Leser weiß, wer gemeint ist, – natürlich Gottsched. In mancher Hinsicht nicht unverdienstlich, seine Verdienste um die Deutsche Sprache, um die Sammlung alter Deutscher Dramen, und noch einiges andre stehen fest; dennoch ein Esel.

Gewöhnlich wird von ihm – in der Schule, in Büchern, unter Schreibern – gesprochen mit dem Unterton: So einen hat's einmal gegeben, merkwürdig was die Natur hervorbringt, aber so etwas ist heute unmöglich. Gemach, gemach, es ist heute möglich, es ist heutigste Wirklichkeit, nur erscheint sie äußerlich in andern Formen als denen Gottscheds. So ledern wie er schreibt kein Poesieprofessor mehr, aber die Schreibform ändert am Kern der Sache nichts. Dieser Kern heißt: Verständnis für Poesie, Unterscheidungsvermögen für Genius und Schund. Aber gibt es denn einen Poesieprofessor ohne Verständnis für Poesie, ohne das Vermögen, Genius und Schund zu unterscheiden? Ist denn so etwas denkbar? Der Leser wird schwer zu überzeugen sein, daß es an Deutschen Universitäten Professoren gibt, die Vorlesungen über Poesie halten und keine Ahnung vom Wesen der Poesie haben. Gottsched, so wird allgemein gedacht, war eine einmalige Mißgeburt in der Geschichte der Wissenschaft, so etwas gibt es nicht zum zweiten Wal.

Man bedenke: man wird ja nicht Poesieprofessor durch eine Prüfung im Verständnis für Poesie, sondern geprüft wird in Sprachgeschichte und Literaturgeschichte, und wer diese Prüfung befanden, kann Privatdozent für Poesie werden, und nach einigen Jahren wird er unfehlbar Poesieprofessor. Es kommt vor, daß Menschen mit Sinn für Poesie sich diesem Fache zuwenden, ich selbst habe einige gekannt; notwendig aber ist jener Sinn nicht, gefragt wird nach ihm niemals.

Mit welchem Recht aber – so fragt mancher Leser – erkühnst du dich, von einem Poesieprofessor zu sagen, er verstehe nichts von seinem Gegenstande? Nun, ich bin keineswegs der Erste, der von einem Poesieprofessor, sogar von einem berühmten, ausgesagt hat, er weiß nichts von seinem Gegenstande; Grillparzer hat das von Gervinus gesagt, und die Bildungswelt hat ihm Recht gegeben. Noch von andern berühmten Poesieprofessoren ist das mit guten Gründen gesagt worden, der Fall ist garnicht selten. – Aber woran erkennt man denn, daß ein Poesieprofessor von seinem Gegenstande nichts versteht? Das ist viel leichter, als du denkst, mein lieber Leser, und du selbst, der du zur andern Welt, zu der der Hochbildung, gehörst, bist der zuständige Richter in dieser Frage. Wenn du nur nicht als Deutscher Bildungsmensch an dem Gebrechen littest, Gelehrsamkeit und Kunstverständnis für untrennbar, einen Universitätsprofessor für einen Halbgott zu halten, wenn du nur den Wut deiner eignen Kunstbildung hättest, so solltest du mir als Richter in dieser Frage willkommen sein und genügen. Die Sache ist sehr einfach: ein Poesieprofessor, der vollendeten Stumpfsinn für hohe Kunst, wertlosen Quatsch für bezaubernd, Unverständlichkeit für göttlich oder ›numinos‹ erklärt, der versteht nichts von der Poesie, seinem Gegenstande; und darüber, ob Stumpfsinn, ob Quatsch, ob Unverständlichkeit vorliegt, darüber steht dir, dem Menschen aus der Hochbildungswelt, das Urteil zu, dir vor allen Menschen aus der Schreiberwelt.

Ein Beispiel? Gern! Es gibt ein Gedicht – eins von Hunderten gleicher Art –, das lautet:

Von Branntwein toll und Finsternissen!
Von unerhörten Güssen naß!
Vom Frost eisweißer Nacht zerrissen,
Im Mastkorb, von Gesichtern blaß!

Von Sonne nackt gebrannt und krank!
Die hatten sie im Winter lieb.
Aus Hunger, Fieber und Gestank
Sang alles, was noch übrig blieb:

O Himmel, strahlender Azur!
Enormer (!) Wind, die Segel bläh!
Laßt Wind und Himmel fahren! Nur
Laßt uns um Sankt Marie die See!

Was sagst du hierzu? – Stümpernder Quatsch!, wenn du höflich sein mußt; sonst sagst du etwas andres. Weißt du, was einer der Poesieprofessoren über dergleichen sagt, ein ordentlicher an einer richtigen Universität? ›Faszinierend‹. Auf Deutsch bedeutet dies etwa: berückend, entzückend, bestrickend, bezaubernd. Glaubst du, daß dieser Poesieprofessor eine Ahnung hat, was Poesie ist? Aber er belehrt Studenten und schreibt Bücher darüber.

Oder wie denkst du über folgendes Gedicht:

Ich wähle die Seele, erwäge die Geister und schwebe als Traum.
Ich schaue in Herzen, berausche mich schaudernd: ihr traut einem Baum.
Ihr grünt und erblüht, ihr durchsprüht, überflügelt den Raum.
Es glauben die Herzen, wie glühende Kerzen. Es leuchtet der Baum!
Es bringen die Fichten die Träume der Sterne zur Erde hernieder!
Euch alle belichten Geschichten der Ferne, die still sind und Lieder.
Wie gerne erschimmern die Sterne! wie herrlich erglüht euer Baum!
Erblühen schürt Glühen, Entsprühen. Der Baum wird ein Traum.

Du liest es, liest es zum zweiten Mal, liest es von hinten nach vorn, von der Mitte nach beiden Enden, verstehst nichts, erklärst es nach einigem Nachdenken für das Lallen eines Geisteskranken. – Dein Urteil weicht durchaus ab von dem einiger amtlicher Poesieprofessoren. Einer sagt von dem Dichter dieses Gedichtes und vieler ähnlicher: ›Dieses gigantische Werk hat vor allem die Bedeutung, daß es den gewaltigen Aufbruch des Ichs zur Wandlung zur Güte, zur Liebe in die Geschichte der Menschheit projiziert (!) und die Geschichte der Menschheit mystisch-phantastisch mit dem Kosmos verknüpft.‹ Weiter nichts?

Ein Zweiter belehrt dich:

›In eine Wolke von silbernem Licht ist mancher Vers getaucht [Leser, siehst du das silberne Licht?], nichts als weiße silberne Klänge sind so manche Gedichte. Hier ist Außerordentliches gewollt [!] und in der großen seelischen Schau auch erreicht [?].

Ich denke, jetzt weißt du, woran man die Poesieprofessoren erkennt, die von ihrem Gegenstande nichts wissen, aber darüber Vorlesungen halten und Bücher schreiben. – Damit kein falscher Verdacht entstehe, bemerke ich, daß beide obige Meisterstücke Deutscher Dichtkunst nicht von Stefan George herrühren.

Selbstverständlich gibt es bei weitem mehr Poesieprofessoren, die wirklich etwas von Poesie verstehen. Von diesen hört man aber nichts über den Unsinn, der sich Poesie nennt; man hört nur die sehr lauten Verherrlicher des Unsinns. Die Andern schweigen, denn gegen die Verherrlicher des Unsinns aufzutreten und ihnen ebenso laut zuzurufen: ihr verherrlicht Unsinn!, das nennt man in den Kreisen der Poesieprofessoren, aber der Professoren überhaupt: Verstoß gegen die Kollegialität.

Über den viel größeren Teil der Schreiberwelt, den man Presse nennt, ist nur zu sagen: Es gibt viele kunstverständige Männer unter ihnen, und es gibt daneben sehr viele unkünstlerische, und im allgemeinen führen diese das lautere Wort. Die Macht dieses Teils der Schreiberwelt scheint ungeheuer, sie ist sogar ungeheuer, aber sie ist viel geringer, als sie selbst denkt, und sie ist ganz klein im Vergleich mit der der Hochbildungswelt. Bei dieser liegt die Entscheidung in allen Fragen der Kunst, das lehrt die ganze Kunstgeschichte der Völker. Die Hochgebildeten, die es ja selbst an Kunstwissen reichlich mit der Schreiberwelt aufnehmen, horchen wohl auf die Urteile der Schreiberwelt, aber diese sind ihnen nicht maßgebend. Alle größte Verirrungen des Kunsturteils sind von der Schreiberwelt ausgegangen: der Ruhm Gerhart Hauptmanns, der Ruhm Stefan Georges, der Ruhm Thomas Manns; oder man denke an den nicht geringen Ruhm der Frau Johanna Ambrosius, das Erzeugnis des Poesieprofessors Hermann Grimm. Auch Karl Busse wurde von einem sehr berühmten Poesieprofessor entdeckt und als ein alle Kunst umwälzender Genius, als ein neuer junger Goethe laut verherrlicht. Sein Name sei milde verschwiegen.

Die Berichtigung des Urteils kam, zu allen Seiten, kommt noch jetzt, von der Hochbildungswelt. Diese läßt die gewissen Poesieprofessoren Vorlesungen halten und Bücher schreiben über die Götzen der Mode; sie läßt die Schreiber in den Zeitungen die schönsten Essays und Fölljetongs über die falschen Berühmtheiten schreiben; liest sie sogar, oder liest sie nicht, aber sie liest die von der Schreiberwelt als Meisterwerke ausposaunten Schmarren durchaus nicht. Und nach einer Weile, wenn dieser Zustand in der Bildungswelt klar zutage liegt, hört auch die Schreiberwelt auf, über die Schmarren vorzulesen und zu schreiben, und der Sieg der Gebildeten über die Schreiber ist unbestreitbar geworden. Bis die neuen Größen aufkommen, und der Kampf zwischen den beiden Welten, zwischen dem Bau und der Bildung, aufs neue beginnt.

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