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Als ich von meinem Gymnasium nach Berlin auf die Hochschule ging, sprach und schrieb ich die Sprache, die ich im Leben meiner hinterpommerschen Kleinstadt und auf der Schule gehört und gelernt hatte. Ich brauche sie nicht zu beschreiben; sie war das Gemengsel, das in Deutschland für bestes Deutsch gilt. So scheußlich war die Deutsche Sprache damals, um 1870, noch nicht verschmutzt wie heute. Ich selbst kannte nur wenige Fremdwörter außer den zur Schulsprache gehörigen, amtlich vorgeschriebenen. Man las damals, zumal draußen im Lande, viel weniger Zeitungen als heute, und ich hatte so selten eine Zeitung in die Hand genommen, daß mir selbst die feststehenden Fremdwörter des staatlichen Lebens unbekannt waren. Fand ich als Primaner beim gelegentlichen Blick in eine Berliner Zeitung Wörter wie Fraktion, Budget, Amendement, etatisieren, so las ich drüberweg; langweilig, weil mir kaum halbverständlich, war der Inhalt ohnehin; Aufklärung zu erfragen, kam mir nicht in den Sinn.
So blieb ich sprachlich lange im Zustande der Halbunschuld: jeder Kleinstadtprimaner von heute würde solche Unkenntnis in der Fremdwörterkunde garnicht begreifen. Zu den vielen geistigen Wandlungen zwischen ehemals und heute gehört das Zeitungslesen der jungen Leute. Wir damalige Oberklassenschüler wußten so gut wie nichts von den politischen Vorgängen in Preußen und in der Welt. Es war uns Sekundanern unklar, warum wir Krieg mit Österreich führten, und erst der Krieg von 1870 mit Frankreich war uns verständlich.
Das öffentliche Ereignis, das in den 60er Jahren auf mich den stärksten Eindruck machte, war die Einführung des Zehnpfennigbriefs, bald darauf der Postkarte. Aber wie gesagt: in der Fremdwörterbildung waren wir alle sehr rückständig, und Unterricht im Deutschen hatten wir damals ebensowenig, wie ihn die heutigen Schüler haben. Der einzige Unterschied ist dieser: zu meiner Schülerzeit war die Unterrichtsverwaltung ehrlich, sie prahlte nicht mit großartigen neuen und neusten ›Richtlinien‹; sie schwindelte nicht: Deutsch steht im Mittelpunkt des Unterrichts. Deutsch war genau so wie heute ein untergeordneter Gegenstand, obwohl auf den Deutschen Aufsatz Wert gelegt wurde. Man las die Klassiker, stocherte an ihnen herum, machte Aufsätze über den Charakter Oktavios, untersuchte den Grad seiner Verräterschaft, prüfte die Schuld der Jungfrau von Orleans, die Schuld Maria Stuarts, die Schuld der Fürstin von Messina, und dergleichen nannte man damals wie heute ›Deutschen Unterricht‹.
Eine Stunde, in der wir planmäßig gelernt hätten, was in den zahllosen Zweifelfällen der Deutschen Sprache als falsch, als richtig, als unbedingt verwerflich, als zulässig gelten muß, haben wir nie gehabt. Es gibt auch heute, unter der Herrschaft der neusten ›Richtlinien‹ und der Mittelpunktstellung des Deutschen, keine solche Stunde, selbst nicht an den Real- und den Oberschulen. ›Massow, Was so‹ usw. (vgl. S. 336). Unterricht im guten Satzbau? Ja wohl: fürs Lateinische, Griechische, Französische; aber fürs Deutsche? Nie ein Wort. Wir machten Aufsätze, ich denke, schon von Quarta an, und von Sekunda bis zum Abschluß, zur ›Reife‹, sehr geschwollene, über die tiefsten Fragen des dichterischen Strafrechts. Doch nie ist uns ein Wort darüber gesagt worden, wie man einen vernünftigen Aufsatz, d. h. doch die Darstellung von Gedanken, aufbauen solle. Und heute? ›Is so, Bliwwt so.‹ Unsre gute Schule – sie war gut, und ich ehre sie – hielt uns alle für ein begnadetes Ver sacrum, dem die Gottheit die Kenntnis richtiger Deutscher Sprache und guten Gedankenausdrucks im Schlafe durch Eingebung verleiht. Diesen frommen Glauben haben sich alle Deutsche Unterrichtsverwaltungen bis heute bewahrt. Es geht nichts über geheiligte Überlieferungen.
Doch!, deutlich erinnere ich mich: einmal, ein einziges Mal habe ich so etwas wie einen Unterricht im richtigen Deutsch genossen: in Tertia zürnte mir der liebe Albert Heintze grimmig wegen eines ›tuen‹; ›tun‹ heißt es, nur ›tun‹, wie kann man ›tuen‹ schreiben! – Wie fest solcher Unterricht sitzt, das sehe ich aus diesem Beispiel: nie wieder habe ich ›tuen‹ geschrieben; aber zu lesen, in Büchern und in Zeitungen, bekomme ich es noch heute recht oft, weil denen, die so schreiben, kein strenger Deutschlehrer je gesagt hat, daß ›tuen‹ falsches Deutsch ist.
Ein Wort gegen die Fremdwörter habe ich nie vernommen, selbst nicht von Heintze. Wahrscheinlich waren wir hinterpommersche Tertianer so weit in der Bildung dahintergeblieben, daß wir außer den Fachfremdwörtern der Sprachlehre keine Fremdbrocken kannten. Den Tertianer von heute möchte ich sehen, der nicht mit Inflation, Organisation, stabilieren und stabilisieren, katastrophal, kollossaal, strukturell, sexuell, ethisch usw. um sich wirft, wie früher nicht einmal jeder Deutsche Professor der Philosophie.
In diesem Zustande des Nichtunterrichtetseins in der Deutschen Sprache kam ich nach Berlin und wurde mit 19 Jahren Student, gleichzeitig Schreiber im Stenografenamt des Abgeordnetenhauses. Natürlich hieß ich sehr vornehm: Sekretär, was mir zu nicht geringem Dünkel gereichte, denn ich lebte ja in dem Zustande Deutscher Bildungslosigkeit, wo das Fremdwort für das Zeichen der höheren Kaste, der geistigen Überlegenheit gilt. Wenn ich seit mehr als einem Menschenalter das Fremdwort für das Zeichen der Unbildung, den bewußten Fremdwörtler für den schmockischen Dünkler erkläre, so spreche ich aus dem eignen geistigen Erleben: auch ich habe einst auf jener Stufe der Unbildung und des kindischen Dünkels gestanden; doch nicht lange, nur in den schnell überwundenen Jungmannsjahren sprachlicher Roheit und Unreife.
Ein eigenartiges gütiges Geschick hat mich sehr bald die höhere Stufe sprachlicher Einsicht, Bildung und Kunst ersteigen lassen. Der mir vorgesetzte Stenograf, schon damals ein berühmter Schachspieler, der junge Überwinder des großen Andersen, einer der meisterlichsten Kurzschreiber, trefflicher Sprachkenner vom Joachimstalschen Gymnasium her, Emil Schallopp, sagte mir das von ihm aufgenommene Stück Rede ein, und ich schrieb nach. Das Deutsche ging glatt, ich hatte sogar eine Ahnung von den Satzzeichen, obwohl auch die niemals planmäßig gelehrt worden waren; nur bei den Fremdwörtern, die kaum in einem einzigen längeren Satze fehlten, haperte es bei mir. Die noch frische Kenntnis des Lateinischen, Griechischen, Französischen half mir, und ich gab mir keine allzu arge Blößen. Dann aber kam ein Wort, das meinem Stenografen ganz geläufig war, mir wildfremd, das ich mir aus keiner mir bekannten Sprache erklären konnte: budgetär, und ich stockte. Schallopp buchstabte, und ich schrieb, aber klüger wurde ich nicht. Wir sprachen in der Arbeitspause darüber, Schallopp erklärte es mir: Budget (französisch ausgesprochen) – Haushalt, budgetär – haushaltsmäßig. Ich begriff, aber es blieb ein Stachel. Der Stachel schwärte, aber ich stand ja noch auf der echtdeutschen Bildungsstufe, auf der das noch so blöde Fremdwort für verehrungswürdig gilt, für tabu, für das Zeugnis der höheren, der höchsten Bildung. Schallopp wußte mehr Latein und Griechisch, etwas weniger Französisch als ich, war aber schon durch einige Jahre seiner Stenografentätigkeit abgebrüht, abgestumpft; ähnlich ging es den andern sprachwissenschaftlich hochgebildeten Herren des Amtes, z. B. dem Hieroglyphenkenner Ritter. Sie sahen, was ich sah, aber sie empfanden es nicht ganz so wie ich, nicht als so dumm, roh, sprachwidrig, wie es war. Etwas Angeborenes, Ererbtes wird bei mir mitgewirkt haben: ich erinnere mich, daß mein früh, in meinem zehnten Jahr uns entrissener lieber Vater mich, den achtjährigen Vorschüler, einst verbesserte: ich hatte ›Abteilung‹ nach seiner Ansicht falsch betont, ich weiß nicht mehr wie; aber jedenfalls hatte mein Vater, der ein sprachgebildeter Mann war, aber ebenso wenig einen richtigen Deutschunterricht genossen hatte wie alle Deutsche vor hundert Jahren, aus eignem Triebe über Sprachgesetze nachgedacht. Ihm verdanke ich doch wohl die Anlage zum Deutschen. Dennoch wäre diese schwache Anlage verkümmert ohne die täglichen Anstöße zum Nachdenken – nicht bloß über die Fremdwörter, nein allgemein über Ausdruck, Formen, Klarheit, Satzbau.
Budgetär! Ich stellte leicht fest, daß dies ein ganz französisches Wort war, daß also preußische Abgeordnete ganz französisch sprachen, und frug mich: warum? Ich mußte schreiben: Amendement, ja Sousamendement – damals nur so; heute, großartiger Fortschritt, Unteramendement –, amendieren. Ich kannte die lateinischen Wörter menda und emendare, nicht die französischen Ableitungen; aber ich frug mich: warum spricht Herr Eugen Richter französisch?, warum sagt er nicht Verbesserung, Verbesserungsantrag, Unterantrag, verbessern? – Ich hörte und schrieb: Fraktion, und dies bedeutete Partei. Ich verstand den entfernten Sinn von Fraktion, weil ich das lateinische frangere = zerbrechen kannte, aber ein lateinisches Wort Fractio, nun gar mit dem Sinne ›Partei‹ gab es nicht. Was für eine Sprache also war die, die von diesen für hochgebildet gehaltenen gewählten Vertretern des preußischen Volkes gesprochen wurde? So also stand es mit den geschwollenen fremdwörtelnden Urkunden höchster Bildung? So?
Ich war 19 geworden; die großmächtigen Herren Stenografen, überwiegend Sprachwissenschafter, einige schon Doktoren, waren alte Gelehrte und Künstler ihres Faches, 27, 28 Jahre alt; ich wagte nicht, meine schülerhaften Gedanken – siehe Faust, ersten Teil – den Meistern ungeschminkt vorzutragen. Ich schrieb nach, was mir eingesagt wurde, aber ich prüfte, untersuchte jedes Fremdwort auf Notwendigkeit, Inhalt, Herkunft, Sprachform – und wurde innerlich immer verwirrter. Es schwärte, es gärte, es ließ mir keine Ruh. Ich 19-jähriger Junge konnte doch nicht klüger sein als ein ganzes großes Abgeordnetenhaus von 400 gebildeten, zum Teil sehr berühmten Männern; es mußte wohl notwendig oder schicklich sein, daß man nicht Haushalt, Verbesserung, Partei sagte; daß aber irgendetwas hier nicht ganz stimmte, wurde mir immer klarer. Als ich dann, nach wenigen Wochen, in einem Wettschreiben über mehr als ein Dutzend Mitbewerber siegte, der Einäugige über die Blinden; als ich selbst, immer noch mit 19 Jahren, einer der zwölf Auserkorenen wurde, die ›amtliche Stenografen‹ hießen, als ich selbst großartig einen ›Sekretär‹ – einen stellenlosen Schauspieler und Possendichter, Mitarbeiter des damals sehr berühmten Wilkens – zugewiesen bekam, Vorgesetzter wurde und ›diktierte‹, da schwoll mir der Kamm, und ich nahm mir heraus, über die Sprache, die ich hören und einsagen mußte, zu urteilen, zunächst nur für mich, aber ernsthaft zu urteilen.
Und dann wurde ich amtlicher Stenograf im ersten Deutschen Reichstag und arbeitete täglich in zwei Sitzungen; bekam süddeutsche Redner zu hören, die ebenso fremdwörtelten wie die preußischen, und da, noch vor meinem 20. Geburtstag, wußte ich in den Grundzügen, was ich heute bis in alle Einzelheiten weiß: die unzähligen Fremdwörter im Deutschen, fast für jeden Begriff eins, sind keine Notwendigkeit, keine Folge der Armut unsrer Sprache, sondern eine Sprachkrankheit, eine Geistesseuche. Sie sind keine Bereicherung, sondern ein Aussatz, der den gesunden Sprachkörper anfrißt. Sie sind zum geringern Teil schlechte Gewöhnung in Folge schlechter Erziehung in Schule, Haus und Leben; zum größten Teil Ausfluß der Eitelkeit und Wichtigtuerei. Die Sprachform der Fremdwörter ist fast durchweg roh, gemein, pöbelhaft, verquatscht. Grade wer fremde Sprachen gründlich gelernt hat, muß die Fremdwörter wegen ihrer verluderten Form verabscheuen. Diese widerte mich, den angehenden Sprachforscher, am meisten an. Ich erinnere mich noch heute, nach bald 60 Jahren, wie ich als schauderhaftes Beispiel äußerster Sprachverhunzung das Wort ›Interessenten‹ anführte. Lasker hatte es arglos gebraucht.
So weit war ich früh, zunächst aber nur im willigen Geist; das Fleisch bei der Anwendung blieb schwach. Es war ja so sehr bequem, zu schreiben: problematisch, theoretisch, Initiative, Prärogative, prädestiniert usw., und es kam hinzu die knabenhafte Eitelkeit: mit solchen großartigen Wörtern stehst du ebenbürtig da. Da ich aber ein Mann ward, tat ich das Knabenhafte ab; Unzählige bleiben in diesem Punkt ewig knabenhaft, pennälerisch.
Mit der Erkenntnis des Fremdwörterunfugs war es nicht getan, – ich mußte beim Einsagen an meinen Schreiber an die Druckfertigkeit der Rede denken, Alle Stenografen taten das, alle tun es noch heute: fast kein Deutscher Redner spricht druckfertiges Deutsch, von hundert baut kaum einer druckfähige längere Sätze. Der Stenograf ändert nichts am Ausdruck, seine Pflicht verbietet ihm, ein plattes Wort aufzuhöhen; aber seine stillschweigende Pflicht ist es, die schlechtgebauten Sätze einzurenken und gebildete Sprache daraus zu machen. Die Redner selbst betrachten dies als selbstverständlich, glauben aber hinterher, daß sie selbst vollkommen druckfertig sprechen.
Wie unzählige Male war ich gezwungen, mir klar zu werden über das Richtige in Zweifelfällen wie: trotz des oder trotz dem, – kostet mir oder kostet mich, – mit hohem erdrücken den oder erdrücken dem Zoll, – angewandt oder angewendet, – frug oder fragte, – her oder hin, – fort oder weg, – habe oder bin gestanden, usw. Kein Tag, kaum ein ›Turnus‹ (Zehnminutenstück der Sitzung), wo nicht eine zweifelhafte Form oder Wendung den Entscheid über Richtig und Falsch forderte, und auf Grund welcher Sprachgesetze sollte ich entscheiden? Ich hatte ja von meiner Schule nicht die geringste wissenschaftliche Kenntnis meiner Muttersprache mitbekommen. Dann frug ich meine sprachlich feingebildeten Amtsgenossen; man stritt, man entschied, jeder anders, und wir stellten ehrlich fest: keiner von uns hatte auf seiner Schule über Fragen dieser Art etwas gehört, keiner hatte einen wirklichen Unterricht in der Deutschen Sprache gehabt.
Dies war eine Entdeckung, sie entschied über meine ganze fernere Geistesbildung. Eigentlich müßte jeder gebildete Deutsche diese furchtbare Entdeckung machen; manche machen sie, die meisten nicht. Im allgemeinen herrscht in Deutschland der Zustand: die Schule lehrt nicht Deutsch, weil Deutsch nur anstandshalber im Lehrplan steht; sie lehrt in den sogenannten Deutschen Stunden allerlei Gekakel um unsre Klassiker herum, aber nicht Deutsche Sprache, Deutschen Satzbau, Deutschen Stil. Sie könnte dies alles beim besten Willen nicht lehren, denn ihre Lehrer haben es auch nicht gelernt, sondern ›Germanistik‹, und die ist etwas ganz andres. Die Deutschen Unterrichtsverwaltungen, deren Träger ja auch keinen Unterricht im Deutschen genossen haben, erwarten die Deutsche Sprachbildung vom lieben Gott, allenfalls noch vom Deutschen ›Sprachgefühl‹.
Viele Gebildete sagen sich: die Schule hat mich nicht Deutsch gelehrt, also muß ich diese Versäumnis durch Selbstunterricht gutmachen, und sie arbeiten eins der guten Lehrbücher des richtigen Deutsch durch, an denen es nicht mangelt. Bücher dieser Art gibt es in keinem andern Lande als in Deutschland, denn nur in Deutschland ist der Unterricht in der Muttersprache eine Spielerei. – Sehr viele aber glauben: Ich habe das Zeugnis der Reise, auch im Deutschen, was brauche ich mehr?, und rühren nie ein Buch über richtiges und falsches Deutsch an. Zu diesen Vielen gehören viele Deutsche Schriftsteller, selbst einige Ganzgroße, die sich, ohne daß sie je Deutsch gelernt haben, für Klassiker unsrer Sprache halten.
So lernte ich Deutsch! Die Erkenntnis, daß ich es vorher nie gelernt hatte; die tägliche Einsicht in das schauderhafte Deutsch all der gebildeten Männer, die es auch nie gelernt hatten; die Aufgabe, sie anständiges Deutsch sprechen zu lassen und dieses zum Druck zu befördern, – jene heilsame Erziehung und Selbsterziehung durch mein Amt, das ganz und gar der Deutschen Sprache gewidmet war, sie sind es gewesen, denen ich verdanke, daß ich früh die Pflicht erkannt habe, in der Deutschen Sprache und in allem, was mit ihr zusammenhängt, den Mittelpunkt meiner Bildung zu sehen.
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Mein Schicksal führte mich bald in eine noch höhere Schule des Wesens und der Kunst edler Sprache. Mir blühte das Glück, mich sehr früh zu verheiraten, mit einer Spanierin, die in Paris gutes Französisch, in London gutes Englisch, in Florenz bestes Italienisch gelernt hatte, also vier Sprachen fließend, selbstverständlich alle vollkommen rein sprach. Sie mischte in ihr edles Spanisch kein französisches, in ihr Französisch kein englisches Wort und, was noch wichtiger war, in ihr Deutsch, das sie freilich nie ganz beherrscht hat, kein Wort aus den ihr geläufigen andern Sprachen.
Ich hörte, o Wonne!, einen gebildeten Menschen im täglichen, stündlichen Verkehr ganz rein sprechen, gleichviel welche Sprache. Nie ist über die Lippen meiner Frau, die schon lange in Deutscher Erde ruht, eine Pöbelei wie ›kollossaal‹ gekommen; selbst ›spazieren‹ klang ihr, mit Recht, höchst lächerlich, und sie, die doch französisches amuser und englisches amuse kannte, empfand gesunden Ekel vor ›amüsieren‹. Ihr anerzogenes sprachliches Feingefühl – keinem Deutschen Mädchen wird es anerzogen, selbst nicht in unsern Überlyzeen, den Tempeln Deutscher Gipfelbildung –, ihr Empfinden für Sauberkeit auch im Geistigen, also für den Ausdruck des Geistigen: die Sprache, umkleidete sie mit einem Harnisch gegen die Welt sprachlicher Roheit und Schmutzerei, in der sie als Frau eines Deutschen leben mußte. Ihr brauchte ich nicht zu erklären, warum das ›Bereichern‹ mit den aus allen erreichbaren, auch den nichtverstandenen fremden Sprachen gestohlenen und dann beliebig verquatschten Wörtern eines anständigen, gebildeten Menschen unwürdig sei. Vielmehr half sie meinem noch schwankenden Sprachgefühl nach, aber nicht mit wissenschaftlichen Gründen, die ja in Wahrheit sehr überflüssig sind, sondern mit einem unwiderleglichen kurzen Ausspruch: Das ist gemein, oder auf Französisch: › C'est vulgaire‹. Sie sagte das unbeirrt auch über das zusammengestohlene Zigeunerdeutsch sehr hochstehender Menschen. Sie sagte es einmal zu einer französelnden preußischen Hofdame, die eben nur französeln, kein richtiges Französisch sprechen konnte; sie sagte es zu einem Prinzen und sie hatte den Mut, es zu mehr als einem leibhaftigen Professor zu sagen. Der liebe Paul Deussen, ihr Namensbruder, ihr › tocayo‹, ließ sich alles von ihr sagen, stimmte ihr sogar zu, sprach und schrieb aber nachher ebensolch Welsch wie zuvor. Er sagte und übersetzte ihr einmal: Video meliora proboque, Deteriora sequor.
Von meiner teuren Paula Dolores, der das Deutsche eine fremde, aber sehr geliebte Sprache war, habe ich gelernt, was mich die Schule nicht gelehrt hatte, was mich das Deutsche Leben erst recht nicht lehrte: Ehrfurcht vor der Sprache überhaupt, Ehrfurcht vor jeder Sprache, Ehrfurcht vor der Deutschen Sprache und Liebe zu ihr, nicht bloß redensartliche oder schmalzige, etwa durch Absingen von ›Muttersprache, Mutterlaut‹, sondern tätige und schützende Liebe, – ja das hat mich die Edle gelehrt. Glitzerte in ihrer Gegenwart ein Deutscher Mensch mit eingestreutem Diebsgut aus fremden Sprachen, so sagte sie bedeutsam: ›Muttersprache!‹ Und wurde etwas eingewandt, so wiederholte sie: ›Muttersprache!‹ Weiter nichts, aber das wirkte. Es besagte: Reden Sie, was Sie wollen, aber daß dieses gestohlene Wort Muttersprache sei, werden Sie nicht behaupten oder beweisen.
›Es ist gemein‹ und › C'est vulgaire‹ – das hat auf mich gewirkt; die wissenschaftlichen Gründe, warum gemein, warum pöbelhaft, erforschte ich nach und nach. – Das letzte Wort meiner edlen fremdbürtigen Lehrerin des Deutschen war das Deutsche: Dank!
Und dann hat das verschwenderische Glück mir eine zweite Frau, eine Deutsche, aus dem Geschlecht zugeführt, das zwei Deutsche Dichter hervorgebracht, und auch an ihr habe ich gelernt, lerne ich noch täglich bis in mein höchstes Alter, daß ein Haus- und Bildungsleben in reiner Deutscher Sprache in Deutschland möglich ist. Meine liebe Frau Änne, deren Name manchem Leser meiner Bücher als der meiner geistigen Gehilfin bekannt ist, erglüht für alles Schöne in den Künsten und in Gottes springender, fliegender, wachsender, blühender Schöpfung; aber, schrecklich zu sagen, sie hat für nichts ›Interesse‹, nichts findet sie ›interessant‹, nichts ›interessiert‹ sie, und – es geht auch so, keiner in unserm Freundeskreise merkt dieses sprachliche Gebrechen. Daß sie solchen Greul wie ›kollossaal‹ nie über die Lippen bringt, ist ja keine Heldenleistung; aber sie hat noch nie ›Inflation‹ gesagt, nie ›katastrophal‹, nie ›ethisch‹, nie ›erotisch‹, und selbst ohne ›Kultur‹ spricht sie über Bildungsfragen; ohne ›Lyrik, Epik, Dramatik‹ über Dichtkunst, und sie spricht über alles dies, wenn's nötig ist, ganz geläufig. Das Merkwürdigste ist, daß noch nie ein Zuhörer zu ihr gesagt hat: Deckt sich das? Nämlich damit ein Deutscher kultiviert und feinnüankßiert spreche, müssen sich seine gewichtigsten Deutschen Wörter mit noch gewichtigeren Fremdwörtern decken, und das gelingt den armen Deutschen Wörtern niemals.
In dem Hause, dessen Schlüssel meine Frau führt, wird Deutsch gesprochen; doch auch die Fremdwörter haben ihren Reiz. Sie machen uns manchen Spaß, und wir möchten sie nicht missen. Wenn z. B. jetzt, im kältesten Februar seit 1690, der graue Kater, draußen unterm Nußbaum auf der verschneiten Bank sitzend, toggenburgert und langgezogene expressionistische Lyrik an unsre eingesperrte Musch rhythmisch-agogisch ertönen läßt, ist es dann nicht ebenso bildend wie vergnüglich, von der kosmischen Seite der käterlichen Erotik zu sprechen und von Muschs resignierender Sexualethik? Oder wenn wir unserm Keck ein Stück Zuckerchen nur unter der Bedingung darreichen: ›Adorant!‹ und er dann ›schön macht‹? Bezeichnete nicht ein berühmter Germanist den die Hände emporhebenden Paria bei Goethe als Adoranten? Und wenn Miez auf der Hofmauer sitzend sich umschaut, ist dann nicht die ›Teichoskopie‹ eines andern berühmten Germanisten am Platze? Und wenn Musch ein Stückchen Zwieback kleinkrümelnd zerkaut, ›atomisiert‹ sie es dann nicht, wie der letzte der ganzgroßen Germanisten das Zerkrümeln nannte? Germanisch ist das alles nicht, aber feinstes Germanistisch ist es.
Verachtet mir die Fremdwörter nicht: für gebildete Menschen können sie zu einer Quelle unschuldigen Ulkes werden, und – ›Soll man denn seine akademische Bildung ganz verleugnen?‹ (vgl. S. 263 meiner ›Deutschen Stilkunst‹).
Warum ich dies berichtet habe? Der Leser wird nicht glauben, daß es geschah, weil ich meine Erlebnisse an sich für so überaus wichtig halte. Der Wert des Berichtes liegt in dem, was nicht mich, den einen Menschen, sondern was die Zustände des Wissens von Deutscher Sprache in Deutschland betrifft. Ich bin durch besonders günstige Umstände angetrieben worden, Deutsch zu lernen und zu sprechen; wie aber steht es mit den Andern, die solche Gunst des Schicksals nicht erfahren haben? Ich meine, von Rechtswegen sollte jeder Deutsche zu irgendeiner Zeit Deutsch lernen. Ist das eine phantastische Forderung? Das Schlimmste dünkt mich, daß die allermeisten Deutschen des Glaubens sind, sie hätten einmal Deutsch gelernt, obwohl keiner sagen kann, wann und wie.