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Opfer fallen hier,
Weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört.
Im Vorfrühling und im Spätsommer vergeht keine Woche, in der ich nicht schaudernd lese: ›In X. hat sich der Primaner N. in der Klasse – oder auf dem Flur, oder im Elternhause – erschossen, weil ihm der Beschluß des Lehrer-Kollegiums – oder Kollegii – mitgeteilt wurde, daß er die Prüfung nicht bestanden habe oder nach dem Ausfall der schriftlichen Arbeiten zur mündlichen Prüfung nicht zugelassen werden könne.‹
Der Unglückselige bricht innerlich zusammen, sein Leben ist verpfuscht, 12 Jahre Schulplackerei sind also umsonst gewesen; – die Waffe hatte er für diesen Fall schon bereit, – er schießt sich die Kugel in den Kopf.
Die Schule erklärt: Ich habe keine Schuld; aber ihr ist nicht ganz wohl dabei. Der Unterrichtsminister sagt dasselbe, denn nie kommt ihm der Gedanke an eigne Schuld. Die Eltern, die vielleicht ihr einziges Kind begraben müssen, sind vernichtet und schleppen ihr Leben nur noch aus Pflicht weiter und weil sie nicht den Mut ihres Sohnes haben.
Ein Jüngling von 18 Jahren, der sich tötet, weil er Fehler im Lateinischen, im Griechischen, im Französischen gemacht und die mathematischen Aufgaben nicht gelöst hat, ist unschuldig. Würde er gerettet, er könnte dem Minister und den Lehrern sagen, warum er sich hat töten wollen. Der Minister und die Lehrer würden antworten: Du warst töricht, wahnsinnig, und der Ärmste, der weniger mit hohlen Redensarten umzugehen gelernt hat, würde schweigen. Ich aber sage an seiner Statt: Nein, du warst nicht wahnsinnig; – wahnsinnig war die Schulwelt, in der du gelebt hattest und die dich in den Tod getrieben hat. Wahnsinnig war – und ist! – die Einrichtung, daß deine Lehrer dich durch alle Klassen hindurch bis in die Oberprima haben schreiten lassen und dann noch nicht wußten, ob du geistig ›reif‹ seiest, dich für einen höheren Beruf vorzubereiten. Wahnsinnig ist die Einrichtung, daß noch eine eigne Prüfung, umgeben von allen Schrecknissen der Augenblicklichkeit, den Foltern der Plötzlichkeit, veranstaltet werden muß, um festzustellen, was alle deine Lehrer seit Jahr und Tag wissen, daß du die Reife hast, die dein Alter und 12 Schuljahre dir unzweifelhaft verliehen haben, denn sonst hätten sie dich schon vor einem Jahr nicht nach Oberprima, vor zwei Jahren nicht nach Unterprima versetzen dürfen. Ja schon vor mehr als zwei Jahren wäre es die Pflicht des Leiters der Schule gewesen, deinen Eltern zu sagen: Ihr Sohn eignet sich nicht für einen der gelehrten Berufe.
Schuldig an deinem jammervollen Tode ist die Schule; schuldig ist der Wahnsinn, daß die Folter der besondern Abgangsprüfung besteht; schuldig ist der, der diese mörderische Folter mit einem Federstrich beseitigen kann, es aber nicht tut.
Nichts von dem, was in der schriftlichen und mündlichen Prüfung verlangt wird, ist von irgendwelcher Beweiskraft für ›Reife‹ oder ›Unreife‹ zu einem der höheren Berufe. Du mein unglücklicher junger Bruder hast die mathematischen Aufgaben nicht gelöst. Nie im spätern Leben wäre von dir gefordert worden, eine der mathematischen Aufgaben zu lösen; denn bei Unbegabung in der Mathematik, dem Erbteil von neun Zehnteln aller Schüler, aller Menschen, wärest du ja ohnehin nie auf den Gedanken gekommen, Mathematiker oder Maschinenbaumeister zu werden. Alle Wissenschaften und alle Künste der Erde hättest du zu deinem Lebensberufe wählen können, ohne eine einzige der furchtbaren mathematischen Aufgaben zu lösen. Weder der Unterrichtsminister, noch der Leiter, noch die Lehrer deiner Schule, mit einziger Ausnahme deines Mathematiklehrers, hätten eine einzige der dir gestellten Aufgaben zu lösen vermocht. Von dir aber hat der Unterrichtsminister verlangt, du sollst die Aufgaben lösen, oder ein verpfuschtes Leben führen; und weil du die Aufgaben nicht lösen konntest, ein verpfuschtes Leben nicht führen wolltest, und weil du Ehre im Leibe hattest, bist du lieber aus einem Leben davongegangen, das dir die wahnsinnigen Einrichtungen deines Vaterlandes zerstört hatten.
Verzeih deinen Lehrern! Sie sind nicht ganz unschuldig, aber sie tragen nicht die Hauptschuld, die Blutschuld. Verzeih ihnen, denn sie müssen gehorchen, die meisten gegen ihr besseres Wissen. Die Mehrheit der Lehrer verwirft längst die Prüfungsfolter, aber sie ist ohnmächtig. Mächtig, allmächtig ist allein der Unterrichtsminister, und obwohl wir im Zeitalter der ›Demokratie‹ – so sagt man – leben, entscheidet nur er, wie einst in Rußland der Zar, und die Einsicht der Lehrer gilt nichts gegen seine Allmacht.
Die Abgangsprüfung kostet jährlich ein Dutzend blühender Menschenleben, – tut nichts, die Folter bleibt. Nichts wird durch die Prüfung festgestellt; keine einzige schriftliche Arbeit, gut oder schlecht, nicht einmal der Deutsche Aufsatz, beweist das Geringste über ›Reife‹ oder ›Unreife‹. Der Prüfling kann unfähig sein, die aufgeschlagene Stelle im griechischen Platon zu übersetzen; er kann die ihm vorgelegte Stelle bei Tacitus nicht genau herauskriegen; er kann keine der mathematischen Aufgaben lösen – und ist dennoch ›reif‹, die Rechts- oder die Arzneiwissenschaft zu treiben, Deutsche Sprach- und Dichtungskunde zu seinem Lebensberuf zu wählen, ja selbst ein guter Prediger zu werden. Versagt aber ein Prüfling im Deutschen Aufsatz, was als sicherster Beweis seiner ›Unreife‹ gilt, so ist erstens zu fragen: Mußte ein Schüler dieses ›Thema‹ durchaus zutreffend behandeln? Wie wenn es für sein Alter und seine Vorbildung ungeeignet war? Wie wenn es von ihm zur richtigen Behandlung die Reife eines Mannes, sogar eines Fachmannes forderte, und er ein oberflächliches Gewäsch darüber nicht fertigbrachte? Aber wenn ein Prüfling sich als unfähig erweist – unter der Nervenreizung der Prüfungsfolter –, seine Gedanken zu sammeln und fließend auszudrücken, war er von jeher, auch nicht auf der Folter, so unfähig? Und wenn ja, wie konnte er dann nach Obersekunda, Unterprima, Oberprima versetzt werden? Ist er allein schuldig? Schlagt an eure Brust und fragt euch, aber sehr ernstlich, nicht pharisäisch: Sind wir ganz unschuldig? Und wenn ihr auch nur die geringste Schuld an euch findet, fühlt ihr euch dann nicht in eurem Gewissen und eurer Ehre und eurer Bruderliebe verpflichtet, hingerissen, alles aufzubieten, damit die sinnlose Folter der Abgangsprüfung abgeschafft werde? Wen ihr Jahre lang unter euren Augen gehabt, wen ihr zwei Jahre hindurch in der Prima habt beobachten können, dem wird bescheinigt: Er hat zwei Jahre in Prima zugebracht, also ist er reif zur Wahl jedes Berufes, der seiner Neigung entspricht.
Klopstock, Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Kant haben sich durch keine besondere Prüfung ein Reifezeugnis erworben. Freilich es hat einen Reichskanzler gegeben, dem Schulpforta in seinem Reifezeugnis bescheinigt hatte, daß er in allen Prüfungsfächern musterhaft gewesen –: der Reichskanzler hieß Bethmann Hollweg. Bismarck hingegen hatte sich als Prüfling nur zur Not als ›reif‹ erwiesen. Wie wenn er im Lateinischen, Griechischen, in der Mathematik noch etwas weniger geleistet, ein paar Fehler mehr in den alten Sprachen gemacht, noch eine mathematische Aufgabe weniger gelöst hätte; und wie wenn das Lehrerkollegium erklärt hätte: dem Zögling Otto von Bismarck kann wegen seiner ungenügenden Leistungen im Lateinischen, Griechischen und in der Mathematik das Zeugnis der Reife nicht erteilt werden; – und wie wenn der junge stolze Junker sich dann erschossen hätte –? Ist das völlig undenkbar? Und will ein noch so allweises Lehrerkollegium behaupten, daß aus dem Primaner, der sich gestern in Duisburg erschossen hat, doch nie etwas Rechtes geworden wäre, weil er gar zu viele Fehler in seinen schriftlichen lateinischen, griechischen, mathematischen Arbeiten gemacht hat?
Das ›Abiturientenexamen‹ ist in vielen Fällen nichts weiter als ein ruchloses Würfelspiel um ein junges Menschenleben, von dem keiner voraussehen kann, ob es sich wertvoll oder wertlos gestalten wird. Von den Prüfungsfächern, die jetzt über Reife oder Unreife entscheiden – ich nehme den Deutschen Aufsatz nicht aus –, ist keins dazu angetan, ein Urteil über die Eignung eines 18jährigen Jünglings zu irgendeinem höheren Beruf zu verbürgen oder auszuschließen. Die etwaige Verblödung eines Knaben, die ihn zu jedem Beruf unfähig macht, wird doch wohl früher als in Oberprima entdeckt. So viel Latein, um das Corpus juris zu lesen, weist der im Latein unwissendste Primaner; so viel Griechisch, um die ärztlichen Fachwörter zu verstehen, oder unverstanden auswendig zu lernen, kennt der schlechteste Grieche in Prima; und daß der beste Richter, der größte Arzt, sogar der bedeutendste Sprachforscher und Gottesgelehrte in seinem ganzen Leben von der Mathematik nichts weiter braucht als das kleine Einmaleins und die Dezimalrechnung, das weiß jeder Leser.
Es gibt sehr viele zwingende Gründe zur sofortigen Abschaffung der Reifeprüfung, es gibt nicht einen einzigen stichhaltigen, nicht redensartlichen Grund für die Beibehaltung, – folglich? Sollen die Unvernunft und die Herzenshärte die Übermacht behaupten? Soll ich sagen: folglich – wird die Folter der Abgangsprüfung noch ein Menschenalter fortbestehen?
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Warum schweigen die Eltern? Warum zittern sie Wochenlang mit ihren Söhnen, um das Leben ihrer Söhne? Sie haben Recht, zu zittern, denn sie lesen im März und September jedes Jahres von den Selbstmorden der Opfer einer Tollheit. An dem Tage, wo die Folter durch einen Ukas des Ministers abgeschafft wird – das kann morgen geschehen –, werden alle Eltern aufatmen, denn dann wird ihnen amtlich bestätigt, was sie längst wissen: das Examen ist eine sinnlose Grausamkeit.
Nebenher allerdings läuft durch die Seelen mancher Väter, der einst selbst gefolterten, das dünne Rinnsal eines Gefühls: Das Examen abschaffen? Warum? Bin ich nicht selbst einst gefoltert worden? Sollen die Bengel es besser haben als ich? Es ist dasselbe Gefühl, aus dem musiklose Mütter ihre ebenso unbegabten Töchter zwingen, das verhaßte Klavierspiel zu lernen: Soll sie es besser haben als ich?
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